Einige Tage verstrichen, doch Lea konnte sich noch immer nicht so recht dazu durchringen, wieder in die Welt der Rabenfrau zurück zu kehren. Sie war gerade sehr damit beschäftigt, verschiedene Bewerbungen für einen neuen Job zu verschicken. Das Wetter war gerade ziemlich regnerisch und kühl und ausser den Spaziergängen mit ihrem Hund und den einen oder andern Ausflug mit ihrer Familie, unternahm sie nicht sehr viel. Sie war ziemlich müde, schlief manchmal wieder schlecht. Irgendwie war das so, seit sie dem dunklen Ritter begegnet war. Seine düstere Präsenz schien sie die ganze Zeit zu begleiten und auch in der Nacht, suchte er sie oft in den Träumen heim. Manchmal besiegte sie ihn, manchmal war sie auch vollkommen ohnmächtig ihm gegenüber und dann erwachte sie aufgewühlt und voller Angst und fühlte sich ausserstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie nahm es dieser Kreatur sehr übel, dass diese sie wieder so verunsicherte. Dabei hatte sie doch jetzt ein so schönes friedliches Leben gehabt, seit dem schlimmen Ereignis mit ihrem Selbstmordversuch. Aber es durfte einem vermutlich nicht zu wohl werden, denn dann wurde man träge und faul. So fühlte sie sich zur Zeit und hatte darum auch keinerlei Lust sich mit irgendwelchen dunklen Schatten zu beschäftigen.
Gerade kam sie mit ihrem Hund vom Morgenspaziergang nach Hause und schaute hinein in den Briefkasten. Ihr Herz klopfte, als sie ein paar an sie adressierte Geschäftsbriefe erblickte. Sie betrat eilig die Wohnung, die im Parterre eines Mehrfamilienhauses lag, leinte den Hund ab und öffnete sie. Gleich darauf, fielen dunkle Schatten über ihr Antlitz: Alles Absagen, immer nur Absagen!! Plötzliche Wut und Verzweiflung ergriff sie, sie zerriss die Briefe, warf sie zornig in eine Ecke und liess sich resigniert aufs Sofa fallen. Das war doch nicht zu glauben! So alt war sie nun doch noch nicht, dass sie einfach keinen Job mehr bekam. Sie hatte doch schon so viele Dinge gemacht und überall immer tolle Zeugnisse bekommen und nun das! Es machte ihr langsam zu schaffen, dass sie so erfolglos mit ihrer Arbeitssuche blieb und sie begann schrecklich an sich zu zweifeln. Machte sie irgendetwas falsch? Hatte der schwarze Ritter womöglich Recht, dass sie zu nicht fähig war und nichts auf die Reihe kriegte? Lag es womöglich an ihrer psychischen Verfassung, konnte sie dadurch nicht die richtigen Energien wecken, um erfolgreich zu sein? Vermutlich war es tatsächlich so, wie der Ritter es sagte. Grosse, glitzernde Tränen rannen ihre Wangen herunter… Ja, er hatte schon Recht! Sie war zu nichts nütze und zu nichts fähig.
Sie legte sich auf das Sofa und schaute an die weisse Decke. Gerade noch hatte sie mit Nathaniel hier eine so wundervolle Zeit verbracht und nun fühlte sie sich wieder so traurig und verloren, wie schon lange nicht mehr. Ihr Blick wanderte nochmals zu den Briefen, die zerknüllt und zerrissen in der Ecke lagen und auf einmal fühlte sie sich selbst wieder innerlich zerrissen und der Schein ihres Seelenlichts, wurde stumpf und blass. Mit leerem Blick starrte sie vor sich hin und merkte wie einmal mehr, eine seltsame Finsternis nach ihr griff. Müde schloss sie ihre Augen, ihr Kopf schmerzte… Das tat er oft, wenn sie sich zu viele Gedanken machte.
