Prolog: Bärenküste
Flutheim. Es scheint, nur den Regen verschlägt es in diese Siedlung im Süden, am Rand des Fernen Ozeans. Dicht treiben die Wolken über schroffe Küsten mit düsteren Tannen, die fernen Ausläufer des Schattenforsts, wo die Dunkelelfen hausen. Der Wind peitscht das magere Gras, langes, bleiches Dünengras, ausgezehrt von der salzigen Seeluft.
Hier ducken sich riedgedeckte Hütten in den Schatten zerkratzter Felsen und buckliger Hügel. Häuser aus moderndem Holz, Moos auf den dünnen Ästen, die den Regen fernhalten sollen. Dass man sich dem Reich der Barbaren nähert, erkennt man an diesen speziellen Häusern, deren Dächern zu beiden Seiten gebogene Giebel wie Hörner gen Himmel recken. Eine ebenso trotzige wie sinnlose Geste, denn der allgegenwärtige Regen lässt sich von solchen Drohungen nicht einschüchtern.
Die Runenkrieger dieses Landes sind an das harte Klima gewöhnt. Sie sind mächtige Männer und Frauen, manche gar doppelt so groß wie ein Mensch. Auch wenn sie wie solche aussehen, so sind sie keine Menschen. Man ahnt es bereits, sieht man ihre wilden, schwarzen Mähnen, die großen, breiten Hände oder die Felle, in die sie sich kleiden. Zerlumpt und dreckig, wohnt ihnen auch eine Kraft inne, die Furcht einflößt. Runensteine sind in die Pelze eingenäht, die von Hirschen, Wölfen, gar Bären stammen. Manche dieser Barbaren wurden gesichtet, wie sie die Schädel ihrer Beutetiere auf dem Kopf tragen, die Schaufeln der Elche zum Himmel erhoben, und ein Geheul wie von Wölfen anstimmten, im Schein flackernder Scheiterhaufen, auf denen sie, wenn man den Geschichten Glauben schenkt, ihre Anführer verbrennen.
Kaum ein Fremder vermag jedoch aus diesem Land der Stürme zu berichten, wo die Wassermassen ertränkend dicht werden und die Stürme vom Meer her rollen. Nicht viele, die Flutheim erreichen, verlassen es wieder. Das gilt für nichtsahnende Reisende ebenso wie für die Krieger, die an der Küste des Fernen Ozeans geboren sind. Es kommt der Tag, da sie ihre Bestimmung wählen und einem Ruf folgen müssen: Hinauf auf die See oder in die dichten Wälder um ihre Heimat oder hinauf zu den kalten Gletschern. Ihre Väter setzen ihre stärkste Miene auf und verschränken die Arme, wenn die jungen Kriegerinnen und Krieger losziehen, nur die gewölbten Muskeln verraten ihre wahren Gefühle. Die Mütter, selbst Schildmaiden oder weise Kräuterfrauen, wenden den Blick ab, um ihr berstendes Herz zu schützen.
Wohin mag ihr Weg sie führen? Keiner, der die Reise überlebt hat, spricht je davon, wenngleich es alle wissen. Die See lockt mit wilden Rufen. Die Gletscher mit eisigem Schweigen, dem sich keine Kraft widersetzen kann. Aus den Wäldern dringt klagendes Heulen.
Die Schritte des angehenden Kriegers lassen Zweige brechen. Hohl hallt das Brechen in der Stille des Waldes wider, ein einziger Ton, der rasch vom Nadeldickicht verschluckt wird. Kein Vogel ruft, kein Farn bewegt sich. Unter den Stämmen herrscht ein undurchdringliches Zwielicht. Eilt der Krieger weiter, so wird seine große Gestalt bald von dichtem Bewuchs verdeckt, von giftigen Eiben und Dornenhecken mit blutigroten Früchten. Selbst der stärkste, mutigste Krieger verliert in dieser Dunkelheit seinen Mut.
Gebüsch verbirgt den Blick auf den Wandernden. Wie ein Sturm erhebt sich mit einem Mal Lärm. Die Tannen stöhnen und seufzen, die Erde erzittert. Vögel, bis eben stumm auf den Zweigen versteckt, fliehen in dichten Schwärmen in den Sturm. Krähen kreischen.
Der Sturm schwindet, manchmal nach Tagen, mal nach wenigen Herzschlägen. Zurück bleibt ein Wald, der sich kaum verändert hat, und doch spürt man, dass der Blick eines unmenschlichen, fremdartigen Wächters von ihm gewichen ist. Der lauernde Wolf hat den Angriff gewagt, nun gibt es keinen wachsamen Jäger mehr. Das Raubtier ist zufrieden.
Hat es seine Beute geschlagen? In der Ferne schwankt einer der Bäume, seine hohen Äste wirken wie das Geweih eines großen Schreckens. Doch schon verhüllt der Nebel dieses Wesen.
Wer in den Wald gesandt wurde, kehrt nicht immer heim. Doch tut er es, so klingen seine Schritte auf den Zweigen und trockenen Nadeln nun anders. Er weiß nun, was in diesem Wald zuhause ist, in wessen Revier er lebt.
Einige Tannen streichen vorbei. Und wo eben ein Krieger lief, geht nun ein Bär mit schwarzem Pelz, goldene Zeichnungen im Fell, die an Runensteine erinnern. Das Volk von Flutheim erkauft sein Leben mit einem verzweifelten Pakt, der Fluch und Segen zugleich ist.
Auch wenn sie wie solche aussehen, so sind sie keine Menschen.