Ich merkte gleich, dass ich in einem mir fremden Bett lag. Es war viel bequemer als meines. Verschlafen schaute ich mich in dem Zimmer misstrauisch um. Durch einen Spalt der zugezogenen Vorhänge sah ich, dass es draußen schon längst hell war. Laut Wecker, der neben dem Bett auf einem kleinen Tisch stand, war es acht Uhr früh. Momentan konnte ich mich nicht erinnern, was gestern, oder besser gesagt, an diesem Tag, geschähen, noch wie ich hierhergekommen war. In dem Augenblick, als ich mich aufsetzte, fiel mir wieder alles ein. Ich fuhr mir mit meinen Händen übers Gesicht und stöhnte auf. Es war nicht zu fassen. Wo war ich da nur hineingeraten? Wenigstens hatte ich noch meine Sachen von gestern an. Nur die Schuhe standen neben dem Bett auf dem Boden. Bevor ich sie mir anzog, bemerkte ich den Verband auf meinen Händen. Den musste einer von den beiden angelegt haben. Schmerzen hatte ich bis vorhin nicht bemerkt. Doch jetzt spürte ich ein leichtes brennen. Egal. Bei der Tür angekommen, öffnete ich diese langsam und blickte hinaus. Bedacht darauf keine Geräusche zu verursachen. Immerhin wollte ich noch ein paar Minuten meine Ruhe. Mein unfreiwilliges Übernachtungszimmer war jedenfalls einmal im Obergeschoss. Gleich rechts, neben dem Zimmer, in dem ich aufgewacht war, führte eine Treppe hinunter. Es gab noch zwei weitere Türen. Hoffend hier oben auch auf ein Badezimmer zu stoßen, öffnete ich die neben meinem. Was ebenfalls ein Schlafzimmer war. Bis auf ein Bett und ein Beistelltisch war dieses ebenfalls leer. Wie überall auch, nur weiß gestrichen. Bei der zweiten hatte ich Glück. Das Badezimmer hatte zu meinem Glück auch eine Toilette darin. Ein paar Kosmetikartikel und saubere Handtücher waren auch vorhanden. Schnell wusch ich mir das Gesicht und putzte mir die Zähne. Warum ich nicht gleich versuchte hier heimlich abzuhauen, wusste ich selbst nicht. Noch schob ich die ganzen verwirrten Gedanken beiseite und konzentrierte mich aufs Hier und Jetzt. Mir blieb fast das Herz stehen, als es an der Tür klopfte. Ich fuhr herum und hielt mich am Rand vom Waschbecken fest. Nur gut das ich mit Zähneputzen fertig war. Ich wäre sicher an der Zahnpasta oder beim Ausspülen erstickt.
„Alexa, bist du da drinnen?“, rief Laura mit ihrer sanften Stimme.
Nach ein paar Mal tief ein und ausatmen, sagte ich etwas lauter „Ja.“
„Wenn du fertig bist, komm runter. Ich habe Frühstück gemacht. Danach können wir unten in Ruhe über alles sprechen.“, sprach sie durch die Tür.
„Okay.“ Mehr kam mir nicht über die Lippen. Atmete tief ein und aus.
Was mache ich hier nur? Was würde noch so alles auf mich zukommen? Mit was für Typen hatte ich es hier zu tun? Und warum zum Teufel hatte ich gestern das Gefühl, das ich diesen Liam trauen konnte. Zumindest wollten sie mir momentan nichts Böses.
Ich verharrte noch ein paar Minuten im Badezimmer. Atmete ein paar Mal tief ein und aus, bis ich bereit war, nach unten zu gehen. Auch wenn ich Angst davor hatte, herauszufinden, was hier wirklich gespielt wurde, ewig in dem Raum zu bleiben war keine Option. Hoffentlich waren die nicht wirklich Verrückte.
Vor der Tür der Küche traf mich der Schlag. Ich erstarrte und war nun endgültig völlig durcheinander. Sara und Frank saßen mit Liam und Laura am Küchentisch.
Wie konnte das sein? Was zur Hölle hatten die beiden mit denen zu tun? Ich war nicht fähig auch nur irgendein Wort herauszubringen und stand mit offenem Mund im Türrahmen.
Liam bemerkte mich als erstes, obwohl er mit dem Rücken zu mir sah’s. Als ob er mich gespürt hätte. Oder er hatte Augen im Hinterkopf. Die anderen drei drehten sich darauf ebenfalls zu mir um.