Auf einmal jedoch… sah sie hinter ihren zitternden Lidern, deren Wimpern durchnässt waren mit Tränen, ein wundervolles Bild! Es war das weisse, geflügelte Einhorn, welches aus dem schrecklichen Dämon hervorgegangen war, den Lea einst hatte verwandeln können. Dieses Einhorn, flog nun herum und vertrieb die dunklen Wolken, welche sich um sie zusammengezogen hatten, mit seinen wirbelnden Hufen und plötzlich fühlte sie sich wunderbar getröstet.
Sie nahm mit dem Einhorn Verbindung auf und dieses brachte sie zu einem dunklen Höhleneingang, hinter dem sie jedoch überhaupt nichts erkennen konnte. „Kehre zurück in die Welt der Rabenfrau und stelle dich deinem Feind!“ sprach das Einhorn, dann war es wieder verschwunden. Lea stand unschlüssig vor dem Höhleneingang und zögerte noch eine ganze Weile. Irgendwie wirkte er bedrohlich und voller Gefahren. „Ich glaube nicht, dass ich das alleine schaffe“, dachte sie bei sich und wollte schon fast wieder umkehren, als auf einmal ein ihr nur zu vertrauter Gefährte, erschien. Es war der weisse Tiger! Sie freute sich riesig ihn wiederzusehen. Seit den Erlebnissen in der einstigen Zwischenwelt, war er nur noch ganz selten aufgetaucht. Nun jedoch, war er wieder da. „Du brauchst keine Angst zu haben“, sprach er „Ich begleite dich.“ Tiefe Erleichterung zog in Leas Herz ein und sie sank immer weiter und weiter hinab in die Tiefe einer weiteren Zwischenwelt. „Wenn du bei mir bist, dann fühle ich mich sicherer“, sprach sie dankbar und legte ihre Hand auf den weichen Rücken des mächtigen Tigers. Zusammen betraten sie die finstere Höhle…
4. Kapitel
Der Kampf
Es war ein unheimlicher Ort, mit nur sehr wenig Licht und es gab hier eine Menge Ungeziefer und Nagetiere. Doch Lea und der Tiger bewegten sich stetig vorwärts und schliesslich erblickten sie am andern Ende des dunklen Ganges ein Licht. Die Frau verschnellerte ihren Schritt, sie konnte es kaum erwarten hier raus zu kommen. Und kurz darauf standen sie draussen an der Sonne und Lea kniff geblendet die Augen zusammen. „Aber das ist doch gar nicht die Welt der Rabenfrau“, sprach sie erstaunt. „Doch“, berichtigte der Tiger „wir sind nur nicht im Wald, der ist dort hinten, siehst du ihn?“ Lea folgte seinem Blick und entdeckte jenseits der Schlucht die vor ihnen lag, die dichten, grünlich-bläulichen Äste der Bäume des Waldes. Eine natürliche Stein- Brücke lag über der Schlucht. An ihrem Ende fiel ein Pfad steil ab und führte direkt in den Wald hinunter. Das sieht ziemlich gefährlich aus, “ gab Lea zu bedenken. „Müssen wir da rüber?“ „Sieht so aus“, erwiderte der Tiger. Doch als sie ihre Füsse und Pfoten auf die Brücke setzten, erstarrten sie und hielten in ihrer Bewegung inne. Eine finstere, furchterregende Gestalt ritt ihnen auf einmal entgegen!
Lea erkannte sie sogleich. Im hellen Licht wirkte sie irgendwie noch furchterregender, mit dem gehörnten Helm, dessen Visier heruntergeklappt war und den roten Augen, die dahinter hervorglommen. Der schwarze Ritter trug eine Rüstung, schwarz wie die Nacht, kein Bisschen Licht brach sich darin. An den Ellbogen, Schultern und Knien, war sie zusätzlich mit Spitzen versehen. Das schwarze Pferd, welches nun auf einmal dunkle Schwingen hatte, schnaubte bedrohlich und stiess dann ein schrilles, herausforderndes Wiehern aus. Lea war wieder wie erstarrt. Der Tiger knurrte und machte sich zu einem möglichen Angriff bereit. Der Atem der Frau ging schnell und ihre Hände zitterten. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte weder eine Waffe noch irgendwas um sich zu schützen und auch verwandeln konnte sie sich nicht. Der Ritter kam immer weiter auf sie zu. Seine Lanze hielt er zum Zustossen bereit und die Hufe seines Reittieres, hallten unheimlich auf dem harten Gestein wieder.
