Du bist Elred Aramys Nuvian.
Du weißt, dass Allyster recht hat. So grauenhaft diese Aufgabe auch ist, es geht hier um ganz Kalynor, um die Zukunft von Tausenden von Menschen und Elfen. Kinder, genau wie Langfinger, die ein Recht auf eine sichere Zukunft haben sollten.
„Ich kann es tun“, sagt Allyster sanft, der offenbar in deinem Gesicht liest, dass dein Widerstand schwindet.
Du schüttelst den Kopf und ergreifst das neue Messer mit dem Hirschhorngriff. „Ich mache es. Du … du hast Aji. Ich bin nicht mal ein Mensch.“
Allyster nickt langsam. „Wenn du sicher bist, dass du das tun willst.“
„Nein, scheiße, das bin ich nicht.“ Zornig siehst du ihn an. „Aber ich habe die beste … Position für so was.“
Du trittst nach draußen, wo sich Langfinger noch immer um die Pferde kümmert. Den Dolch hältst du im Ärmel versteckt. In der gleichen Hand trägst du auch den Münzsack.
„Seid ihr fertig?“ Der Junge späht aus dem Stall. „Kannst du hier nochmal drübersehen? Ich habe keine Ahnung, was Pferde so fressen, ich hoffe, nichts hiervon ist giftig für sie.“
„Sie werden schon zurechtkommen. Ziegenfutter vertragen sie.“ Du kommst trotzdem in den Stall und siehst dich um.
„Was ist hier eigentlich passiert, wisst ihr das?“, fragt das Kind. „Der Hof sieht noch nicht sehr verfallen aus. Wieso lässt man so ein schönes Haus leerstehen?“
„Das war schon so, als wir über den Pass kamen.“ Du versuchst, nicht zur Rückseite des Stalls zu sehen. Zu den Gräbern. Stattdessen wartest du darauf, dass Langfinger sich auf das Geld konzentriert.
Er bemerkt den Beutel in deinem Griff allerdings gar nicht. Er streichelt Melréd mit einem versonnenen Lächeln. „Wunderschöne Tiere. Wenn ich eine gute Probe habe, dann kann ich mir vielleicht auch mal Pferde leisten.“
Wieso muss er ausgerechnet jetzt mit seinen Zukunftsplänen anfangen? Du merkst, dass deine Handfläche schwitzig wird. „Hast du dich etwa an sie gewöhnt?“, fragst du so entspannt wie möglich.
„Sie sind einfach toll!“ Mit glänzenden Augen sieht das Kind dich an. Schließlich bemerkt er den Beutel. „Mein Geld?“
„Genau.“ Du streckst die Hand aus. „Hast du dir mehr als verdient.“
Langfinger streckt die Hand aus. In diesem Moment lässt du los. Die Münzen fallen auf die Erde, springen klimpernd durch das Stroh, welches einen schlichten Steinboden bedeckt. Während Langfinger nach unten sieht, wirbelst du das Messer nach vorne - jene Klinge, die er dir in die Hand gab - und schwingst es auf den Jungen zu.
Du hast das Tigerauge genutzt. Somit konntest du jede Bewegung in alle Ruhe durchführen. Für Langfinger geht alles ganz schnell. Ein entschlossener, tiefer Kehlschnitt, der sich hinter deiner Klinge teilt, Schwall um Schwall aus Blut ausspuckt.
Der Dieb reißt die Augen auf und stolpert zurück. Fragend öffnet er den Mund, während er verzweifelt seine Kehle umklammert.
Du lässt den Schöpferstein los. Diesen Teil willst du nicht länger ausdehnen als unbedingt möglich.
„Es tut mir so leid“, sagst du ernst. Du stützt den Jungen, als seine Knie nachgeben, und hilft ihm, sich ins Stroh zu setzen.
Japsend und gurgelnd versucht das Kind, etwas zu sagen. Sein Blick irrt verzweifelt durch den Stall.
„Bleib ganz ruhig. Es dauert nicht lange.“ Du ziehst seine Hände sanft zurück, die den Blutfluss zu stoppen versuchen. „Es ist nichts Persönliches, Kleiner. Wir können nur nicht zulassen, dass der Jarl dich schnappt.“
Langfinger hustet und spuckt Blut. Seine Augen schießen zornige Blitze, die jedoch schwächer werden. Er versucht mit letzter Kraft, aus deinem Griff zu krabbeln. Du kannst es ihm nicht verdenken.
Schweigend bleibst du an seiner Seite, bis die sprudelnden Geräusche seines Körpers verstummen.
°°°
Ein weiteres Mal hebst du ein Grab hinter dem Stall aus. Diesmal ist es deutlich kleiner und flacher. Ihr bettet das Kind neben die Bauernfamilie und bedeckt es mit Erde.
Ihr wisst nicht einmal, welchen Namen ihr über die letzte Ruhestätte schreiben sollt. Natürlich würde ein Schild das Grab auch verraten, sodass es keine Option ist. Ihr wollt, dass die sechs Toten so spät wie nur möglich gefunden werden, idealerweise nie. Dennoch ist der Gedanke bitter.
Diese Leute waren einfache Zivilisten. Mit eurem Krieg hatten sie nichts zu tun. Ihr beschützt zwar die Zivilisten in Kalynor durch diese Bluttaten, doch das macht eure Taten nicht weniger grausam.
Nach dieser Arbeit wascht ihr euch mit dem eisigen Wasser aus dem Brunnen, schlüpft zurück in eure kalynorische Kleidung und brecht auf. Dein altes Hemd fühlt sich irgendwie kratzig und ungewohnt an, als würden dir die Pelze aus Flutheim viel besser passen. Sicherlich wirst du dich wieder umgewöhnen … so, wie die Albträume irgendwann nachlassen werden, sich mit allen anderen Träumen und Taten vermengen.
Während ihr – nur drei Stunden nach Langfingers Tod – über den Pass reitet, kannst du die verzweifelten Laute des sterbenden Kindes jedoch noch deutlich hören. Es wird dauern, bis dieser Schatten verblassen wird. Gänzlich wirst du diesen Tag niemals vergessen können.
Es war dennoch das Richtige. Nur so konntet ihr Kalynor beschützen. Nur so, indem ihr die letzte Spur mit Blut auswascht, konntet ihr eure Heimat beschützen.
Du kannst es kaum erwarten, diese Erinnerungen in Alkohol zu ertränken. Am besten im Kreise deiner Freunde.
Du sehnst dich danach, …
- … dass eure Gruppe wieder vereint ist. (Kein Pairing) Lies weiter in Kapitel 44.
[https://belletristica.com/de/chapters/344046/edit]
- … Brenna wiederzusehen. (Pairing Brenna & Elred) Lies weiter in Kapitel 45.
[https://belletristica.com/de/chapters/344047/edit]
- … Arthrax wiederzusehen. (Pairing Arthrax & Elred) Lies weiter in Kapitel 46.