Sprache: Deutsch
Titel: Wie schreibe ich divers? Wie spreche ich gendergerecht? - Ein Praxis-Handbuch zu Gender und Sprache
Genre: populärwissenschaftliches Sachbuch/Ratgeber/Nachschlagewerk
Autor*innen: Lann Hornscheidt und Ja'n Sammla
Meine Altersempfehlung:: ab 12/14
Erschienen 2021, Einzelband
Cover: Größtenteils blau, ein aufgebrochenes Gitter im unteren linken Eck, unten rechts gelb und rot. Fast ein Suchbild. Jedes Mal habe ich etwas neues entdeckt, obwohl das Cover insgesamt recht schlicht ist. Die Haptik gefällt mir am meisten, es ist etwas matter und rauer als andere Bucheinbände.
CNs: Gender, Diskrimminierung aufgrund Gender
Zwischendurchlektüre mit Impulsen zum Nachdenken, Ausprobieren und Herausfordern eigener Denkstrukturen. Ich brauchte zwei Anläufe, um das Buch zu beginnen. Beim ersten bin ich nur die Beispiele durchgegangen und störte mich an der Inkonsequenz und Endgültigkeit. Beim zweiten Mal habe ich das einleitende Kapitel gelesen - und siehe da - nichts ist endgültig, die bemängelte Inkonsequenz ist in Wahrheit eine Sammlung verschiedener Alternativen. Kein Ansatz ist perfekt, es ist okay, daran zu scheitern und eigene Differenzen zu haben. Kommunikation und Respekt stehen über starren Mustern. Machtgefälle benennen statt Rollen zuschreiben. (Besonders das erinnerte mich an eine Studie, ich hoffe, es war eine, bei der Redezeiten von binär weiblichen und männlichen Charakteren gemessen wurden.)
Immer wieder hervorgehoben wurde, dass es sich um Vorschläge und Gedankenansätze handelt, dass auch diese nicht das Nonplusultra sind und dass Sprache sich wandelt und von tradierten Mustern wegbricht & diese kaum noch haltbar sind. Mir gefiel, dass das Problem mit Screenreadern Beachtung fand sowie der Punkt Leichte Sprache. Sprache, die sich an Inklusivität, Sichtbarkeit und Gerechtigkeit versucht, sollte nicht durch ihre Komplexität ausgrenzen und damit anderen den Zugang verwehren. In jedem Abschnitt werden verschiedene Möglichkeiten erörtert und in Beispielen nebeneinander aufgeführt. Das zeigt teilweise sehr schonungslos und unbarmherzig, wie sehr Sprache Realität formt. Eine der indirekten Leitfragen könnten sein: Was meine ich wirklich? Muss ich das so sagen oder geht es auch inklusiv - ohne anderen Menschen ihre Existenz abzusprechen? Ist diese Aussage Wahrheit oder ein tradiertes Bild?
In den Beispielen wird meist zwischen konventionell, genderinklusiv und genderfrei unterschieden, teilweise mit verschiedenen Strategien/Zeichen und gelegentlich deren Vor- und Nachteile aufgegriffen. Am Ende des Buches steht eine Liste mit Büchern und Links zum weiterführenden Lesen. Das Buch könnte ganz gut als Einstieg in die Thematik fungieren, auch für Menschen, die meinen, sie hätten mit Gendern nix am Hut.
Anfang vom ersten Absatz der Einleitung:
Divers heißt: es gibt mehr als Frauen und Männer - divers ist seit 2018 neben weiblich und männlich ein offizieller dritter Geschlechtseintrag, neben der vierten Möglichkeit den Geschlechtseintrag zu streichen. Divers heißt auch: Menschen sind vielfältig und verschieden, nicht unter ein Label einlassbar.
Zitate/Lieblingsstellen:
Manchmal kann es auch sein, dass ein genderfreies Formulieren Diskriminierung versteckt - und [...] eine Wirklichkeit hergestellt wird, die Diskriminierungen nicht wichtig nimmt, sie ignoriert oder sogar verstärkt [...]. Ein Beispiel: "Menschen fühlen sich am wohlsten, wenn sie nachts nur mit einer Hängematte ausgestattet auf einer Lichtung in einem einsamen Wald schlafen." In diesem Satz wird ignoriert, dass in Abhängigkeit von erlernten Genderrollen und faktischen Gewaltverhältnissen nicht alle Menschen ein gleichermaßen unvoreingenommenes Verhältnis zu einer einsamen Nacht in einem Wald haben können.
weiteres Zitat, das mich nachhaltig beeinflusst hat und zugleich an meine Deutschlehrerin erinnerte, die ähnliches sagte:
Diese Neuformulierungen zeigen, dass wir "man" häufig verwenden, um uns indirekter auszudrücken. Es könnte interessant sein zu versuchen, dies zu verändern und zu überlegen, was eine Neuformulierung für Auswirkungen hat.
Kritik/Wünsche: Generell wurde im Blick behalten, dass Sprache auch Abhängigkeitsstrukturen verzerren kann und nicht vergessen werden sollte, dass Sprache Bedeutung verändert - und dann ist es in einem der letzten Beispiele doch passiert. Aus einer alten Hexe wurde eine Person, die sich mit dem im Beispiel gefragten auskennt und hilfsbereit ist - und das, besonders im Märchen, ist nicht immer der Fall und schreibt Intention, Motivation und Kompetenzen zu, die eine Figur in diesem Moment nicht zwangsläufig hat/erfüllt. In den Fußnoten ein paar Quellen/Querverweise wären mega gewesen. Oder mehr grüne Kästchen am Rand. Vielleicht ein tiefgreifenderer Exkurs zu Neopronomen oder dazu, was wir aus anderen Sprachen lernen könnten - vielleicht geht das auch schon zu weit und würde sich in der Ausführlichkeit für ein weiteres Buch eignen.
Die grüne Schrift lässt sich je nach Licht extrem schlecht lesen.
* Weiterführende Gedanken. Keine Kritik am Buch selbst, womöglich Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Standards und ein durchaus persönlicher Einwand.
Im Buch wird überlegt, wie Menschen in formaler Korrespondenz gendergerecht und respektvoll angesprochen werden können, wenn die Pronomen det angesprochen Person unbekannt sind.
Einer der Tips ist, die Person mit Hallo V. Nachname anzusprechen. Weil der Nachname eines Menschen zum respektvollen Umgang gehört.
Das ist so in Deutschland und vermutlich ebenso in anderen Ländern.
Es lässt bei mir ein ungutes Gefühl zurück.
Warum ist es allgemeingültig respektvoll, den Vornamen abzukürzen und den Nachnamen auszuschreiben? Warum ist es respektvoll, den Nachnamen eines Menschen zu verwenden und nicht den Vornamen? (Oder einen gewählten Namen?)
Würde ich in formaler Korrespondenz folgendes schreiben, würde das mit Sicherheit als hochgradig unseriös und unprofessionell eingestuft werden: Sie/ihr sind meine Pronomen und bitte sprechen Sie mich mit Vornamen an (und kürzen Sie den Nachnamen, wenn er denn dabei stehen muss).
Warum?
Verstehe ich nicht. Und finde es zermürbend, dass der Nachname so sehr als Höflichkeits-Nonplusultra gilt, dass er geradezu gefordert wird.
Die Verwendung des Vornamens würde außerdem die elendige Einteilung in Namensvorsätze wie 'Frau/Mann' überflüssig machen.