Ihr Herz hämmerte ihr bis zum Hals und sie musste aufpassen, vor lauter Aufregung nicht noch zu stolpern. Dean und Chantall hatten aber auch ein beachtliches Tempo drauf. "Macht mal etwas langsamer, sonst sehen wir ja gar nichts." Chantall schnaubte verächtlich. "Wir müssen dafür sorgen, dass wir so weit wie möglich kommen, bevor deine Busenfreundin uns verpetzt." Rachel war klar, dass dies der Wahrheit entsprach, allerdings hatte sie eigentlich sowieso nicht vorgehabt, den beiden so weit hinein zu folgen. Mittlerweile waren sie mehrmals abgebogen und sie konnte nicht mehr mit Sicherheit sagen, in welche Richtungen. War es rechts, rechts, links gewesen? Oder doch rechts, links, links?
Während sie sich alle Mühe gab, den eingeschlagenen Weg im Gedächtnis zu halten, achtete sie zu wenig auf ihre Umgebung, was sich mit einem Mal schmerzhaft rächte. Sie trat auf einen Stein und knickte um. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Knöchel und sie zog scharf die Luft ein, während sie im Staub landete. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Weiter konnte sie so jedenfalls nicht. Erst als sie den ersten Schock überwunden hatte merkte sie, dass ihre Klassenkameraden sich nicht mal nach ihr umgedreht hatten. "Wartet!", rief sich den beiden hinterher, während ein erster Anflug von Panik in ihr aufstieg. Die konnten sie doch nicht einfach so liegen lassen. "Wir holen dich auf dem Rückweg ab!", rief Dean und bestätigte damit ihre schlimmste Befürchtung. Dann waren die beiden auch schon hinter der nächsten Abzweigung verschwunden und sie alleine, mit verstauchtem oder gar gebrochenem Knöchel in den Katakomben von Paris.
Fluchend lehnte Rachel sich gegen die Wand direkt hinter ihr- nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es dort keine Knochen gab. Mit der Taschenlampe ihres Handys leuchtete sie die Umgebung ab. Dieser Abschnitt der Höhle ähnelte dem Beginn der Katakomben. Es war ein gewöhnlicher Gang ohne Knochen, aber mit deutlich mehr Geröll. Sie stellte sich vor, wie eine der Wände einstürzte und ihr den Rückweg abschnitt. Das wäre ihr Tod... Getrieben von diesem Gedanken erhob sie sich, auch wenn der Schmerz als sie versuchte ihr Bein zu belasten ihr fast den Atem raubte. Mit der Wand als Stütze humpelte einen Teil des Weges zurück, bis sie zur ersten Abzweigung kam. Dann wurde sie auf einmal in vollkommene Dunkelheit gehüllt und ihr Herz setzte eine gefühlte Ewigkeit aus. Entgeistert starrte sei auf ihr Smartphone, dessen Display vom Sturz zwar einen Spalt hatte, das aber immer noch lief. Der Akku war auf 5% gesunken, weshalb alle besonders stromfressenden Funktionen eingestellt wurden. Wie hatte sie nur so unachtsam sein können? Immer hatte sie ihr Smartphone aufgeladen, immer. Und nun, am wohl ersten Tag in ihrem Leben, an dem sie ernsthaft darauf angewiesen war, liess die Technik sie im Stich. Dabei war sie doch so sicher, das Handy die ganze Nacht über geladen zu haben...
Sie wählte Carrie aus ihrer Kontaktliste aus, in der absurden Hoffnung, ihre beste Freundin erreichen zu können. Doch natürlich hatte sie keinen Empfang. Da es sonst völlig dunkel war, hätte der Display an sich ausgereicht, um die grössten Unebenheiten auf dem Boden sichtbar zu machen. Doch wenn sie nun die falsche Abzweigung nahm, verirrte sie sich nur noch weiter. Ohne es zu wollen begann sie zu schluchzen. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie eine solche Angst gehabt.
