Spoiler: Samsas Traum (stark)
»Fuck!«, murmelte ich vor mich hin, warf den Kopf in den Nacken, bevor ich ihn nach vorne auf die Brust sinken ließ.
Selten in meinem Leben hatte ich mir gewünscht, Zigaretten dabei zu haben. Doch dies war einer dieser Momente. Es hätte mir etwas gegeben, um mich daran festzuhalten. Gedanken mit jedem einzelnen Atemzug im Rauch davon wehen zu sehen, hatte etwas sehr Beruhigendes. Stattdessen blieb mir nur, die Augen zu schließen und tief durchzuatmen.
»Alles okay bei dir?«
Ich hatte zwar gehört, dass sich mir Schritte genähert hatten, doch erst als ich angesprochen wurde, öffnete ich die Augen.
Die kräftige Gestalt von Claire, der Sängerin von Wreckage, blockierte die Sonne. Ihre weißen Haare blendeten mich.
Ich gab nur einen undefinierbaren Laut von mir. War es so unverständlich gewesen, als ich gesagt hatte, dass ich kurz an die Luft möchte? Es sollte doch allen klar sein, dass es hieß, dass ich allein sein wollte!
»Ja, okay, fair.« Ihre leicht kratzige Stimme nahm einen wärmeren Ton an. »Ich verstehe, dass du allein sein wolltest, aber ich dachte, es kann nicht schaden, wenn wir unter vier Augen reden.«
Wofür? Sie hatte ihr Angebot unterbreitet und wusste ganz genau, dass es zu gut war, um abzulehnen. Es war geradezu lächerlich gut! Und Latisha hatte recht: Die Chance auf einen Backlash war zu groß. Letztendlich würde ich mich entscheiden müssen, ob ich mich entschuldigte oder öffentlich machte, dass das Lied auf persönlichen Erfahrungen beruhte. Nichts davon würde je geschehen!
»Ich will dich nicht unter Druck setzen. Ich sehe, dass du ganz genau weißt, was für dich auf dem Spiel steht. Aber das hier ist meine einzige Chance, dir zu sagen, dass ich dich sehe. Ich wäre an deiner Stelle genauso angepisst. Aber genau deshalb möchte ich, dass ihr mit auf Tour kommt! Für dich und Blutlaster gibt es keine Chance, das Lied zu veröffentlichen und da heil wieder rauszukommen. Nicht ohne Schritte zu gehen, die du nicht gehen möchtest. Hast du aber mal gemerkt, wie sehr die Leute darauf stehen, wenn für Zugaben die Vorband mit auf die Bühne kommt? Niemand wird sich darüber Gedanken machen, wenn wir gemeinsam live performen.«
Überrascht hob ich den Kopf, um ihr ins Gesicht sehen zu können. War sie schon immer so groß gewesen oder wirkte es nur mit der Sonne im Rücken so?
»Du bekommst deine Chance, in die Welt hinauszuschreien, was raus muss. So oft wie es nötig ist.«
»Warum tust du das?«, fragte ich völlig überfordert. Ohne ihr Böswilligkeit unterstellt zu haben, hatte es sich bisher angefühlt, als würde sie mir etwas Wichtiges wegnehmen. Und nun sollte es sich positiv wandeln?
Sie lachte rau und ohne Amüsement auf. »Weil ich mir dasselbe wünschen würde. Wenn ich die Fähigkeit gehabt hätte, meine Erfahrungen so in Worte zu fassen wie du, dann hätte ich das schon lange getan. Zu wissen, dass die erste Reaktion der Welt darauf nicht sein wird, dir zu glauben, sondern dir Habgier zu unterstellen, ist beschissen! Ich weiß nicht, ob ich die Kraft gehabt hätte, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, wäre es nicht von anderer Seite dorthin gezogen worden. Ich kann dir also absolut nicht verübeln, dass du nicht dazu bereit bist. Aber ich sehe, dass ich dir helfen kann. Und um komplett ehrlich zu sein: Es wird sich auch für mich gut anfühlen, das so zu verarbeiten.«
»Woher weißt du das?«, stellte ich die Frage, die mir schon seit ihren ersten Worten durch den Kopf ging. »Woher weißt du, dass es tatsächliche Erfahrungen sind.«
Die ältere Frau legte mir eine Hand auf die Schulter. »Es war mir klar, sobald ich das Lied das erste Mal gehört habe. Die Emotionen sind zu roh, zu spezifisch, um aus einer Fantasie zu entspringen.«
Nervös biss ich mir auf die Lippe. War ich doch zu direkt geworden? War es vielleicht doch eine gute Idee, wenn ich nicht mit dem Lied in Verbindung gebracht wurde?
