Ohne es zu wollen war Carrie kurz eingenickt. Obwohl- oder vielleicht gerade weil ihr Schlaf nicht tief war, träumte sie schlecht. Im Nachhinein konnte sie nicht mehr sagen, von was ihr Traum gehandelt hatte, doch als Angela sie wachrüttelte, war sie mehr als nur dankbar. Schweissperlen hatten sich auf der Stirn des Mädchens gebildet und sie brauchte einige Momente um sich zu erinnern, wo sie sich befand. Und vor allem warum sie sich hier befand.
Es kam Leben ins Sanitätsteam. Aus dem Inneren der Höhle erklangen Schritte und kurz darauf traten ihnen vier Mitglieder des Suchtrupps entgegen, zwischen sich auf einer Bahre lag Rachel. Derjenige Teil, ihres Gesichts, der nicht von Blut überzogen war, wirkte totenblass.
"Rachel!" Ohne daran zu denken, dass dies für allfällige Verletzungen sicher nicht förderlich war, stürzte sie auf ihre bewusstlose Freundin zu und rüttelte an ihrer Schulter. "Rachel!" Tränen rannen ihre Wange hinab und tropften auf Rachels Gesicht, wo sie sich schliesslich mit dem Blut vermischten. Es war ihre Schuld. Sie hätte Rachel niemals alleine lassen dürfen.
Sanft aber bestimmt zogen die Sanitäter sie von der Bahre weg.
"Wir werden uns um sie kümmern. Aber wenn du willst, kannst du sie ins Krankenhaus begleiten. Es wäre sicher gut, wenn jemand bei ihr ist, den sie kennt." Sie nickte entschlossen. Chantall und Dean konnten von ihr aus hier unten versauern. Natürlich hatte Rachel die Höhle freiwillig betreten, aber ohne den Anstoss durch die beiden wäre das niemals passiert.
Wie in Trance folgte sie den Sanitätern und kehrte erst in die Realität zurück, als sie ihren Namen hörte. Gekrächzt und sehr leise, aber doch ihr Name. "Gottseidank", seufzte sie und umklammerte Rachels Hand als wäre sie diejenige, die Halt benötigte und nicht umgekehrt.
"Sind sie weg?" Carrie war verwirrt.
"Chantall und Dean? Die haben sie noch nicht gefunden." Das Piepsen des Monitors beschleunigte sich.
"Nein, ich meine die Skelette." Sie wurde nicht recht schlau aus Rachels Worten. Wahrscheinlich war das der Schock. Sie versuchte sich an einem beruhigenden Lächeln. "Wir sind im Krankenwagen. Du wirst so schnell keine Skelette mehr zu sehen bekommen, glaub mir."
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Fünf Jahre später
Gähnend streckte sie sich und genoss die angenehme Wärme ihres Bettes. Umso mehr, da sie hörte, wie der Herbstwind an den Fensterläden zerrte und ein Heulen verursachte. Schon morgen begann der November.
Immer noch schlaftrunken tapste Carrie in die Küche, wo sie schon der Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee empfing. Auf Rachel war einfach Verlass. Sie bereute es kein Stück, ihre beste Freundin als Mitbewohnerin auserkoren zu haben.
"Morgen." Sie erhielt keine Antwort, Rachel war in ihrer ganz eigenen Welt. Wer konnte es ihr verübeln? Heute war Halloween und auch wenn Rachel viele Fortschritte in ihrer Therapie gemacht hatte, an diesem Tag wurde sie von ihren Erinnerungen eingeholt. Genau deshalb hatte Carrie heute auch frei genommen um ihrer Freundin beizustehen. Nach den Geschehnissen in den Katakomben war sie nie wieder dieselbe gewesen. Als sie Geschichten von sich bewegenden Skeletten erzählt hatte, hatte man es auf das Schädel-Hirn-Trauma geschoben und irgendwann hatte Rachel es aufgegeben, den Leuten die Wahrheit erzählen zu wollen. Niemand glaubte ihr. Niemand, ausser Carrie.
Der Einzige, der vielleicht in der Lage wäre Rachels Erzählungen zu bezeugen, war Dean. Man hatte ihn vier Tage nach seinem Verschwinden aufgefunden, lebend. Jedenfalls körperlich. Geistig war er nie aus den Katakomben zurückgekehrt und befand sich seit jenem Tag in einem Wach-Koma. Einzig Chantalls Leiche blieb bis heute verschollen.
Sie legte Rachel eine Hand auf die Schulter. Die junge Frau zuckte kurz zusammen, lächelte ihre Mitbewohnerhin dann aber dankbar an. "Du weisst, dass du wegen mir nicht hierzubleiben brauchst."
"Machst du Witze? Du würdest doch dasselbe auch für mich tun." Sie wusste nicht, ob ihre Freundin das Trauma je ganz überwinden wurde, aber wenigstens war sie am Leben.
Einige stunden später in Paris
François langeweilte sich zutiefst. Wusste der Teufel, was seine Eltern dazu geritten hatte, die Katakomben zu besuchen. Sie wohnten nur etwa eine Fahrtstunde ausserhalb von Paris, da hätten sie ich nicht extra mitschleppen müssen. Ohne jegliche Motivation schlurfte er hinterher, war mittlerweile auch ein gutes Stück hinter seinen Eltern zurückgefallen.
Ein eisiger Windhauch liess ihn innehalten. Er warf einen Blick nach rechts und links. Zu seiner Rechten befanden sich aufgetürmte Knochen, zu seiner Linken eine vergitterte Tür. Neugierig machte er einen Schritt darauf zu. Vor ihm in der Dunkelheit glaubte er, eine Bewegung zu sehen. Er rüttelte an den Gittern, doch das Tor blieb verschlossen. Enttäuscht zog er von dannen und sah daher auch nicht das Skelett, welches sich nur kurz darauf aus den Schtten löste und sich am Gitter festklammerte. "Lasst mich raus!"