Du bist Elred Aramys Nuvian.
Nach der Mahlzeit spürst du Müdigkeit. Dein Magen ist voll, nun holt dich die Erschöpfung ein. Dein Körper benötigt Ruhe.
Du nimmst Abschied von den Bärenkriegern, die dich mit einer Mahlzeit unterhalten haben, und kehrst ins Langhaus zurück. Diese Halle des Jarls besitzt Bänke in der Mitte, eingerahmt von wärmenden Feuern, wo du heute unterkommen darfst. Dass du das Tal nicht verlassen sollst, findest du nicht einmal schlimm. Um eine Flucht kannst du dich auch später noch kümmern.
Nach dem Schlaf.
Du suchst dir ein Plätzchen auf den fellbedeckten Bänken und streckst dich aus. Dein Entschluss, mit der Flucht zu warten, hat den entscheidenden Vorteil, dass du zunächst zu Kräften kommen kannst. Während das Feuer dich wärmt, schließt du die Augen und ergibst dich der Müdigkeit, die an deinen Lidern zerrt.
Es fühlt sich an, als würdest du schwerer und schwerer werden. Du wehrst dich nicht gegen den heilsamen Schlaf, der dich überkommt.
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Geweckt wirst du davon, dass jemand an deiner Schulter rüttelt. Du zischst vor Schmerz, als dein verletzter Arm dabei verrutscht. Zwar wurde er besser verbunden – die Bärenkrieger haben sich gut um deine zahlreichen Wunden gekümmert – aber empfindlich ist er immer noch.
„Entschuldige, Elred.“
Du setzt dich auf. Es ist der Jarl, der sich über dich beugt, nicht Allyster, wie du zuerst dachtest. Für einen kurzen Moment hast du deine Lage vergessen können.
„Ich habe eine wichtige Frage für dich.“ Audor drückt deine Schulter mit einem freundlichen, aber etwas zu festen Druck. „Deine Gefährten … sie können unser Tal noch nicht verlassen haben. Wo sind sie?“
Du zögerst. Allyster und Karja – natürlich sucht der Jarl noch nach ihnen. Und du hättest dir denken können, dass deine Vergangenheit nach der Probe nicht vollkommen vergessen wurde.
„Du hast doch unsere Götter gesehen“, drängt Audor dich jetzt. „Siehst du nicht, dass wir hier die Wahrheit leben – im Gegensatz zu Kalynor? Du gehörst nun zu uns. Hilf uns, den Stein zu retten. Unser Land zu retten.“
Das Feuer in der Stimme des Jarls könnte dich überzeugen – wenn du ein ehrenvoller Krieger wärst. Zu seinem Pech bist du ein Söldner. Du kämpfst für den Höchstbietenden.
Trotzdem solltest du mitspielen, wenigstens zum Teil. „Mein Jarl“, beginnst du zögerlich, während du immer noch darum kämpfst, wach zu werden. „Ihr bittet mich, meine Waffenbrüder zu verraten, sie möglicherweise dem Tod auszuliefern.“
Du befürchtest eine zornige Reaktion, aber stattdessen lacht der Gehörnte. „Ganz der Hirsch, ich hätte es wissen sollen. Ehre und Treue.“ Er schüttelt den Kopf mit dem großen Schaufelgeweih. „Nun, ich möchte deine Gefährten nicht töten, wenn es sich vermeiden lässt. Sie könnten sich ergeben und sich uns anschließen. Wirst du sie dazu überzeugen können?“
Das ist zweifelhaft, aber du nickst dennoch. Du möchtest, dass der Jarl dich mitnimmt, so kannst du deine Flucht gestalten. Bereits jetzt arbeitest du an einem Plan, der dich wieder mit deinen Gefährten vereint. Und dafür muss Audor glauben, dass du ihm nun treu ergeben bist.
„Ich weiß nicht, wo sie sind“, antwortest du deshalb bereitwillig. „Aber ich kenne einen Ort, den sie auf jeden Fall noch aufsuchen werden! Unsere Pferde stehen in einer Herberge an der Küste.“
„Pferde? Sie können sich doch neue Reittiere holen.“ Verständnislos sieht der Jarl dich an.
„Das werden sie aber nicht“, antwortest du sicher. „Wir haben ein Fohlen dabei, Lehrling. Der Magier hat einen Narren an ihm gefressen. Er wird ihn nicht zurücklassen, um keinen Preis.“
Wenig später seid ihr bereits unterwegs zu dem Gasthaus. Wo genau dieses liegt, erinnerst du dich nicht mehr im Detail, aber mithilfe deiner Beschreibung findet der Jarl schließlich den Weg. Flankiert von seinen Bärenkriegern reitet ihr zu dem windschiefen Gebäude, das du wiedererkennst.
Jetzt musst du deine Bewacher nur noch irgendwie loswerden. Und herausfinden, wo deine Gefährten stecken.
