"Meinst du es war richtig, sie einfach so zurückzulassen?" Es hatte seine Zeit gedauert, bis Dean die ersten Zweifel darüber gekommen waren, dafür äusserten sie sich nun umso deutlicher.
"Klar. So hätte sie eh nicht weitergekonnt. Du weisst genau so gut wie ich, dass sie nach uns suchen werden, dann finden sie sie schon." Mittlerweile hatten die beiden ihr Tempo gedrosselt. Es war kurz vor sieben, sie waren also schon eine ganze Weile herumgeirrt und der Kick des Verbotenen war etwas verflogen.
"Stimmt schon. Aber apropos finden... Meinst du nicht, wir sollten uns vielleicht auch mal auf den Rückweg machen?" Dean war noch nicht so weit, dass er behaupten würde verängstigt zu sein, doch das was er hatte sehen wollen hatte er gesehen- seit einiger Zeit waren sie nämlich in Gängen gelandet, in denen es wieder Knochen gab und diese waren weit weniger sorgfältig übereinandergestapelt als in dem Teil der Katakomben, den sie an diesem Nachmittag besichtigt hatten.
"Sag mir jetzt bloss nicht, du hast Schiss?"
"Nein verdammt, aber wir sind seit über vier Stunden hier und für den Rückweg brauchen wir bestimmt ebenso lang. Wenn nicht noch länger, dachte er für sich. "Sei doch nicht so eine Memme", begann Chantall, sprang Dean jedoch schon in der nächsten Sekunde um den Hals, als ein Geräusch zu hören war. Einer der Schädel hatte sich aus dem Haufen vor ihnen gelöst und kullerte den Steinboden entlang, ehe er, von der Wand aufgehalten wurde und dort reglos liegen blieb.
"Das sagt die Richtige", feixte Dean, wenngleich auch sein Herz sicherlich mehr als nur einen Schlag ausgesetzt hatte. Aber zumindest war Chantall nun einiges bereitwilliger, den Rückweg anzutreten. Zumal sie die Akkus ihrer Handys nicht gerade geschont hatten. Ihm selbst blieben noch zwanzig Prozent und er war sich nicht sicher, ob das für den Rückweg reichte. Es musste einfach.
Für einige Zeit gingen sie schweigend nebeneinander her. Dean fühlte sich beobachtet- und zwar nicht von Chantall, die hatte den Blick nämlich genau wie er mehrheitlich auf den Boden gerichtet, damit ihnen nicht dasselbe widerfuhr wie Rachel. Bei der ersten Abzweigung zeigte sich dann, wie Orientierungslos die beiden wirklich waren. Während Dean zielstrebig nach links abbog, sah er aus dem Augenwinkel, wie Chantall nach rechts abbiegen wollte. "Hier geht's lang", maulte er. "Nein du Idiot, wir sind aus dieser Richtung gekommen", beharrte auch Chantall. Und wenn er ehrlich war, konnte sie genauso gut Recht haben wie er. Ob sie es sich eingestehen wollten oder nicht, sie hatten sich komplett verirrt.
"Wir sollten uns aufteilen", schlug sie vor. "Irgendeiner von uns wird den richtigen Weg schon finden und kann den Rettungskräften dann vielleicht den Weg etwas besser erklären."
"Und der andere irrt hier umher bis er verhungert oder wie?" Dean gab sich alle Mühe, die Panik aus seiner Stimme herauszuhalten, aber langsam wurde ihm wirklich unbehaglich zu Mute.
"Hast du eine bessere Idee?", gab sie bissig zurück. Natürlich hatte er keine.
So ging also jeder der beiden ihrer Wege und Dean versuchte sich einzureden, dass dies wirklich die beste Lösung war.