Sara und Frank sprangen in der gleichen Sekunde auf und sagten beide zur selben Zeit „Geht es dir gut?“. Sie sahen sehr besorgt aus, trauten sich jedoch nicht zu mir zu stürmen. Ich sah es ihnen an ihrer Mimik an, dass sie nicht wussten, wie ich reagieren würde und blieben weiter auf Abstand. Ich war dankbar, dass sie es unterdrückten und mir meinen Freiraum ließen. Sie verschränkten ihre Hände ineinander, als ob die beiden jetzt den Halt des jeweils anderen bräuchten.
Immer noch nicht meine Stimme wiedergefunden, hörte ich nur Frank traurig sagen, „Wenn wir gewusst hätten, dass sie dich bereits gefunden haben, hätten wir dich nie alleine nach Hause gehen lassen.“
Nicht darauf achtend fragte ich nur ungläubig, „Was habt ihr beiden mit denen zu schaffen? Was geht hier vor sich, verdammt noch mal?“
Ich hatte immer geglaubt, die beiden zu kennen. Immerhin arbeitete ich schon über zwei Jahre mit ihnen zusammen. Da täuschte ich mich anscheinend gewaltig. Und wie. Es fühlte sich so an, als ob die beiden mich hinters Licht geführt hätten. Die ganze Zeit nur etwas vorgespielt hätten. Das machte mich wütend.
„Setz dich zu uns und iss ein wenig.“ Redete Liam ruhig dazwischen. Allem Anschein wollte er verhindern, dass die Situation eskalierte. „Danach erzählen wir dir, was es mit der ganzen Sache auf sich hat und die beiden können sich auch erklären.“
Kaum hatte Liam den Satz beendet, knurrte hörbar mein Magen. Meine letzte Mahlzeit war schon ein Weilchen her. Jetzt bemerkte ich auch den Geruch von gebratenen Eiern und Speck. Der Tisch war bereits gedeckt. Ich unterdrückte die Wut vorerst und sah mich im Raum, für eine kleine Ablenkung, um. Küche, Tisch und Stühle hatten alle einen hellbraunen Ton. Auch die Wände hier waren weiß. Nirgends in diesem Haus hingen Bilder, keinerlei Schnickschnack oder sonstige persönliche Gegenstände konnte ich erkennen. Waren Laura und Liam hier erst eingezogen?
Langsam ging ich auf den leeren Stuhl zu und Laura gab mir frisch aus der Pfanne darauf. Zusätzlich standen noch Gebäck, Fruchtjoghurt und diverses Obst auf dem Tisch. Trotz meiner Furcht vor den Antworten, wusste ich doch instinktiv, dass mir diese Leute nichts antun würden. Immerhin hätten sie schon genug Zeit dafür gehabt. Während dem essen war es drückend still. Mir schwirrten die Gedanken durch den Kopf. Der vorherrschende war, warum ich keine Angst vor ihnen hatte. Auch wenn ich vor ein paar Stunden zu fliehen versuchte, wollte ich nicht mehr so schnell hier wegkommen. Ich konnte das Essen zwar komischerweise riechen, aber es schmeckte nach nichts. Wenn mein Hunger nicht so groß wäre, wär auch nicht viel hinuntergegangen.
Ganz aufs Frühstück konzentriert, nahm ich irgendwann seltsame, nicht greifbare Gefühle wahr. Als würden sie unterdrückt werden. Nicht wissend von wem, oder waren sie gar meine eigenen, blickte ich auf und sah in die Runde. Es kam mir so vor, als ob dieser Liam schnell den Blick von mir abgewandt hätte, als wenn er fast beim Anstarren erwischt worden wäre. Es könnte aber auch nur Einbildung von mir gewesen sein. Oder es lag an meinen Nerven. Ein Zusammenbruch wär ja schon längst überfällig. Als ich damals im Krankenhaus aufgewacht bin, hätte ich das Ganze, laut den Ärzten, viel zu gut weggesteckt.
