„Uff… das war eine Feier“, stöhnt Iwan am nächsten Morgen und schleppt sich träge in die kleine Küche. Anastasia nickt müde und stellt den Wasserkocher an.
„Aber eine sehr schöne“, lächelt sie und holt den Instantkaffee aus dem Schrank. „Und du hast wieder einen Neuzugang für deine Sammlung.“
Iwan grinst breit und holt den kleinen Kaktus hervor, den Viktor ihm geschenkt hat.
„Der wird sich prima auf der Fensterbank machen.“
Anastasia nickt und besieht sich amüsiert den kleinen, stacheligen Fensterbankzuwachs.
Nicht grade das klassische Geburtstagsgeschenk, aber manchmal ist ihr Bruder eben seltsam. Er hat es sich schließlich so gewünscht.
Ja, wieso hat Viktor so sehr auf das „Wünschen“ verwiesen, als er Iwan sein Geschenk – den süßen, kleinen, ungemein pieksigen Kaktus – überreichte?
Das hat einen durchaus gewichtigen Grund.
Das russische Volk ist nämlich abergläubisch.
Und wie!
Vielleicht, weil die Winter so lang, hart und dunkel sind, dass man viel Zeit und viele Möglichkeiten hat, sich die finstersten Geschichten auszudenken. Schließlich ist es auch das Land, das Schreckgestalten wie Baba Yaga und Rusalka ersonnen hat (mehr dazu im nächsten Kapitel „Russische Märchen und Sagen“).
Nun, zurück zum kleinen Kaktus.
Warum ist das ein sehr unübliches Geschenk?
Weil der kleine Kaktus potentiell gefährlich werden kann. Im schlimmsten aller Fälle, könnte er sogar für einen Krieg verantwortlich sein.
Wie, das glaubt ihr nicht?
Scharfe oder stachelige Geschenke wie Kakteen, Scheren, Messer, Nagelfeilen – generell alles, was irgendwie spitz ist - symbolisieren als Geschenk Feindschaft. Im schlimmsten Falle sind sie sogar Vorboten kriegerischer Auseinandersetzungen. Wenn man also jemanden überhaupt nicht leiden kann…
Ähnlich mies steht es um den Geschenkwert von Uhren und allem, was spiegelt:
Bei Uhren sagt man, dass die Freundschaft nur so lange hält, wie die Uhr auch funktioniert. Bei Spiegeln wird dem Schenker unterstellt, dass er durch die spiegelnde Oberflächte das Glück und den Erfolg des Beschenkten rauben würde.
Aaaaber: es gibt gleich zwei Schlupflöcher, um aus der Sache doch noch glimpflich herauszukommen. All das oben genannte ist hinfällig, wenn sich der zu Beschenkende diese offensichtlich unheilbringenden Geschenke ausdrücklich gewünscht hat.
Vielleicht ein wenig im Sinne von „Er will es ja so haben“, ist es in diesem Fall vollkommen in Ordnung, solche Dinge zu verschenken. Iwan – mit seiner stetig wachsenden Kakteensammlung – freut sich auf jedenfall wahnsinnig über seinen Neuzugang und Viktor ist aus dem Schneider.
Für alle, die unbedarft etwas verschenken, das den anderen in die Bredouille bringen könnte, gibt es noch die Option des nominellen Kaufes.
Spitze Dinge, Uhren oder Spiegel zu kaufen, bringt kein Unglück. Daher legt man als Beschenkter oftmals einen kleinen Geldbetrag auf den Tisch, sollte jemand ein solches Geschenk aus Unwissenheit mitgebracht haben. Dann wird aus dem Geschenk ein symbolischer Kauf und alles Unheil ist abgewendet. Am besten klopft man danach noch drei Mal auf Holz oder spuckt (zur Not auch angedeutet mit ts ts ts) über die Schulter des anderen und das gute Karma ist wiederhergestellt.
Generell sollte man in Russland aufpassen, was man sagt oder tut. So soll man jemanden nicht zu sehr für etwas loben. Es könnte sich dadurch ins Gegenteil verkehren. Lächeln ohne Grund? - Das tun nur Idioten. Und Pfeifen ist ebenfalls verpönt. Denn Pfeifen macht arm – wenn man pfeift, fliegt das Geld mit der Melodie davon. Summen ist aber okay. 😉
Und dann wären da noch… schwarze Katzen.
Schwarze Katzen gelten - leider Gottes - in Russland als absolut böses Omen. Egal, ob sie von rechts, oder links kreuzen. Selbst Baba Yaga hat eine schwarze Katze und wenn das nichts heißen will…
Welchen Stellenwert Katzen als Unglücksbringer haben, erkennt man vor allem an dem Begriff des sogenannten Katzentors.
Nun, was ist ein Katzentor?
Ein Katzentor ist jegliche dreieckige Konstruktion, unter der man hindurchgehen kann bzw. könnte. Es ist in etwa vergleichbar mit dem deutschen Aberglauben, nicht unter einer aufgestellten Leiter durchzugehen.
Aber nicht nur Leitern, auch z.B. architektonische Gebilde, in Form eines Dreiecks, gelten als Katzentor. Der Aberglaube sagt, dass das Katzentor ein Portal in eine andere Welt ist. Darum umrundet man dieses Portal besser – man möchte doch gar nicht so genau wissen, wo man dort im schlimmsten Fall herauskommen könnte.
Vielleicht sollte man sich – wenn man denn den Mut haben sollte, durch ein solches Katzentor treten zu wollen – vorher noch einmal hinsetzen und eine kleine Weile in sich gehen. Das soll ja bekanntlich helfen.
Denn: bevor man eine Reise antritt, sollte man noch einmal ein paar Minuten ruhig sitzen. Deswegen finden sich tatsächlich vor vielen Häusern in Russland Bänke. Beim Posidim na doroshku (wörtlich übersetzt: Setzen wir uns auf die Bank) hält man vor einer langen Reise noch einmal kurz inne, damit die Reise gut wird.
Das hat bestimmt schon den ein oder anderen an das noch laufende Bügeleisen, die offenen Fenster, oder die vergessene Geldbörse erinnert.
Der Kaffee ist fertig und Anastasia hält ihrem Bruder die Tasse hin.
„Ich will heute nichts anderes machen, als auf der Couch liegen und Fernsehen“, stöhnt Iwan und schleppt sich ins Wohnzimmer. Anastasia schlägt die Augen auf und rennt umgehend ins Schlafzimmer, um ihre extensive DVD Sammlung russischer Märchenfilme zu holen.