„Schön, dass ihr alle gekommen seid!“, ruft Iwan, steht auf und erhebt sein Glas. Seine Freunde am Tisch erheben ebenfalls die Gläser und sehen ihn erwartungsvoll an. Iwan grinst.
„Lasst uns zusammenzucken!“
Mit einem Ruck setzt Iwan das Glas an und legt den Kopf in den Nacken, ehe er das geleerte Glas lautstark auf die Tischplatte zurückstellt.
Wie viele Russen trinkt Iwan seinen Wodka do dna. Das bedeutet so viel wie „bis zum Boden“, man trinkt das Glas also in einem Zug leer. Generell stellt man sein Glas erst auf den Tisch zurück, wenn es geleert ist, auch wenn man seinen Wodka nicht in einem großen Schluck trinkt.
Iwans Gäste tun es ihm gleich und Anastasia gibt eine weitere Runde Wodka aus, denn Dima sieht so aus, als wolle er gleich einen weiteren feierlichen Trinkspruch hinterherschieben.
Der folgt, kaum sind die Gläschen ein weiteres Mal mit der klaren Flüssigkeit gefüllt, auch auf dem Fuße. Dima steht auf und erneut werden die kleinen Gläser erhoben.
Kleine Gläser? - Definitiv. Denn dass alle Russen Wodka aus Wassergläsern trinken, ist ein Klischee. Klar, es kann vorkommen, ist aber nicht die Regel. Traditionell trinkt man Wodka aus Stopka. Diese sind vergleichbar mit den deutschen Pinnchen, ein klein wenig größer.
Wodka hat tatsächlich einen besonderen Platz in der russischen Volksseele. Man trinkt ihn zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen und es werden ihm sogar heilende Kräfte nachgesagt (wie bei so vielen Dingen im Leben: wenn er in Maßen getrunken wird).
Wie auch außerhalb Russlands viele wissen:
Wodka bedeutet soviel wie „Wässerchen“ – abgeleitet vom russischen Wort Woda für Wasser. Doch man sollte auf keinen Fall annehmen, dass Russen Wodka im wahrsten Sinne des Wortes wie Wasser trinken. Für den verantwortungsbewussten Wodkagenuss gibt es nämlich zwei ungeschriebene Regeln:
1. Man trinkt Wodka nicht allein, sondern immer in Gesellschaft.
2. Man trinkt Wodka zu einem Anlass und nicht grundlos.
Wer diese beiden Regeln missachtet, gilt gemeinhin als Alkoholiker.
Was allerdings alles als „Anlass“ angesehen werden kann, darüber scheiden sich die Geister. Mit ein wenig Fantasie kann schlichtweg alles ein geeigneter Anlass sein.
Doch Iwans Geburtstag ist definitiv und unumstößlich ein sehr geeigneter Anlass.
Anastasia füllt erneut nach. Denn: eine einmal geöffnete Flasche wird am gleichen Abend auf jeden Fall noch geleert.
Wieder werden die Gläser erhoben. Ein weiterer Trinkspruch.
Trinksprüche sind ein überaus wichtiger Bestandteil der russischen Trinkkultur.
Ein Sprichwort sagt gemeinhin:
„Trinken ohne Trinkspruch – das ist doch Sauferei.“
Und das will man sich ja nicht nachsagen lassen.
Daher gibt es Trinksprüche für jeden – wirklich jeden! – Anlass. Sei es Hochzeit, Taufe, Geburt eines Kindes, bestandene Prüfung, oder Kauf eines neuen Flachbildfernsehers. Zu allen Gelegenheiten kann man mit einem passenden Trinkspruch anstoßen. Die zwei geläufigsten und auch universell immer passenden Trinksprüche sind:
Los geht’s! – Panißlas!
Lasst uns zusammenzucken! – Fsdrognim!
Während des Trinkspruchs erhebt man sein Glas und man hält es solange hoch, bis der Trinkspruch beendet ist. Dabei ist es egal, wie lange der Trinkspruch dauert. Selbst, wenn eine halbe Rede geschwungen wird – was bei einigen sehr individuellen Trinksprüchen auf z.B. Hochzeiten tatsächlich vorkommen kann – bleibt das Glas solange erhoben, bis der Sprecher geendet hat. Egal, wie schwer der Arm wird. Alles andere gilt als äußerst unhöflich.
Beim Genuss von Wodka gibt es auch immer etwas zu Essen. In unserem Fall ist die Tafel ja bereits reichlich mit allerhand Leckereien gedeckt. Wenn keine größere Feierlichkeit ansteht, bietet man zumindest ein paar salzige Knabbereien an. Maria greift nach dem geendeten Trinkspruch nach einer Piroschka und beißt mit einem „Die sind dir echt gut gelungen, Nastja“ auf den Lippen herzhaft hinein.
„Na sdorowje“, entgegnet Anastasia lachend, als sie dies sieht.
Entgegen der landläufigen Meinung:
“Na sdorowje!” ist kein Trinkspruch.
Es ist eher vergleichbar mit dem deutschen „Guten Appetit“ oder „Lass es dir schmecken.“ Wörtlich übersetzt bedeutet es soviel wie „Wohl bekomms.“
Es ist also vielmehr die Antwort, wenn sich jemand verbal oder nonverbal für das angebotene Essen bedankt, oder diesem jemand das Essen sichtlich schmeckt. Aufgrund der unweigerlich auch in Russland bekannt gewordenen internationalen Verwendung dieses Satzes als Trinkspruch, ist dieser mittlerweile auch in Russland vorzufinden, aber an und für sich gilt er nicht als Trinkspruch.
Wenn ausländische Gäste diesen Satz als Trinkspruch verwenden, wird damit aber trotzdem angestoßen. Man würde seine Gäste dahingehend niemals verbessern. Und wichtig ist eigentlich eh nur, dass der Wodka gut ist.