Nach dem Frühstück und nachdem der Tisch abgeräumt war, gingen wir gemeinsam ins Wohnzimmer rüber. Das Sofa hatte Platz für drei Leute und ich sicherte mir gleich den ebenso braunen Fernsehsessel für mich allein. Ich konnte im Moment nicht neben einen dieser Personen sitzen. Für mich war Abstand im Augenblick besser. Liam stellte sich ans Fenster. Die, zur Abwechslung, grauen Vorhänge schob er beiseite und die Morgensonne erhellte das Zimmer. Jetzt erst gestattete ich mir, Liam näher anzusehen. Er war groß. Sicher knapp 1,85 m mit kurzen dunkelblonden Haaren und schönen blauen Augen. Das Gesicht war markant und die Nase mindestens einmal gebrochen. Unter seinem Shirt waren auch die ein oder anderen Muskeln versteckt, die hatte ich heute früh fühlen können, wie ich mit den Fäusten auf seinen Rücken getrommelt hatte. Ungeduldig wippte ich mit dem Fuß. Liam zögerte noch, begann aber endlich mal zu sprechen.
„Wie du ja schon weist, gibt es weit mehr auf dieser Welt, als die Menschheit sich vorstellen könnte. Der Rat bezeichnet uns als höher gestellte Rasse und nennt uns gerne Donatus, Besonders Begabte. Ich werde fürs erste nicht näher darauf eingehen.“
Wieder begann er zu zögern, als ob er überlegen müsste, was er erzählen durfte. Mit der Hand fuhr er sich über den Kopf. Dann sprach er wieder weiter.
„Wie überall auch, haben wir gewisse Gesetzte. Um ein so weit wie möglich friedliches Zusammenleben auf der Welt zu ermöglichen, sind diese unentbehrlich. Und wie du dir denken kannst, steht ganz oben auf der Liste, alles zu unternehmen, dass wir uns nicht verraten und den Menschen unter keinen Umständen zeigen, was wir sind und können. Dieses eine oberste Gesetzt gilt für alle ohne Ausnahme. Das ist auch einer der Gründe, dass ich meine Fähigkeit, als du angegriffen wurdest, nicht eingesetzt habe.“
Liam schluckte einmal hart. Keiner der anderen machte auch nur einen Mucks. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er jetzt langsam zur Sache kam.
„Der Rat hat schon vor langer Zeit ein bestimmtes Gesetzt erlassen, dass besagt, dass unsereins sich nicht mit einem normalen Menschen einlassen darf und Kinder miteinander bekommen dürfen. Diejenigen, die es doch wagen, werden von den Wächtern getötet. Auch die Kinder.“
Seine Worte hörten sich nüchtern an. Aber ich hörte sehr wohl die unterdrückte Wut heraus.
„Nicht alle von uns sind derselben Meinung wie der Rat. Einige schaffen es ihre Beziehungen zu normalen geheim zu halten. Und die daraus entstandenen Kinder. Diese müssen oft in Gegenden ziehen, wo es nicht viele von uns gibt und der Rat deshalb nicht viele Wächter stationiert. Sie leben in ständiger Angst entdeckt zu werden. Das Risiko ist hoch und sollte der Rat je davon erfahren werden sie öffentlich, zur Abschreckung, hingerichtet.“
Jetzt war es an mir hart zu schlucken. Ich hatte ein komisches Gefühl bei der Geschichte und es kam mir vor, als hätte ich diese vor längerer Zeit schon einmal gehört. Wie Liam dort so am Fensterbrett angelehnt stand, wie er sprach, kam mir, warum auch immer, bekannt vor. Regelrecht vertraut. Aber nur woher? Dieses Gefühl machte mich langsam aber sicher verrückt.
„Aber was hat das alles mit mir zu tun?“ sprach ich laut aus und sah alle nacheinander an. Niemand erklärte mir weiter, was es damit auf sich hatte. Was das alles bitteschön mit mir zu tun haben sollte. Die Stimmung wurde zusehends drückender.
Doch statt einer Antwort kam nur eine Frage von Liam. „Kannst du dich schon an irgendwas aus deiner Vergangenheit erinnern? Was passiert ist, oder an irgendein Gefühl, bevor du im Krankenhaus zu dir gekommen bist?“
Ich erstarrte und eine Gänsehaut machte sich auf meinem ganzen Körper breit. Woher wusste er das? Nur Sara und Frank wussten davon, dass ich meine Erinnerungen verloren hatte. Ansonsten war keiner da, der davon wissen könnte.
„Kannst du dich an irgendetwas davor erinnern?“, fragte er mich noch einmal nachdrücklicher, sein Blick auf mich konzentriert.
