Spoiler: Samsas Traum (mittel)
Erschöpft stöhnend ließ ich mich auf das Sofa fallen.
Jemand wischte mit den Fingerspitzen die feuchten Haare aus meinem Gesicht. Sobald ich etwas sehen konnte, tauchte Mickey in meinem Sichtfeld auf. »Claire hat nach dir und Isaac gesucht.«
Keine fünf Minuten Ruhe ... »Weißt du wenigstens, wo sie jetzt ist?«
Er deutete wortlos auf die Tür, die in den Gang zwischen den Backstage-Bereichen führte, und warf sich dann ein Handtuch über die Schulter. Ohne mich weiter zu beachten, ging er zum Bad.
Ich erlaubte mir, noch ein paar Sekunden liegenzubleiben, dann raffte ich mich auf. Mit wenigen Handgriffen waren die Haare in einem Knoten an meinem Hinterkopf gebändigt. Noch eben in Rock und Stiefel geschlüpft, dann war ich auch schon auf dem Weg zur Kabine von Wreckage.
Die Tür stand offen, dennoch rannte ich gegen eine Wand stickiger Luft. Patchoulie und Schweiß würden für mich nie eine akzeptable Kombination werden ...
Im Raum befanden sich mehr Menschen als zur Band und dem Roadteam gehörten. Erst nach einem Moment entdeckte ich Claire, die sich mit zwei anderen unterhielt.
Auch sie bemerkte mich und winkte lächelnd.
»Hey, du hast mich gesucht?«
»Lance, oder? Lange nicht gesehen«, begrüßte mich die wasserstoffblonde Frau, mit der Claire sich unterhalten hatte.
Nur sehr langsam schwante mir, wer sie, und damit auch der Schwarze Mann neben ihr, waren. Sie waren nicht gerade schmeichelhaft gealtert. Und ihre Namen wollten mir auch nicht einfallen, auch wenn sowohl Claire als auch Isaac sie in den letzten Wochen und besonders Tagen immer wieder erwähnt hatten.
»Hi.« Mehr hatte ich den beiden nicht zu sagen.
Der Typ streckte mir die Hand hin, doch ich ignorierte sie.
Claire machte es mir leichter, indem sie erklärte: »Ja, ich dachte, wenn jemand weiß, wo Isaac ist, dann du.«
Ich ließ den Blick von ihr zu dem Paar und zurück wandern, dann hob ich eine Augenbraue. Das war doch hoffentlich nicht ihr Ernst, dass sie Isaac für die beiden suchte. »Er und Trevor haben vor mir die Dusche blockiert und sind dann zusammen raus. Ich vermute also, dass sie entweder bei einem von beiden zu Hause sind oder auf der Party wieder auftauchen.«
Nope, sie würden nicht wieder auftauchen. Isaac hatte mir gegenüber schon vor Tagen angekündigt, dass er die Aftershow-Party diesmal ausfallen lassen würde. Er hatte genauso wenig Lust, auf das Paar vor mir zu treffen, wie ich.
Claire schien wenig überrascht. Vermutlich hatte sich der Gitarrist ihrer Band bei ihr abgemeldet. Ihr »Tja, schade.« klang auch nicht gerade überzeugend.
»War ja klar. Verlogene, feige Ratte.«
»Ey! Pass auf, was du sagst!« Ich baute mich vor dem Typen auf. »Das ist mein bester Freund, über den du da gerade redest.«
Scheiß drauf, dass ich Isaac und Claire versprochen hatte, freundlich zu den beiden zu sein. Für mich waren sie genauso schuldig wie Peter. Sie hätten etwas mitbekommen müssen! Sie hätten eingreifen müssen! Und erst recht durften sie meinem besten Freund nicht beleidigen!
Der Typ schien wenig beeindruckt von mir. »Verträgst du die Wahrheit genauso wenig wie er?«
»Statt Isaac zu beschuldigen, solltet ihr vielleicht mal euren ach so tollen Freund nach der Wahrheit fragen. Ich bin sicher, er kann euch großartige Lügen auftischen. Was hat er euch erzählt, warum Isaac die Band verlassen hat, hm? Das hat mich schon immer interessiert.«
»Anthony.« Seine Frau legte sanft die Hand auf seine, als er gerade etwas erwidern wollte. »Beruhig dich bitte. Ich ... Lance beschützt seinen besten Freund, so wie du das gerade auch versuchst. Nur ...« Sie schluckte sichtbar. »Ich glaube, an den Beschuldigungen könnte etwas Wahres sein.«
»Willst du etwa behaupten, es sei nicht wahr, dass Samsa ein Flittchen ist, das jede Nacht neue Bettgefährten sucht?«
Claire und ich warfen uns einen vielsagenden Blick zu. Das war weder die Beschuldigung, die er zum Anfang gemacht hatte, noch konnten wir sie nach den letzten Wochen bestätigen. Auch wenn ich etwas komplett anderes erwartet hatte.