„Falls sie hier sind, werden sie wachsam sein“, sagst du. „Ich könnte alleine nachsehen, ob unsere Pferde dort sind.“
Der Jarl betrachtet dich schweigend, ohne zu antworten. Er wägt offenbar ab, ob er dir vertrauen kann. Dann gibt er seinen Kriegern ein Zeichen, worauf die Männer mit Bärenrunen sich in den umliegenden Gassen verteilen und untertauchen. Nur der Jarl bleibt neben dir – der mit Abstand die auffälligste Erscheinung hat.
„Geh“, befiehlt er dir. „Ich vertraue darauf, dass du nichts Dummes versuchst.“
„So dumm bin ich nicht“, lügst du mit einem angespannten Gefühl im Bauch. Berühmte letzte Worte …
Du trittst auf das Gasthaus zu. Statt der Haupttür wählst du den Eingang zum Stall. Hier kannst du aufatmen, denn Coritas begrüßt dich sofort mit einem fröhlichen Wiehern. Auch Melréd, ihr Fohlen und Karjas Esel stehen noch zwischen Schafen und Ziegen.
„Sehr schön.“ Du kraulst dien Vollblut und siehst dich um. Als nächstes musst du mit den Tieren fliehen. Momentan unmöglich, denn ihr seid umzingelt. Also trittst du wieder hinaus und erstattest dem Jarl Bericht. Du kannst durchsetzen, dass du im Stall wartest, um deine Gefährten abzufangen und zu überzeugen, sich Flutheim anzuschließen.
Natürlich wirst du nichts in der Art tun. Sobald Karja und Allyster auftauchen oder sich eine andere Chance ergibt, wirst du fliehen. Doch den Jarl scheinst du getäuscht zu haben.
Im Stall ist es dunkel und muffig. Du bist froh, dass du dich ausgeruht hast, ansonsten würdest du während der langen Wartezeit nicht wachbleiben können. Immerhin weißt du auch nicht, wie lange du womöglich warten musst. Du solltest jederzeit bereit sein.
Schließlich hörst du ein leises Knarzen von der Tür. Als du den Blick hebst, huscht soeben ein kleiner Schatten herein, der sich umsieht. Dich in der dunklen Ecke hat der Junge aber noch nicht bemerkt.
„Langfinger!“
Der Dieb zuckt zusammen. Mit großen Augen dreht er sich zu dir um. „Du … lebst?!“
Du grinst und stehst auf. „Ja, ich habe überlebt. Wie geht es dir? Was ist mit den anderen?“
„Sie … sie sind im Wald, vor der Stadt.“ Das Kind redet aufgeregt und schnell. „Ich soll die Pferde rausschaffen, es gibt sonst zu viele Wachen. Aber … ich kann gar nicht reiten!“
Du legst ihm eine Hand auf die Schulter. „Keine Sorge, das schaffen wir. Es gibt nur ein Problem. Der Jarl liegt hier irgendwo auf der Lauer. Und er erwartet, dass ich ihm helfe – was uns zwei Möglichkeiten gibt. Entweder, wir fliehen an der Küste entlang und hoffen, dass wir in Deckung bleiben können … oder wir gehen zu ihm.“
„Zum Jarl?“ Langfinger weicht zurück. „Du … du willst ihm helfen?“
„Nein“, stellst du rasch klar. „Ich will ihn täuschen. Wir können ihm etwas erzählen. Wo wir die anderen finden können. Dass wir mit den Pferden dorthin müssen, allein, und dass wir sie dann überzeugen können, uns zu helfen.“
Langfinger lacht auf. „Das ist dein Plan? Das glaubt er uns nie.“
„Wir müssen das alles etwas umsichtiger angehen“, gibst du genervt zu. „Aber so in etwa könnte es funktionieren. Wir müssen uns nur gut überlegen, was wir sagen. Und geduldig sein. Ich weiß nicht, ob wir eine Chance haben, wenn wir jetzt einfach losstürmen.“
„Es könnte unsere einzige Chance sein!“, widerspricht Langfinger. „Ich weiß nicht, wie gut du lügen kannst, aber das muss schon was Besonderes sein, wenn du den Jarl überzeugen willst, genau uns beide mit den Pferden aus der Stadt zu lassen!“
Du hältst inne. So neunmalklug das Blag ist, vielleicht hat Langfinger recht. Bisher bist du mit Lügen gut durchgekommen, aber wird das weiterhin klappen? Dieses Mal fällt dir keine einfache Täuschung ein, die den Jarl nicht hellhörig machen würde.
Vielleicht solltet ihr einfach so schnell wie möglich hier weg.
Du …
- … kehrst zum Jarl zurück. Lies weiter in Kapitel 38.
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- … fliehst mit Langfinger. Lies weiter in Kapitel 39.