Doch dann auf einmal, als sie schon glaubte verloren zu sein und der weisse Tiger drauf und dran war zum Sprung anzusetzen, um sie zu verteidigen, ertönte ein weiteres lautes Wiehern und wie ein strahlender weisser Diamant, erschien ein weiteres, geflügeltes Pferd vor dem Hintergrund des blauen Himmels über ihnen. Das Sonnenlicht brach sich in seinem glänzenden Fell und den mächtigen, engelgleichen Flügeln und es landete direkt zwischen dem Ritter und Lea. Diese, zuerst noch geblendet von der strahlenden Schönheit des edlen Tieres, erkannte dieses nun und stiess einen Jubelschrei aus: „Silberstern! Du bist es?“ Sie hatte ihrem geliebten Pferd, welches sie schon einmal gerettet hatte, diesen Namen gegeben. Doch nun hatte Silberstern auf einmal Flügel bekommen. „Du siehst so… wundervoll aus!“ sprach sie tief beeindruckt. Das Pferd wieherte noch einmal fröhlich und sprach dann: „Der Name Silberstern gefällt mir. Ich bin hier um dir zu helfen. Wie ich sehe, brauchst du ein Reittier.“ „Ja!“ erwiderte Lea tief bewegt. „Du hast Recht!“ Der Tiger entspannte sich nun zusehends und nickte leicht mit dem Kopf. „Dann steig auf! Lanze und Schild sind am Sattel befestigt, “ sprach Silberstern. Lea sah eine silberne Lanze mit weissgoldenem Griff und einen dazu passenden Schild mit einer goldenen Sonne auf weissem Grund. Beides leuchtete so hell, wie Silberstern. Ein gleissendes Licht, dass sich wie eine Aura um das Pferd ausbreitete. „Aber… ich habe keine Rüstung“, gab Lea zu bedenken, während sie sich ehrfurchtsvoll in den ebenfalls weissgoldenen Sattel ihres Reittieres schwang. „Nur Geduld, nimm die Lanze und den Schild in die Hand, dann wirst du schon sehen!“ Der schwarze Ritter beobachtete mit Ärger, dass Lea nun doch nicht mehr so hilflos vor ihm stand. Er hielt inne und sein schwarzer Rappe, tänzelte unruhig hin und her. Lea tat wie ihr geheissen, sie nahm die Lanze und den Schild in ihre Hände und… in diesem Augenblick, verwandelte sie sich tatsächlich! Ihre Kleider wurden weiss und immer fester, wurden zu einer Rüstung, welche wie Bergschnee glänzte und wie der Schild, verziert war mit goldenen Sonnenornamenten. Ihr Brustpanzer, war ihrer Busenform wunderbar angepasst und funkelte so golden, wie die Ornamente. Ein langer weisser Mantel, mit goldenen Fäden bestickt, die ebenfalls seine Sonne bildeten, war an ihren Schulterstücken mit goldenen, rosenförmigen Fibeln befestigt und der hohe, eher schmale Helm, schmiegte sich perfekt um ihr Haupt. Voller Ehrfurcht schaute sie an sich herunter.