Auch seine Frau ignorierte die komplett unzusammenhängende Aussage. »Ich wollte mit Samsa reden, um ihn zu fragen, ob es wirklich Anschuldigungen sind oder wir nur etwas reinlesen, was nicht da ist. Nach den Reaktionen hat sich das aber wohl geklärt ... Und du glaubst auch, dass etwas dran sein könnte, Anthony. Sonst wärst du nicht gleich auf Verteidigung gegangen.«
Der Mann wandte wortlos den Blick ab.
»Du und er wollten, dass wir seine Version hören, oder?«, fragte die Blonde an Claire gewandt. »Deshalb hast du uns eingeladen.«
Claire antwortete nur mit diesem Blick, der ihr so eigen war und ausdrückte, dass sie nicht fassen konnte, wie jemand diese Frage überhaupt stellen konnte.
In der Hoffnung auf eine richtige Antwort sah die Blonde zu mir, doch auch ich schwieg. Eine verbale Antwort traute ich mir nicht zu. Es hätte sich zu sehr nach einer Bestätigung angefühlt. Isaac hatte nie explizit erlaubt, dass wir das Paar aufklären durften, was passiert war.
Nun wandte sich der Typ doch wieder an uns. »Warum ist er dann nicht hier, um Klartext zu reden?«
Wieder sagte Claire nichts, sondern wechselte nur das Ziel ihres Blickes.
Ich dagegen konnte mich nicht zurückhalten. »Wirklich? Du beleidigst Isaac, sobald du den Mund aufmachst! Verteidigst diesen Dreckskerl! Er ist euch nichts schuldig. Keine Erklärung. Keine Entschuldigung.«
»Und was erwartet er jetzt von uns? Sollen wir uns jetzt etwa bei ihm entschuldigen?«
Ja! Ja, verdammt, sie hatten jeden Grund, sich bei Isaac zu entschuldigen. Sie hatten ihn im Stich gelassen, hätten besser auf ihn aufpassen müssen. Sie waren eine Band, waren jahrelang gemeinsam auf Tour gewesen. Sie hätten etwas bemerken müssen.
Vor einigen Jahr, verdammt, vor noch ein paar Wochen hätte ich ihnen das noch geglaubt, doch nun war ich selbst auf Tour und merkte, wie eng wir alle miteinander waren. Die beiden Bands und das Team. Über sie alle hatte ich in der kurzen Zeit mehr erfahren, als es mir jemals möglich erschienen war; mehr als ich teilweise über sie hatte wissen wollen. Selbst über Isaac hatte ich viel Neues gelernt, verstand so vieles über ihn nun besser, dabei hätte ich geschworen, dass wir uns gegenseitig schon vorher besser kannten als uns selbst.
Doch ich schwieg und ließ Claires »So weit ich weiß: nichts.« unwidersprochen. Isaac hatte mehrmals deutlich gemacht, dass er ihnen keine Schuld gab. Es war nicht an mir, etwas von ihnen zu verlangen, was er nicht wollte.
»Was soll das ganze Theater hier dann? Was wollt ihr damit erreichen?«
Ich überließ Claire das Reden. Sie hatte sich mit Isaac eingehender über seine Motive unterhalten.
»Samsas Ziel hat nicht direkt etwas mit euch zu tun. Es war mein Vorschlag, euch einzuladen.« Bei dieser Andeutung beließ sie es.
Die Frau ihr gegenüber schüttelte verständnislos den Kopf, verlangte aber auch keine weiteren Antworten. Ihren Mann hielt sie ebenfalls mit einer kurzen Geste davon ab. Sie hatte wohl eingesehen, dass sie nicht mehr erfahren würden.
Zufrieden nickte Claire mir zu und wechselte dann das Thema: »Kommt ihr mit zur Aftershow Party? Wir könnten euch im Wagen mitnehmen.«
»Wir fahren selbst.« Die Blonde zog einen Schlüssel aus ihrer winzigen Handtasche und zeigte ihn hoch.
»Treffen wir uns dort? Ich muss mich noch fertig machen.«
Das Paar bejahte Claires Vorschlag und verzog sich dann aus dem Raum.
Ich wagte, aufzuatmen. »War’s das?«
»Für’s Erste.«
»Und jetzt?«
»Fangen sie hoffentlich an, Fragen zu stellen und ziehen Schlüsse. Genau wie diejenigen, die mitgehört haben. Alles andere liegt nicht mehr in unserer Hand.« Sie sah sich kurz um, dann grinste sie süffisant. »Oder meintest du, was wir beiden Hübschen jetzt tun? Also ich werde Duschen gehen. Ich fürchte, dich um Begleitung zu bitten ist aussichtslos?« Sie strich mit den Fingern über die Strähne, die sich aus dem Haargummi gelöst hatte und neben meiner Wange hing.
Für einen Moment haderte ich. »Gerade nicht, sorry.«
»Schade. Dann ein anderes Mal.« Schelmisch lächelnd beugte sie sich vor und deutete einen Kuss auf meine Wange an, ohne mich wirklich zu berühren.
Ich sah ihr nach, bis sie ins Bad verschwunden war. Fast, aber wirklich nur fast, hätte sie mich dazu überreden können, mir für sie doch noch einmal die Mühe zu machen, mich aus- und wieder anzuziehen.