»Die wenigsten werden das direkt sehen, falls das deine Sorge ist. Wärst du eine Frau, wäre es etwas anderes, aber so ... Nicht einmal für deine Managerin ist das der erste Gedanke.«
»Danke! Ehrlich: Danke. Ich bin gerade etwas überwältigt.«
»Ich würde mich wirklich freuen, wenn wir das gemeinsam verwirklicht bekommen.«
»Lass mir ein paar Tage Zeit, mir das durch den Kopf gehen zu lassen. Ich muss mich wohl noch etwas an den Gedanken gewöhnen. Außerdem muss ich eh mit dem Rest der Band absprechen, ob es bei ihnen passen würde, für euch als Vorband zu spielen.« In dem Moment kam mir ein Gedanke und ich schüttelte leicht lachend den Kopf. »Scheiß Ironie!«
»Was meinst du?«
»Dass ich jetzt als Vorband für euch spielen soll«, erklärte ich zumindest einen Teil des Gedankens. »Nachdem ihr die Vorband für mein erstes richtiges Konzert wart.«
Im Gegenlicht vermutete ich, dass sie die Augenbrauen hochzog. Zumindest veränderte sich ihr Gesichtsausdruck stark. »Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals mit Blutlaster gespielt hätten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber mit den Death Demons.«
»Stimmt. Stimmt!« Ihre Stimme wurde mit jedem Ausruf lauter. »Du hast ja vorher für die Death Demons gesungen! Ich hatte das komplett vergessen.«
Bestätigend nickte ich. Ich konnte ihr das gar nicht übelnehmen. Auch ich konnte mich wirklich nicht mehr an jede Band erinnern, mit der ich jemals zusammengearbeitet hatte. Für sie musste das noch viel schwieriger sein, schließlich war sie schon länger im Geschäft – und mittlerweile deutlich erfolgreicher.
»Jetzt wo du es erwähnst, erinner ich mich auch wieder! Gott, du bist so viel erwachsener geworden!«
Das entlockte mir ein Lachen. »Ja, ich hoffe doch. Ich war erst 17.«
»Echt? Woah, okay, jung hatte ich mitbekommen, aber nicht so jung. Krass! Und trotzdem wirktest du trotz der Nervosität so professionell. Ich freue mich wirklich darauf, nochmal mit dir zusammen zu arbeiten. Lass uns das angehen, egal ob du dem Angebot zustimmst!« Plötzlich schlug sie sich mit der Handfläche gegen die Stirn. Ihre euphorische Stimmung nahm ab und machte Reue Platz. »Scheiße, je länger ich über den Abend nachdenke, desto peinlicher wird mir das. Mir fällt gerade ein, wie sehr ich mich damals blamiert hab. Alter, ich war eifersüchtig auf einen 17-Jährigen!« Sie lachte herzhaft. »Kaum zu glauben.«
Da ich nicht wirklich wusste, wie ich auf diese Erkenntnis reagieren sollte, zuckte ich nur mit den Schultern.
»Nein, wirklich«, sah sie sich genötigt zu erklären. »Es war ja nie ein Geheimnis, dass Maniac auch auf Männer steht und irgendwie hatte sich in meinem Kopf die Idee gebildet, dass er deshalb mit dir allein sein wollte. Ich meine, eure Chemie auf der Bühne war einfach großartig und dann das Rumgealber auf der Party danach ... Es machte für mich einfach Sinn.«
Unangenehm berührt verschränkte ich erst die Arme vor der Brust, entschied mich dann aber um und steckte die Hände in die Hosentaschen, während ich gleichzeitig ihrem Blick auswich.
Das war ein Fehler! Mir fiel es sofort auf, als sie für einen Moment stockte.
Erschrocken keuchte sie auf. »Moment! Das war keine Einbildung!«
Zuerst wandt ich mich unter ihrem Blick, doch dann entschied ich, dass wenn ich den eingeschlagenen Weg gehen wollte, ihn nicht weiter schützen durfte. Auch wenn ich es nicht direkt konnte, so würde ich ihn doch auffliegen lassen!
Unbestimmt zuckte ich mit den Schultern. »Ich darf mich zu derartigen Gerüchten nicht äußern.«
»Welchen Gerüchten?« Noch schien sie mir nicht ganz folgen zu können.
»Zu Gerüchten über eine eventuelle Beziehung zwischen Maniac und mir.« Ich sah ihr direkt in die Augen. Ich vertraute darauf, dass sie die Botschaft verstand. Sie schien gut darin zu sein, Ungesagtes zu entziffern.
Langsam senkte sich ihr Kiefer und sie starrte mich für einen Moment an, bevor sie leise hervorbrachte: »Du warst 17!«
Nicht ganz das, worauf ich hinauswollte, aber ja, das war wohl auch ein Faktor von vielen.
Eine Weile schwiegen wir. Sie scheinbar überfordert mit dem, was sie erfahren hatte, und ich unsicher, was ich noch sagen sollte.
Doch letztendlich entschied ich mich, sie ins Vertrauen zu ziehen. Sie hatte deutlich gemacht, dass sie mir helfen, mich unterstützen wollte. Es schien fair, dass sie erfuhr, worum es wirklich ging.
