Russland ist bekannt für seine Gastlichkeit. Das mag vielleicht an den oftmals widrigen Witterungsbedingungen liegen. Bei Eis und Schnee jagt man keinen Hund vor die Tür - und erst recht keinen hungrigen Gast.
Aber was muss man bedenken, wenn man bei einer russischen Familie eingeladen ist, oder ihr eure Charaktere eine solche besuchen lassen möchtet?
Die ersten Gäste von Iwan und Anastasia trudeln langsam ein. Eingeladen war für 17 Uhr, mittlerweile ist es gut viertel nach. Es gilt als ausgesprochen unhöflich - entgegen der deutschen Pünktlichkeit - bei Einladungen auf die Minute pünktlich zu erscheinen. Noch schlimmer ist nur überpünktlich zu sein.
Denn: die Dame, oder der Herr des Hauses sind ja vielleicht noch nicht mit allen Vorbereitungen fertig und müssten sich während all der Arbeit auch noch um ihre Gäste kümmern, die natürlich bewirtet werden wollen. Das möchte man vermeiden, darum sind gut zehn Minuten über der verabredeten Zeit ein guter Mittelwert.
Wobei: wenn nicht grade ein großes Fest geplant ist, wie Iwans Geburtstagsfeier, ist es auf der anderen Seite vollkommen legitim, einfach mal unangekündigt an der Tür zu klingeln, wenn man eh grad zufällig an der Wohnung des Freundes vorbeikommt. Oftmals ist die Freude darüber keinen Deut geringer, als sei es monatelang angekündigt worden. Und es gibt natürlich mindestens ein Gläschen Tee.
"Iwanuschka!"
"Vitjenka!" ruft Iwan auch schon und umarmt seinen besten Freund Viktor, noch ehe dieser die Möglichkeit hatte, die Schuhe auszuziehen. Doch das wird umgehend nachgeholt.
Erste Regel, wenn man eine Wohnung betritt: Schuhe ausziehen.
Man will den - im schlimmsten Fall - Schlamm, Matsch und Dreck von draußen ja nicht in die Wohnung tragen und den Gastgebern unnötig Arbeit machen. Dafür gibt es auch für die Gäste - wenn gewünscht - Hauspuschen oder Socken. Die passen zu jedem noch so eleganten Outfit immer perfekt. Nämlich gar nicht.
Ebenso wichtig ist ebenfalls: nicht über die Türschwelle hinweg begrüßen. Auch wenn die Freude sich zu sehen, noch so groß ist, sollte man mit Umarmungen warten, bis der Gast die Wohnung betreten hat.
Ein alter Aberglaube besagt, dass der Gast Unglück mit ins Haus bringt, wenn man sich über die Türschwelle hinweg begrüßt. Also immer schön warten, bis die Gäste auch im Haus sind.
Anastasia grinst breit und umarmt Viktors Freundin Aljona und gibt ihr zwei Küsschen auf die Wangen.
"Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag."
Fröhlich hält Viktor Iwan sein Geschenk entgegen. Doch auch Anastasia wird beschenkt. Denn Gastgeschenke gehören zur Tradition und zum guten Ton. Eine Kleinigkeit, mit der man sich für die Einladung bedankt. Deswegen drückt Aljona Anastasia einen Strauß Blumen in die Hand. 15 Stück an der Zahl. Die Anzahl ist wichtig. Es muss immer eine ungrade Zahl sein. Denn grade Zahlen in Blumensträußen schenkt man nur bei Beerdigungen, oder benutzt sie als Grabgebinde.
"Kommt rein, kommt rein."
Iwan geleitet seine Freunde ins Wohnzimmer und Anastasia serviert alsbald den Tee. Essen gibt es natürlich auch. Zum Kaffee gibt es Süßes, aber da es Richtung Abend geht, werden auch gleich die warmen Speisen fürs Abendessen aufgetischt. Alles bleibt zusammen auf dem Tisch stehen und jeder kann sich frei daran bedienen. Der Hintergedanke?
Gleich zwei.
Zum einen will man nicht als knauserig gelten. Man will ja schon ein wenig zeigen, was einem die Freunde wert sind und welche Leckereien man extra für sie eingekauft und/oder gekocht hat.
Zum anderen?
Was, wenn Aljona eigentlich noch eine Watruschka (kleiner Käserkuchen, dazu mehr im nächsten Kapitel "Typisch russische Küche") wollte, aber sich nun nicht mehr traut zu fragen, da alle anderen mit den Süßspeisen fertig sind und die Gastgeberin bereits alles abgeräumt hat? Die Blöße will man sich nicht geben.
Es klingelt wieder an der Tür.
Diesmal sind es Dimitri und Maria. Auch sie haben natürlich ein Geschenk für Iwan und ein Gastgeschenk dabei. Diesmal Pralinen.
Freudig setzen sich alle an den Tisch und Iwan darf damit beginnen, seine Geschenke auszupacken.
"Du hast ihn dir ja gewünscht", lacht Viktor als Iwan den Kaktus aus der Verpackung zieht. Iwan grinst. Einer mehr für seine stetig wachsende Sammlung.
Warum Viktor das "sich wünschen" so betont erfahrt ihr im Kapitel "Aberglaube".
Es klingelt erneut an der Tür.
"Dann sind wir ja jetzt vollständig", ruft Anastasia auf dem Weg zur Tür.