Fürs erste gab ich mich mit der Vermutung zufrieden, dass die beiden es ihm erzählt hatten. Ich würde schon noch herausfinden, was er und die anderen von mir wollten.
„Nein. Ich weiß nur das, was mir die Polizei erzählt hat. Dass ich überfallen und mit einer stark blutenden Kopfwunde hingebracht worden bin.“
Liam blickte leicht gequält drein. Nur was wollten er von mir jetzt genau? Und warum schaute er so aus, als ob ihm die Antwort nicht gefallen würde? Sie ihm schmerzte?
„Kommt dir an der Geschichte irgendetwas bekannt vor?“, kam die nächste Frage von ihm.
Ich sah, wie seine Kiefern zu arbeiten begannen. Knirschte er etwa mit den Zähnen? Aber warum bitte, stellte er hier die Fragen? War es nicht eigentlich meine Rolle hier Fragen zu stellen? Ich war sicher im falschen Film.
Auch wenn sich in mir bei seinem Anblick und der Geschichte etwas im Kopf zu regen begann, so log ich sie doch alle an.
„Nein. Was hat das jetzt mit mir zu tun?“
Um einer erneuten Frage von ihm zu entgehen, wandte ich mich Sara und Frank zu.“ Und was habt ihr beide,“, ich deutete mit den Fingern sie, „damit zu tun?“
Für mich passten die beiden noch immer nicht in diese Angelegenheit. Alles um mich herum verwirrte mich immer mehr. Keiner wollte so richtig mit der Sprache rausrücken und meine Gefühle fuhren Achterbahn. Einerseits fürchtete ich mich vor dem, was noch auf mich zukam, zugleich fühlte ich mich in ihrer Gegenwart wohl. Allen voran bei Liam. Aber auf das konnte und wollte ich momentan nicht näher eingehen.
„Alexa“, sprach mich jetzt Sara an, „Deine Mutter war ein normaler Mensch. Dein Vater war jedoch ein Besonders Begabter. Dein Vater tat alles, um euch beide zu beschützten. Doch der Rat hatte es herausgefunden und wusste, wo ihr euch versteckt hielt. Tom, ein Freund deines Vaters, der in nur kurz davor warnen konnte, kam nicht mehr rechtzeitig an, um ihnen zu helfen. Aber er konnte dich noch lebend herausholen, nachdem die Wächter sie getötet und ihr Haus angezündet hatten.“
Langsam aber stetig bekam ich Kopfschmerzen. Ich rieb mir mit beiden Händen über meine Schläfen. Konnte ich das wirklich glauben?
„Du warst damals knapp eineinhalb Jahre alt, und den Göttern sei Dank, hatten dich die Wächter nicht weiter beachtet und ohne dich auch nur anzusehen zurückgelassen. Da du bis dahin noch keinerlei Anzeichen einer Begabung gezeigt hast, die zeigen sich meist vor dem ersten Lebensjahr, konnte Tom dich ruhigen Gewissens vor einem Krankenhaus ablegen. Du fandest schnell eine liebevolle Pflegefamilie, die dich liebten wie ihr eigenes Kind.“
Man hörte Sara an, dass es sie auch noch nach all den Jahren schmerzte. Ihre Stimme klang zum Schluss erstickt. Jetzt fuhr Frank fort. Auch seine Stimme klang belegt.
„Ich und Sara waren gut mit deinem Vater, wie auch mit deiner Mutter, befreundet. Es traf uns hart, als wir von den tot deiner Eltern erfuhren. Wenn wir auch nur hätten Ahnen können, dass der Rat euch aufgespürt hatte, wir wären niemals so weit weggefahren und ihnen helfen können.“ Jetzt glitzerten nicht nur bei Sara die Tränen in den Augen. Auch Frank kämpfte mit sich. „Wegen unserer Gesetzte, war es uns unmöglich, dich zu uns zu nehmen.“
Meine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Wie zuvor regte sich etwas in meinem Kopf, zugleich war es mir gerade herzlich egal. Mein Schädel pochte nun so stark, das ich nicht anders konnte und mich mit einer knappen Entschuldigung in das Zimmer zurückzog, in dem ich aufgewacht war. Zum Glück folgte mir niemand. Spürte nur Blicke in meinen Rücken. Mir war im Augenblick alles zu viel. Ich wollte nur mehr meine Augen schließen und die letzten Stunden vergessen.