Ich räusperte mich und erklärte dann so laut es mir mein Mut erlaubte: »Es ist nicht nur, dass Wreckage damals als Vorband gespielt hat, was dein Angebot so unglaublich abgefahren macht. Ich weiß nicht, ob es etwas war, was ich an diesem Abend getan habe, oder etwas was du oder sonst irgendwer getan hat, aber irgendwas hat Maniac an dem Abend total angetickt.«
»Echt? Auf mich wirkte er jetzt nicht anders, als die sonstigen Male, die ich mit ihm zutun hatte.«
»Auf mich auch nicht. Bis wir allein waren.«
»Scheiße ...«, murmelte sie. Dann nach einer längeren Pause, in der scheinbar weitere Zahnräder einrasteten: »Scheiße! ›Demon‹! Maniac ist ...«
Auch wenn sie ihren Satz nicht beendete, nickte ich doch bestätigend. Der Titel war nicht die einzige direkte Referenz. Sogar sein Name kam vor. Wer jedoch nicht wusste, worum es ging, würde ›Maniac‹ in dem Kontext für eine Beleidigung halten.
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Das ist so unglaublich abgefuckt! Scheiße, ich sollte es besser wissen, aber fuck! Darauf wäre ich bei ihm nie gekommen!«
Ich ließ sie weiter fluchen. Auch wenn wir danach nicht mehr viel mit Wreckage zu tun gehabt hatten, war es doch an diesem Abend klar geworden, dass Claire und Peter sich vorher durchaus etwas besser gekannt hatten. Die Information zu verarbeiten war sicher nicht ganz einfach.
»Die Band wusste nichts davon, oder?«, fragte sie nach einer Weile.
Ich schüttelte den Kopf. »Nur Zombie. Später. Er hat mich sofort da rausgeholt. Der Rest weiß bis heute nichts. Glaube ich zumindest.«
Erneut schwieg sie für eine Weile, ließ alles auf sich wirken.
Dann gab sie ein gehässiges Lachen von sich, was mich für einen Moment verunsicherte. Aber nur, bis sie sagte: »Ich habe da eine Idee: Natürlich sind noch keine Tourdaten und -orte festgelegt, aber wir sollten Boston fest auf die Liste schreiben. Und ein paar Leute dazu einladen. Ich bin sicher, ich hab noch irgendwo Angels Nummer. Zumindest sollte es leicht sein, sie herauszufinden.«
Ich war nicht ganz sicher, ob ich ihren Vorschlag gutheißen konnte und wirklich dafür bereit war, aber mir gefiel, wie sie dachte!
»Wir könnten sogar noch weiter gehen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit erwähnen, dass der Song von dir geschrieben ist. Je mehr Leute es erreicht, die den Zusammenhang herstellen könnten, umso besser.«
»Meinst du, das geht wirklich? Also erwähnen, dass ich ihn geschrieben hab? Ich hätte gedacht, das wäre genau dasselbe Problem, wie wenn wir ihn performen.«
»Ich dachte daran, es vielleicht als Auftragsarbeit hinzustellen. Aber ja, das sollten wir uns nochmal genauer überlegen.«
»Ich würde mir das ehrlich gesagt allgemein gern noch einmal genauer überlegen ...«
Sie stutzte kurz, dann legte sie mir die Hand auf die Schulter. »Ja, klar! Tut mir leid, ich hab mich etwas in Rage geredet. Alles das natürlich nur, wenn das für dich okay ist und nur so viel wie du stemmen kannst. Ich dachte nur ... Für mich wirkte es, als wäre dein Ziel eine Art Abrechnung. Und je größer die ausfällt, desto mehr bekommen es mit und desto eher erreicht es auch ihn.«
»Abrechnung ... Klingt gut.« Hatte ich bisher ein Ziel damit erreichen wollen? Außer es persönlich verarbeiten zu wollen.
Vielleicht, sonst hätte ich das nie über ein Lied getan, dass auf ein Album sollte. Und dann würde ich mich nicht so dagegen wehren, es an andere zu übergeben. Aber ich hätte bisher kein Wort oder Konzept davon gehabt, was ich wirklich erreichen wollte.
»Lass dir Zeit, dir das Angebot zu überlegen. Vor nächstem Jahr steht bei uns eh noch kein neues Album an.« Sie kramte in den tiefen Taschen ihrer Hose und holte einen Stift heraus. Sie klopfte noch einmal alle ab, bevor sie nach meiner Hand griff und Zahlen darauf schrieb. »Sorry, ich hab grad kein Papier. Falls du noch etwas inoffiziell besprechen willst: Ruf mich an. Egal wann.«
»Danke.« Mit einer Geste forderte ich den Stift von ihr und schrieb dann meinerseits auf ihre Handfläche. Zwar hätte ich auch einfach eine Seite aus meinem Notizheft reißen können, aber ich wollte es gleichermaßen erwidern. »Du kannst natürlich auch so anrufen, wenn du einfach quatschen willst.«
Freundschaftlich klopfte sie mir auf den Oberarm. »Werd ich tun. Aber lass uns reingehen, bevor sich Latisha und dein Kollege noch Sorgen um uns machen.«