Da er ohnehin nicht mehr wusste, wo er hergekommen war, entschied er sich bei den Abzweigungen instinktiv für diejenigen Gänge, welche ihm einladender erschienen. Was recht schwer war, den wirklich einladend wirkte keiner davon. Mit der Zeit begann er sich gar einzubilden, dass die Schädel sich ihm zuwandten und ihn beobachteten. Trotzdem zwang er sich zur Ruhe, wenngleich er seine Schritte beschleunigte. Immer wieder hörte er Geräusche, manchmal hörte es sich an wie ein Starker Windstoss, der an den Wänden entlangschrammte, manchmal wie ein Flüstern aus weiter Entfernung. Irgendwann war ihm dermassen unwohl, dass er zu rennen begann.
"Wo willst du denn so schnell hin, Kleiner?" Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. Eine rauchige, tiefe Frauenstimme erklang direkt neben seinem rechten Ohr. Ein eisiger Schauer durchlief seinen Körper. Wie konnte das sein? War das eine andere Besucherin der Katakomben, die ihnen hineingefolgt war? Ja, so musste es sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. Aber warum hatte er dann ihre Schritte nicht gehört?
Als er sich umdrehte, sah er sich jedoch keiner Frau, sondern einem Schädel gegenüber- unter dem sich ein gesamtes, zusammengesetztes Skelett befand, das nicht so einfach hätte dastehen dürfen. Geschweige denn eine Hand auf seine Schulter legen.
"Alles in Ordnung? Du wirkst etwas blass..." Er spürte, wie er sich einnässte. Wie gelähmt stand er da, nicht fähig zu schreien, oder sich auch nur zu bewegen. Von der Stelle aus, an dem das Skelett ihn berührte, begann sich eine eisige Kälte auszubreiten. Sein Arm wurde taub.
"Ich sehe schon, du weisst wohl gar nicht welcher Tag heute ist?" Dean wusste im Moment nicht einmal mehr, welches Jahr sie gerade hatten. Verdammt, ein sprechendes Skelett stand vor ihm!
"Wir haben heute Samhain", erklärte die Frau- oder das Ding, das wahrscheinlich einmal eine Frau gewesen war. "Heute sind die Grenzen zwischen den Lebenden und den Toten verwischt, was es uns möglich macht, mit euch zu kommunizieren. Nunja, jedenfalls wir hier, die einfach so liegen gelassen wurden. Die anderen von uns, die auseinandergenommen wurden, haben nicht so viel Glück. Es ist gar nicht so einfach, alle Knochen wieder zusammenzusetzen, das kannst du mir glauben." Endlich schaffte es Dean, genug viel seines verbliebenen Verstandes zusammenzuraufen, die Beine in die Hand zu nehmen und einfach loszurennen.
Hals über Kopf nahm er jede Abzweigung, die er nur erwischen konnte. Dabei gab er tunlichst darauf acht, nicht nach rechts oder links, sondern nur auf den Boden direkt vor sich zu blicken. Bis er auf einmal gegen etwas hartes prallte. Es war nicht die Steinwand, denn er brach einfach so hindurch, auch wenn es verdammt schmerzhaft war.
Dean hob dem Blick und sah, was seinen Lauf gebremst hatte. Ein weiteres Skelett, das durch die Wucht seines Aufpralls in sich zusammengefallen war. Doch der Knochenhaufen blieb nicht einfach so am Boden, nein, Es begann sich selbst wieder zusammenzusetzen. Von unten nach oben, bis die frei schwebenden Arme zuletzt den Kopf draufsetzte und zurechtrückte. "Die Jugend von heute, einfach keinen Respekt mehr..." Er drehte sich um und wollte zurückrennen, doch da waren schon die beiden nächsten Skelette. Ausserdem begann die Taubheit, welche die Berührung der Frau ausgelöst hatten, auf den Rest seines Körpers überzugreifen. Das Bewegen fiel ihm immer schwerer. "Jetzt warte doch mal. Wir hatten hier schon lange keinen Neuling mehr, das muss richtig gefeiert werden", meinte ein drittes Skelett zu seiner linken.
"Lasst mich", schrie Dean. Er umklammerte seinen Kopf und sank auf die Knie, einfach, um diesen Wahnsinn nicht mehr ansehen zu müssen. Schluchzend rollte er sich auf dem Boden zusammen und wartete auf sein Ende. Doch so viel Glück hatte er nicht.