Mit großen Augen sitzt Anastasia auf dem flauschigen Teppich und starrt auf den Fernseher. In weißen Lettern flackert der Schriftzug Morosko über den Bildschirm. Ihr absoluter Lieblingsfilm – Väterchen Frost. Iwan und Nastjenka erleben Abenteuer im Zauberwald.
Schon als kleines Kind konnte sie sich an dem Märchen nicht sattsehen. Vielleicht, weil die Heldin und der Held der Geschichte genauso heißen, wie sie und ihr Bruder.
Iwan pustet müde in seine Tasse.
„Kannst du den Film nicht bald auswendig mitsynchronisieren?“, fragt er träge und sieht - definitiv einen Tick weniger begeistert als seine Schwester - herüber zu der weißen Schrift auf blauem Grund, die an Eiskristalle erinnern soll. Anastasia ignoriert ihren nörgelnden Bruder geflissentlich und blickt weiter wie gebannt auf die Bildfläche. Sie wartet sehnsüchtig darauf, dass endlich Nastjenka erscheint.
Väterchen Frost tritt – entgegen des Titels Morosko (Väterchen Frosts Name auf Russisch) erst ab der Mitte des Films auf, weswegen sie sich noch ein wenig gedulden muss (mehr dazu im nächsten Kapitel „Väterchen Frost und Schneeflöckchen“). Aber das macht nichts.
Endlich ist der Vorspann vorbei und das Merkmal, das alle russischen Märchenfilme der Zeit eint, zaubert Anastasia ein breites Lächeln auf die Lippen:
Das Großmütterchen, das die Märchen erzählt.
Die Babuschka.
Jeder russische Märchenfilm aus der goldenen Zeit der Märchenfilme (Mitte 1960er bis frühe 1970er) beginnt mit einer russischen Großmutter, welche mit traditionellem Kopfputz bekleidet, die Fensterläden ihres Häuschens öffnet und die Rahmenhandlung des Märchens erzählt. So bekam man als Kind tatsächlich den Eindruck, die Geschichte erzählt zu bekommen, denn die Großmutter berichtet aus dem Off auch gerne über Dinge, die z.B. zeitgleich zu der Handlung, die man auf dem Bildschirm sieht, an einem anderen Ort passieren. Und am Ende des Märchens klappt sie ihre Fensterläden wieder zu. Doch nicht, bevor sie erzählt hat, wie es zum Beispiel auf der Hochzeit des Paares war, die man im Film aber nicht sehen konnte. Man bekam als Kind so den Eindruck, dass die Personen des Märchens wirklich existieren.
Wie sonst sollte denn die Babuschka auf die Hochzeit von Nastjenka und Iwan gekommen sein?
Anastasia fängt laut an zu lachen. Baba Yaga tritt das erste Mal in Erscheinung und der gute Iwan – der im Märchen, nicht der träge blinzelnde Iwan auf der Couch - trickst sie nach allen Regeln der Kunst aus.
Nun, wer sind denn nun Iwan, Nastjenka und Baba Yaga?
Iwan und Nastjenka sind zwei Charaktere, die in abgewandelter Form in sehr vielen russischen Märchen vorkommen. Iwan ist ein junger Schönling. Er hat das Herz am rechten Fleck, aber er ist sehr stolz – und auch sehr eitel – weswegen er sich oftmals Probleme einhandelt. Nastjenka erinnert den westlichen Leser stark an die Figur von Aschenputtel. Sie hat eine böse Stiefmutter und eine ebenso böse Stiefschwester, für die sie allerhand anstrengende Arbeiten erledigen muss, dabei aber immer freundlich und herzensgut bleibt. Hier kommt auch wieder die verächtliche Variante des Kosenamens zum Tragen: Alle Menschen, die Nastjenka mögen, nennen sie auch Nastjenka. Ihre Stiefmutter und Stiefschwester nennen sie „Naska“. Und das ist definitiv nicht liebevoll gemeint.
