Anastasia streckt sich genüsslich und schaltet den Fernseher aus. Nach dem mittlerweile dritten Märchenfilm in Folge, ist auch sie zufrieden.
Iwan steht müde in den Türrahmen gelehnt da.
„Ist deine Märchenobsession erst einmal wieder besänftigt?“, witzelt er und hält fragend seine Tasche hoch. Er hatte sich schon ab der Mitte des dritten Films in sein Zimmer verabschiedet. Anja nickt mit einem breiten Grinsen und sieht zu der großen Sporttasche herüber.
„Kommst du mit? Ich brauch das jetzt, nach dem Abend gestern und der Filmbeschallung.“ Er wackelt ein wenig mit seiner Tasche hin- und her, Anastasia überlegt kurz und steht auf.
„Gib mir fünf Minuten, dann bin ich fertig“, ruft sie und flitzt in ihr Schlafzimmer, um ihre Sachen für den Besuch der Banya zu packen.
Banya.
Das russische Dampfbad.
Das finnische Äquivalent nennt sich bekanntlich Sauna.
Wer das wohlige Schwitzen als erstes erfunden hat… darüber wird seit Jahrhunderten herzhaft und scherzhaft gestritten. Und natürlich wähnt sich jede Nation da vollkommen im Recht. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen: ist es doch in beiden Ländern im Winter bitterlich kalt und es gibt auch geschichtlich diverse Überschneidungen. So ist die historische Region Karelien heute zwischen Russland und Finnland aufgeteilt und das heutige Finnland war über einhundert Jahre ein Großfürstentum des russischen Zarenreiches, ehe es ein unabhängiger Staat wurde. Also ja... die Grenzen und kulturellen Einflüsse sind da durchaus fließend.
Anastasia hat in Rekordzeit ihre sieben Sachen für die Banya gepackt und zieht sich bereits ihren schweren Mantel, Schal, Mütze, Handschuhe und Stiefel über. Es ist Dezember in St. Petersburg, es ist also lausig kalt und obwohl es erst halb vier ist, schon beinah stockfinster. Gemeinsam mit Iwan verlässt sie die Wohnung und tritt in die eisige Kälte und den leise fallenden Schnee hinaus. Doch sie haben Glück, sie müssen nicht weit gehen.
Banyas sind in Russland sehr beliebt und finden sich daher an vielen Orten. Wer sich darunter eine kleine Blockhütte in der Tundra vorstellt, liegt einerseits völlig richtig und andererseits völlig falsch.
Denn Banya kann zwar eine kleine Blockhütte sein (ganz im Stil einer finnischen Sauna) aber in der Stadt sieht es doch ein wenig anders aus: da ist die Banya ein ausgewachsenes Badehaus. Ähnlich wie eine Thermenlandschaft in Deutschland. Und wie in St. Petersburg nicht anders zu erwarten, befindet sich die angesteuerte Banya in einem feudalen Gebäudekomplex.
Iwan und Anastasia betreten das Gebäude zusammen, alsdann müssen sie sich jedoch trennen. In Russland wird strikt nach Geschlechtern getrennt geschwitzt. Entweder gibt es unterschiedliche Besuchszeiten für Männer und Frauen oder aber, wie in unserem Fall, unterschiedliche Bereiche innerhalb des Gebäudes. Darum verabschieden sich Anastasia und Iwan im Vorraum, ehe sie in die jeweiligen Trakte des Badehauses abbiegen. Diese sind vom Aufbau her aber vollkommen gleich.
Nun, wie genau sieht eine solche Banya von innen aus?
Eine Banya besteht immer aus drei Räumen (wenn man die Umkleiden, die in modernen Badehäusern vorhanden sind, nicht mitzählt). In die traditionellen Holzhaus-Banyas geht man bereits nur mit einem Handtuch oder Bademantel bekleidet. Oder eben gleich nackt - wenn sie im eigenen Garten steht.
Anastasia hat sich ihrer Kleidung entledigt, sich ein Handtuch umgeworfen und verlässt die Umkleide. Sie kommt als erstes in den Erholungsraum. Dort stehen in modernen Banyas gerne Liegen und Sessel zum Loungen und Entspannen. Traditionell findet man in den Entspannungsräumen aber auch gerne einfach nur einen Tisch und ein paar Stühle. Denn Essen… wie könnte es anders sein in Russland, gehört auch zu einem Besuch der Banya dazu.
Zwischen den Saunagängen wird gerne eine Kleinigkeit gespeist, ein obligatorisches Gläschen Tee aus dem Samowar getrunken oder ein weiteres, typisch russisches Getränk: Kwas.
