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Nach dem Prompt „Gelbstirn-Schwatzvogel / Tierische Traumzeit“ der Gruppe „Crikey!“
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Der Schüler war nervös. Zum ersten Mal betrat er die Traumzeit ohne eine spezifische Frage, ohne etwas zu suchen. Es war der nächste Schritt seiner Ausbildung, wie sein Mentor ihm erklärt hatte. Er wäre bereit.
Wie eine zweite Haut streifte der Schüler seinen Namen und seine Vergangenheit ab. Er kam als Beobachter her, nicht als Bittsteller. Was er sah, durfte nicht von seinem eigenen Wesen beeinflusst werden. Er musste leer sein, um alles sehen zu können.
Vor seinem Blick erhob sich der große Tafelberg. Der Himmel darüber war nicht mehr blau, sondern erfüllt von bunten Wirbeln. Sterne strahlten inmitten von Galaxien aus Blau, Rot, Gelb und Grün, mit violetten Linien und Strichen, die den Atem des Windes nachzuzeichnen schienen.
Ein vertrauter Anblick. Der junge Schüler sah sich weiter um, ließ diesen Ort auf sich wirken, lauschte auf die Stimmen.
Er hörte Gesang und hob den Blick. Über seinem Kopf erhoben sich Vögel aus den Steilklippen des Berges. Er erkannte ihre grau-gelbe Zeichnung und den weißen Bauch. Vögel, wie sie überall lebten. Hier schien sich eine Kolonie zu befinden, die sich aus ihren Nistplätzen erhob und einen riesigen Schwarm bildete, der den Himmel verdunkelte.
Einen Moment tanzten die Vögel über ihm, in mesmerisierenden Mustern, die Bilder und Eindrücke zu formen schienen, um bereits im nächsten Moment wieder zu wandern.
Dann teilte sich der Schwarm in kleinere Gruppen von vielleicht 15, 20 Tieren, die in alle Richtungen davonschwärmten. Der Blick des Schülers folgte ihnen durch Farben und Zeit, bis sich die kleinen Schwärme niederließen, eine Heimat erwählten und wieder aufbrachen, in noch kleineren Gruppen, die gemeinsam auf die Jagd gingen.
Dann sah er einige dieser kleinen Gruppe aufeinandertreffen, worauf die Vögel schimpfend aufflogen, mit Krallen und Schnäbeln nacheinander hackten, einander lautstark umschwärmten und schließlich eine Gruppe in die Flucht schlugen.
Etwas holte sein Bewusstsein ein, als wäre er an einem Seil befestigt. Der Schüler kehrte zum Berg zurück, wo die Nistplätze nun verwaist waren. Nur wenige Vögel kreisten in der Heimat der ehemaligen Kolonie.
Dann blinzelte er und kehrte zurück in die rituelle Kammer, die von duftenden Schwaden durchweht wurde.
"Was hast du gesehen?" Sein Mentor saß ihm gegenüber und hatte sofort bemerkt, dass er wieder wach war.
Langsam, die Zunge schwer, berichtete er von den Vögeln. Die Worte kamen stockend und mühsam, aber schließlich hob der Meister seine Hand.
"Ich kenne die Vision, du brauchst nicht weiterzusprechen."
"Was bedeutet sie, Meister?"
Der alte Schamane lächelte. "Was du gesehen hast, war die Geschichte der Völker. Sie sagt dir, dass wir alle ein Volk sind, ein Schwarm, auch wenn wir uns getrennt und in der Welt verteilt haben. Aller Streit ist nur ein Kampf unter Gleichen, denn im Herzen stammen wir von der gleichen Kolonie."