Und dann ist da natürlich noch die Märchen- bzw. Sagengestalt, die auch über Russlands Grenzen hinweg Berühmtheit erlangt hat:
Baba Yaga
Erst einmal: der Name ist Programm. Baba ist das - im Gegensatz zu Babuschka durchaus abschätzig gemeinte - russische Wort für eine alte Frau. Es beinhaltet nicht nur alt, sondern auch so viel wie hässlich, verlebt und generell unansehnlich. Jaga/Yaga leitet sich vom Namen Jadwiga ab, was so viel wie „die Gehörnte“ bedeutet.
Man kann sich also denken, mit wem die gute Frau im Bunde ist…
Ein weiterer Name Baba Yagas ist Kostjanaja Noga – frei übersetzt bedeutet dies so viel wie "die Knöcherne" oder wörtlich "das Knochenbein". Sie wohnt mit ihrer schwarzen Katze in einem Blockhaus, das auf Hühnerbeinen steht und sich in jede erdenkliche Richtung drehen, z.T. sogar laufen kann. Sie wird als sehr hässlich, mit fürchterlich schiefen (manchmal eisernen) Zähnen und wilden, zerzausten Haaren beschrieben. In einigen Märchenvarianten kann sie sich allerdings auch in eine junge, wunderschöne Frau verwandeln, um somit Männer zu verführen - was für diese niemals gut endet. Meistens in ihrer Ofenröhre... Denn Baba Yaga isst mit Vorliebe Menschen und dekoriert ihren Gartenzaun mit deren Schädeln. Wie es sich für eine waschechte Hexe gebührt, kann sie natürlich auch fliegen. Allerdings fliegt sie nicht auf einem Besen, sondern auf einem Mörser, oder auf einem eisernen Ofen (Besen sind was für Anfänger). Sie gilt als Mutter von Koschtschei dem Todeslosen.
Koschtschei der Todeslose
Beziehungsweise freier übersetzt: der Unsterbliche.
Koschtschei ist der – auch schon ziemlich betagte – Sohn von Baba Yaga. Er ist ein ausgezehrter, steinalter Mann, der beinah schon wie ein Skelett aussieht. Er hat wallende, lange Haare und bedroht und entführt mit Vorliebe junge, hübsche Frauen.
Warum todeslos?
Koschtschei bewahrt seine Seele außerhalb seines ausgemergelten Körpers auf, weswegen man ihn nicht einfach mit einem Schwert o.ä. töten kann. Um ihn zu töten, muss man seine Seele vernichten und die ist mehr als gut versteckt. Ihm werden je nach Märchenversion unterschiedliche Zauberkräfte nachgesagt, zum Beispiel, dass er, genau wie seine Mutter, fliegen kann.
Wila
Wer bei dem Namen an die Veela aus "Harry Potter" denkt, liegt gar nicht so falsch.
Wila sind russische Wald- und Wassergeister, die den griechischen Nymphen nicht unähnlich sind. Wila sind wunderschöne, junge Frauen, mit ätherischen, transzendenten Körper, die nachts im Wald, oder an Gewässern im Reigen tanzen. Sie können sich auch in Tiere, z.B. Schwäne, verwandeln. Sie sind den Menschen gegenüber meistens wohlgesonnen, können aber sehr pikiert auf Beleidigungen, oder respektloses Verhalten ihnen gegenüber regieren, sodass sie diese Menschen oftmals aus Rache als Irrlichter in ihr Verderben locken.
Die unschöne Seite der Geschichte: der Sage nach sind Wila Bräute, die noch vor ihrer Hochzeit gestorben sind und daher im Grab keine Ruhe finden.
Rusalka
Wo die Wila den Menschen gegenüber meistens wohlgesonnen gegenüberstehen, sieht es bei der Rusalka ganz anders aus. Rusalka sind Wassergeister – je nach Erzählung auch Meerjungfrauen. Überirdisch schöne Frauen, die leider, ebenso wie die Wila, einen viel zu führen Tod fanden. Der Unterschied zur Wila ist, dass ihr Tod nicht nur früh, sondern auch „unrein" war.
So ertranken sie, verstarben ungetauft, oder waren Selbstmörderinnen. Rusalka machen sich einen Spaß daraus, Menschen in den Tod zu locken. Der Aberglaube besagt, dass sie Menschen bewusst im Moor in die Irre führen, Männer mit ihrer Schönheit verführen und anschließend in den See zerren, um sie dort zu ertränken. Dabei spielt eine sexuelle Komponente stets eine große Rolle.
