Anastasia hat es sich im Schneidersitz auf ihrem flauschigen Teppich gemütlich gemacht und den Kopf auf ihre Hände aufgestützt. Dann und wann pustet sie sich von unten gegen ihren Pony, während sie missmutig auf den stattlichen Berg an noch zu verpackenden Geschenken starrt.
Herrje… wo soll sie da nur anfangen?
Langsam lässt sie ihren Blick über die sich stapelnden Kartons in allen möglichen und unmöglichen Größen wandern, findet jedoch nicht das, wonach sie sucht. Ärgerlich zieht sie die Augenbrauen zusammen und steht auf.
„Iwan, hast du das Geschenkband?!“, ruft sie ins Wohnzimmer und wartet auf eine Reaktion ihres Bruders. Anstatt einer Antwort hört sie jedoch nur lautes Scheppern und ein spitzes Klirren.
Bereits das Schlimmste vermutend, läuft zu ihrem Bruder herüber, bleibt jedoch wie angewurzelt im Türrahmen stehen, als sie die Bescherung sieht. Iwan steht mit hängenden Armen in einem komplett über den Boden verteilten Meer aus weißen Porzellanscherben, die wohl einmal eine Vase oder Skulptur gewesen sein mochten.
„Die sollte für Tante Dascha sein“, seufzt Iwan resigniert und geht in die Hocke, um die Scherben aufzusammeln. Anastasia verdreht die Augen.
„Du bist aber auch ungeschickt“, murmelt sie und lässt ihren Blick über das Geschenkpapierchaos auf dem Esstisch gleiten und schnappt sich eilig das so sehr vermisste Geschenkband.
„Du kannst von Glück sagen, dass wir nicht heute Weihnachten feiern.“
Iwan wirft ihr einen bitterbösen Seitenblick zu, ehe seine Aufmerksamkeit zu dem kleinen Kalender neben der Tür wandert.
24.12.
Er verzieht das Gesicht, muss dann jedoch milde schmunzeln.
„Das kannst du laut sagen… ich muss morgen nochmal los und Ersatz beschaffen. Wenn ich Tante Dascha nichts schenke, bringt Mama mich um. Und die Vase war fürcherlich teuer... dafür, dass sie so scheußlich war.“
Anastasia lächelt und nickt zustimmend, ehe sie mit dem Geschenkband bewaffnet zurück in ihr Zimmer geht.
Vorsichtig beginnt sie die vielen Kleinigkeiten zu verpacken.
Auf den Jubel und Trubel am Neujahrstag freut sie sich jetzt schon. Und wirklich: Gott sei Dank feiern sie Weihnachten nicht am 24.12., das hätte Iwan das Genick gebrochen. Die Vase hätte man selbst mit sehr, sehr viel Sekundenkleber nicht mehr retten können.
Sie grinst, während sie so über die kommenden Tage nachdenkt.
Wenn man wollen würde, könnte man in Russland gleich drei Mal Weihnachten feiern.
Zum einen am 24./25.12., wie es in westlichen Ländern der Fall ist, an Neujahr und am Dreikönigstag, dem 06.01.
Das wäre Anastasia aber definitiv zu viel des Guten.
Nun, wie kommt dies zustande?
Wie so vieles in Russland, geht es auf die Sowjetunion zurück.
Aber fangen wir von vorne an:
Russland wechselte nach der Oktoberrevolution 1918 vom julianischen zum gregorianischen Kalender. Dies führte dazu, dass sich alle Feiertage um 13 Tage nach hinten verschoben, denn: aufgrund der Umstellung fehlten den Russen von einen Tag auf den anderen beinah zwei Wochen. Das Weihnachtsfest vom 24.12. wanderte somit auf den 06.01.
Die russisch-orthodoxe Kirche hält sich übrigens bis heute an den julianischen Kalender (oder noch genauer: an den neo-julianischen Kalender. Aber für die nächsten 800 Jahre sind julianischer und neo-julianischer Kalender vollkommen identisch. Erst im Jahr 2800 wird sich dies ändern).
So weit, so gut.
Wie kommt nun Neujahr ins Spiel?
Wie schon im Kapitel „Väterchen Frost und Schneeflöckchen“ beschrieben, waren die Bolschewiki der Kirche gegenüber nicht grade wohlgesonnen. Offiziell war die russisch-orthodoxe Kirche sogar verboten, allerdings wurde die Ausübung des Glaubens stillschweigend geduldet. Nichtsdestotrotz wurden Feiertage abgeschafft und gewisse religiöse Feiern verboten.
Aber ein Fest wie Weihnachten… das ist durchaus schwierig komplett abzuschaffen, auch wenn man es noch so sehr versucht.
Aber das russische Volk ist ja findig. Anstelle von Weihnachten wurde eben der Beginn eines neuen Jahres gebührend gefeiert. Mit großen Familienzusammenkünften, Speis und Trank und Geschenken für die Kinder. Diese bringt am Morgen des Neujahrstags eine weitere Erfindung der Sowjets: Väterchen Frost.
Und ebenso wie dieser, hat sich auch die Tradition, Neujahr anstelle von Weihnachten ausgelassen zu feiern, bis heute gehalten. Am 24./25.12. ist in Russland ziemlich tote Hose. Neujahr hingegen ist ein wirklich großes Fest – und zudem gibt es zum Einstand auch noch Feuerwerk.
Was den 06.01. – in westlichen Ländern als Dreikönigstag oder Heilige drei Könige bekannt – betrifft: dieser Tag hat in Russland den Namen „Fest der Erscheinung des Herrn“ (ja ja, man will ja keinen Ärger mit den Apparatschik bekommen und die Geburt des Herrn feiern. „Erscheinung“ klingt da irgendwie… harmloser). Nur wirklich religiöse Russen feiern diesen Tag und den Tag darauf, da in der Nacht vom 06.01. auf den 07.01. die vierzigtägige Fastenzeit endet. Dieser Abend nennt sich in Russland Sochelnik oder Koljadki. Aber selbst religiöse Russen, welche diesen Tag feiern, beschenken sich an diesem Tag nicht. Das wurde ja schon an Neujahr erledigt.
Anzumerken sei an dieser Stelle: es gibt auch ein orthodoxes Neujahr. Dieses findet am 14.01. statt. Aber es hat sich eingebürgert, das gregorianische Neujahr am 01.01. zu feiern. Der 14.01. wird zwar von religiösen Russen gefeiert, aber dies geschieht fast ausschließlich in der Kirche.
Anastasia atmet erleichtert auf, als sie die letzte Schleife festzieht und zufrieden ihr Werk betrachtet.
Wunderbar. Neujahr kann kommen.
Anastasia freut sich schon auf die Neujahrstage. Diese gehen vom 30.12. bis zum 08.01. – alle Russen haben an diesen Tagen frei.