Auch Brottrunk genannt, besteht Kwas aus fermentiertem Brot. Was zunächst eklig klingen mag, in der Tat sehr lecker und erinnert stark – sowohl optisch, als auch vom Geschmack her – an das in Deutschland sehr beliebte Malzbier. Anastasia hängt ihr Handtuch auf und geht herüber in den Waschraum. Dort reinigt man sich vor dem Besuch des Schwitzraums und auch zwischen den einzelnen Saunagängen. Wasser steht traditionell in Holzkübeln bereit. Aber mittlerweile haben auch Duschen Einzug in moderne Banyas erhalten. Nichtsdestotrotz ist Anastasia todesmutig und schüttet sich einen Eimer Wasser über den Kopf.
Brrr… ist das kalt. Sie hätte das Wasser im Kübel vielleicht doch mit etwas warmen Wasser aus dem Kessel strecken sollen. Der Saunaofen beheizt oftmals nämlich nicht nur den Schwitzraum, sondern heizt auch das Wasser im Waschraum in einem großen Kessel auf, aus dem man sich dann je nach Belieben warmes Wasser abzapfen kann. Ansonsten ist das Wasser in den Kübeln nämlich ziemlich frisch. Klassische Banyas werden mit einem Holzofen beheizt, aber es finden sich - wie auch in modernen finnischen Saunen - mittlerweile viele Elektroöfen in den Banyas.
Allerdings nicht in der von Anastasia und Iwan. Hektisch wischt sich Anastasia die nassen Haare aus dem Gesicht und geht herüber zum Schwitzraum. Eine wohlige Wärme schlägt ihr entgegen als sie die Tür öffnet und eilig hinter sich verschließt. Wärmetechnisch ist die Banya irgendwo zwischen 90 und 100 Grad zu verorten, ganz Hartgesottene schaffen in ihren Privatbanyas aber auch deutlich höhere Temperaturen. Auch sind Aufgüsse sehr beliebt. Je nach Jahreszeit entweder mit Wasser – mit zugesetzten ätherischen Ölen - oder aber mit Eis bzw. Schnee, der langsam auf den Steinen des Ofens schmilzt.
Und dann gibt es noch einen ganz speziellen Aufguss: den Wenik-Aufguss.
„Ach Nastja, du auch hier?“
Anastasia blick auf. Freudig winkt Maria von der oberen Etage der Bänke zu ihr herunter und bedeutet ihr mit dem Kinn, sich neben sie zu setzen.
„Hallo Mascha, so schnell sieht man sich wieder“, grüßt Anastasia und klettert eilig die Bänke zu ihrer Freundin hoch.
Maria grinst und lehnt sich entspannt nach hinten gegen die Holzbank. Sie trägt einen typisch russischen Saunahut aus Filz auf dem Kopf. Was im ersten Moment seltsam klingen mag - wer friert denn schon in einer Sauna? - hat durchaus seinen Sinn. Der Kopf ist eines der empfindlichsten Körperteile für Wärme und Kälte - da fehlt einfach die isolierende Fettschicht. Der Hut schützt den Kopf und die Ohren vor Überhitzung bei hohen Temperaturen.
„Auch ein bisschen Entspannung nach dem Wochenende?“
Anastasia nickt mit geschlossenen Augen.
„Ich sag's dir…“
„Dima ist drüben. Ist Wanka auch hier?“
„Aber natürlich, es war seine Idee. Er hat meine Märchenfilme nicht mehr ertragen“, grinst Anastasia.
Die Banya hat eine wichtige Rolle bei der Pflege sozialer Beziehungen. In der Banya kann man über alles reden. Und auch über alles verhandeln. Es ist also nicht unüblich, dass sich Geschäftsleute zu einem gemeinsamen Besuch in der Banya treffen. Und wenn man seine lokale Banya besucht, kann man fast immer sicher sein, jemanden zu treffen, den man kennt. Oder man verabredet sich direkt zu einem gemeinsamen Besuch in selbiger.
Anastasia greift zu einer der Birkenruten im Wasserkübel zu ihren Füßen.
„Würdest du?“, fragt sie Maria, als diese die Augen öffnet und sie ihr den tropfenden Zweig entgegenhält.
„Klar", lächelt Maria und nimmt Anastasia den Zwei aus der Hand.
Sanft beginnt Maria Anastasias Rücken mit dem Birkenzweig abzuschlagen. Das sogenannte Quästen.
Dazu werden belaubte Birkenzweige (Wenik) in Wasser eingelegt. Im Sommer sind es frische Zweige, im Winter – so wie jetzt – leider nur getrocknete Birkenzweige, die aber so lange in Wasser eingelegt wurden, bis sie wieder flexibel sind. Quästen ist gut für die Durchblutung und fördert das Wohlbefinden. Und noch ein weiterer Vorteil entsteht dadurch:
Augenblicklich verbreitet sich der angenehme Geruch nach Birke im Raum. Anastasia schöpft zudem einen Löffel des Wassers aus dem Wenikeimer und verteilt ihn über den Steinen des Saunaofens.
Der Wenik-Aufguss.
Jetzt ist sie wirklich entspannt.