Silberstern schlug mit seinen mächtigen Schwingen und wieherte, während er auf die Hinterläufe stand. Lea hatte seltsamerweise keinerlei Mühe sich auf seinem Rücken zu halten. In den Zwischenwelten, war so vieles möglich. Einen flüchtigen Moment lang, überlegte sie wo sie hier eigentlich genau befand… doch sogleich wurden ihre Gedanken wieder von dem schwarzen Ritter abgelenkt, dessen Pferd ebenfalls schrill aufwieherte, mit seinen schwarzen Flügeln schlug und ebenfalls auf die Hinterläufe stand. Als seine Vorderläufe mit einem donnernden Geräusch wieder auf den Boden auftrafen, senkte der schwarze Ritter seine Lanze und preschte sogleich auf Lea los. Diese war noch gar nicht richtig bereit. Denn all die neuen Eindrücke, all die Gefühle die zwischen entsetzlicher Angst, Wut und Entschlossenheit hin und her pendelten, nahmen sie noch zu sehr in Anspruch. Darauf aber, nahm der Ritter keine Rücksicht. Er streckte seine Lanze aus und liess ein böses Lachen hören. Lea sah die Waffe nur noch auf sich zu schiessen und dachte: „Wiedermal kalt erwischt!“ Um zu reagieren, war keine Zeit mehr. Zum Glück aber, reagierte Silberstern blitzschnell. Er wich der Lanze im letzten Moment aus, schlug mit seinen Flügeln und flatterte zur Seite weg. Der Ritter stiess einen Wutschrei aus, als ihm klar wurde, dass er Lea verfehlte hatte und seine eigene Kraft katapultierten ihn und sein Reittier nach vorne. Der Rappe bremste ab, indem er seine Vorderhufe in den Boden stemmte und mit seinen schwarzen Schwingen die Balance wiederherstellte. Sein Hinterteil senkte sich dadurch etwas an und der Ritter musste aufpassen, dass er nicht nach hinten stürzte. Das brachte ihn ziemlich aus dem Konzept. Diesen Augenblick nutzte Lea. Sie machte sich bereit, indem sie ihre weisse Lanze ebenfalls nach vorne streckte und mit dem Schild ihren Körper schützte. Alles klappte von allein hier in dieser Welt, was sie mit Genugtuung erfüllte. Der schwarze Ritter fing sich wieder und nun standen sich die beiden einen Augenblick lang lauernd auf der Steinbrücke gegenüber. Während Lea den schwarzen Gegner musterte, stellte sie fest, dass er irgendwie etwas unsicherer wirkte als zuvor, denn nun war sie auf seine nächsten Angriff gefasst und das schien ihn zu beunruhigen. Eine seltsame Ruhe kehrte auf einmal in sie ein und sie hatte plötzlich das erste Mal das sichere Gefühl, dass sie ihn besiegen konnte. Immerhin hatte sie ihren geliebten Silberstern als Reittier und dies gab ihr ganz besondere Kraft und einen inneren Frieden, der in ihr das Gefühl weckte, alles schaffen zu können.
Und… die beiden Ritter preschten aufeinander los Ihre Lanzen ausgestreckt ihre Schilde vor ihren Körpern, der Klang der acht Pferdehufe schwoll zu einem lauten Donnergrollen an und der Abstand zwischen ihnen verringerte sich mehr und mehr. Einen Augenblick lang, beschlich Lea ein leichtes Unbehagen, denn die roten Augen des Ritters fixierten sie böse und es kam ihr so vor, als sei sein ganzes Streben, sie ganz und gar zu vernichten. Doch dann spürte sie unter sich die Muskeln von Silberstern, die sich anspannten unter dem festen Tritt seiner Hufe. Er war so stark, geschickt und wendig, so wundervoll! War er womöglich gar die Verkörperung jener Kraft, die Lea immer wieder vorwärts trieb in ihrem Leben und in ihr immer wieder neu den Kampfgeist weckte? Ja, so musste es sein! Diese Kraft war ihr einst geschenkt worden und sie konnte diese nun immer mehr zu ihrem Vorteil nutzen. Dankbarkeit und Liebe durflutete ihr Herz. Und auf einmal begann dieses wieder, wie damals bei dem Tentakelmonster, hell zu strahlen und zu pulsieren und ein weiteres Mal, erschien der durchschimmernde Greif ! Er schwebte direkt auf den schwarzen Ritter zu und als er ihn erreichte wurde dieser zeitgleich hart von Leas weisser Lanze getroffen! Die gewaltige Kraft katapultierte den schwarzen Gegner aus dem Sattel und er stürzte vom Pferd. Er schrie auf, verlor das Gleichgewicht und fiel von der Brücke…