Aber Gott sei dank tauchen diese Sagengestalten, bis auf Baba Yaga, nicht in den Märchen auf, die Anastasia und Iwan grade sehen. Da ist Baba Yaga zwar durchaus eine Gefahr für Iwan und Nastjenka, aber so herrlich inkompetent und tollpatschig, dass man genau weiß, dass am Ende alles gut werden wird.
Wie auch bei den deutschen Märchen gibt es auf jedenfall ein "... und wenn sie nicht gestorben sind..."
Generell unterscheiden sich russische Märchen gar nicht so sehr von den deutschen. Es gibt oftmals eine böse Stiefmutter, die böse Hexe Baba Yaga ist in vielerlei Hinsicht ähnlich zu der bösen Hexe bei Hänsel und Gretel (vor allem, was das Menschenfressen anbelangt) und am Ende siegt wie gesagt immer das Gute. Es wird auch gerne verwünscht und verwandelt – so wird aus dem stolzen und eitlen Iwan kurzerhand ein Bär, weil er das alte Väterchen (das sich als mächtiger Zauberer entpuppt) nicht ehrt und generell eine wichtige Tugend vermissen lässt: Respekt vor den Älteren („Iwan der Bär“, „Der alte Steinpilz“). Einige Märchen sind ihren deutschen Äquivalenten sehr nahe, allerdings mit kleinen Abwandlungen.
So ist der Froschkönig in der russischen Variante… eine Froschprinzessin. Die Geschichte ist eins zu eins dieselbe, nur dass es ein Königssohn ist, der den Frosch zu sich nach Hause nimmt, welcher sich am Ende als wunderschöne Prinzessin entpuppt („Die Froschprinzessin"). Zu verdanken haben wir die russische Märchensammlung übrigens Alexander Nikolajewitsch Afanassjew – das russische Pendant zu den Gebrüdern Grimm, welcher all die mündlichen Erzählungen und Sagen im ausgehenden 19. Jahrhundert niederschrieb.
Iwan stöhnt. Väterchen Frost tritt mit seinem von unsichtbaren Pferden gezogenen Schlitten auf.
„Da sieht man ja noch die Nylonfäden“, meckert er, was ihm einen bitterbösen Seitenblick seiner Schwester einbringt.
Die russischen Märchenverfilmungen sind natürlich über die Zeit ein wenig in die Jahre gekommen. So wirken manche Special Effects veraltet und so manchem Märchenfilm merkt man die Zeit seiner Entstehung - vor allem in Bezug auf den Patriotismus in der UdSSR - doch deutlich an. Allerdings ist letzteres eher die Ausnahme, da Märchenfilme auch in der UdSSR weitestgehend frei von politischer Einflussname und Zensur waren. Darum waren Märchenfilme – ebenso wie die tschechischen Märchenfilme der 1970er und 1980er Jahre – oftmals starbesetzt und zudem von Topregisseuren gedreht. Märchenfilme galten als sogenanntes „Zufluchtsgenre“, da man sich an heiklere Themen oftmals nicht wagen wollte.
Wenn ihr wissen wollt, welche Filme Anastasia und Iwan an diesem Sonntagnachmittag so schauen:
"Väterchen Frost" bzw. im Deutschen übersetzt als "Abenteuer im Zauberwald"
"Feuer, Wasser und Posaunen"
"Der Hirsch mit dem goldenen Geweih"
"Die schöne Warwara"
Wer sich für die Sagengestalten der Baba Yaga und der Rusalka in einem moderneren Horrorkontext interessiert, dem seien diese Filme ans Herz gelegt:
Baba Yaga (kostenlos auf Amazon Prime erhältlich)
The Bride (russisch: Nevesta) (auf Amazon Prime für ein kleines Entgelt erhältlich)
The Mermaid – Lake of the Dead (russisch: Rusalka) ans Herz gelegt.
Ein Horrorfilm, welcher lose auf dem Aberglaube des im vorherigen Kapitels angesprochenen bösen Spiegels beruht, ist:
Queen of Spades (russisch: Pikovaya Dama) (auf Amazon Prime für ein kleines Entgelt erhältlich).