Um alles nur noch schlimmer zu machen, hörte sie hinter sich etwas. Es war ein klackern, als würde etwas langsam aber beständig näher kommen. Langsam und die Luft anhaltend drehte sie sich um. Dean und Chantall waren es sicher nicht, denn das Geräusch hörte sich nicht nach Schuhen an. Mit dem Display in der Hand suchte sie die Umgebung ab- und bemerkte einige Meter hinter sich eine Bewegung. Waren es doch Dean und Chantall? Die Grösse und Form wirkten jedenfalls menschlich. Von der Grösse her müsste es Dean sein. Er kam näher, so nahe, bis sie selbst im Diffusen Licht erkannte, dass es sich nicht um ihren Schulkameraden handelte. Es war ein Skelett, dessen Augenhöhlen sie anstarrten, obwohl sich keine Augen mehr darin befanden. Zuerst befand sie sich in einer Schockstarre, doch dann streckte es die Hand nach ihr aus und ihr Überlebenswille übernahm wieder die Oberhand.
Ein Schrei entwich ihrer Kehle und sie drehte sich in Todespanik um, damit sie möglichst schnell möglichst viel Abstand zwischen sich und diesen Albtraum bringen konnte. Dabei hatte sie ihren verletzten Knöchel vor lauter Schreck völlig ausgeblendet. Dieser schmerzte nicht nur wie die Hölle, beim ersten Abtreten gab er nach. Als Rachel diesmal stürzte, konnte sie sich nicht mehr rechtzeitig abfangen, weshalb ihr Kopf ungehindert auf einen Stein krachte. Die Dunkelheit wurde vollkommener, die Panik löste sich auf.
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Angelina war - freundlich ausgedrückt- etwas in Aufruhr. Wut und Sorge kämpften in ihr um die Oberhand. Eine jugendliche Dummheit zu begehen, das war eine Sache. Sachbeschädigung und einen gross angelegten Sucheinsatz auszulösen etwas anderes. Einmal davon abgesehen, dass sie die Verantwortung für die Klasse trug. Selbst, wenn die Schule und die Eltern ihr keine Vorwürfe machten, sie selbst tat es schon zur Genüge. Aber wer konnte auch ahnen, dass die drei eine Stahltür aufbrechen und sich dann auch noch verlaufen würden?
Sie atmete tief durch und rieb sich die Schläfe. Ändern konnte sie jetzt sowieso nichts mehr daran.
"Du siehst nicht gut aus. Soll ich übernehmen?" Nachdem sie gemerkt hatte, dass sie alleine nicht mehr Herr der Lage werden würde, hatte sie Herrn Hendrick angerufen. Immerhin war er der Klassenlehrer und so lange er nicht in die Engen Gänge hinabsteigen musste, kam er fast mit jeder Situation klar.
"Vielleicht wäre es gut, wenn du die restlichen Schüler in die Jugendherberge zurückbringst. Ich gehe gleich nochmal runter und warte mit den Rettungskräften." Sie selbst hätte ohnehin keine Ruhe gefunden, also konnte sie auch gleich hier warten.
"Ich komme mit." Carrie war entschlossen und Angelina schätzte ihre Courage, war sich aber nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee war. Auf der anderen Seite war Carrie dabei gewesen und vielleicht hatten der Suchtrupp noch Fragen an sie.
"In Ordnung." Als die Schülerin ihr berichtet hatte, was da unten vorgefallen war, hatte sie es erst gar nicht so recht glauben wollen. Natürlich hatte sie gewusst, dass es gewisse Problemschüler gab, doch so etwas hätte sie keinem von ihnen zugetraut. Auch dass Rachel sich in die Sache mit hatte hineinziehen lassen, überraschte sie doch sehr.
Einige der anderen Schüler maulten, sie sahen das noch immer als eine interessante Attraktion und nicht als die ernste Situation, die es war. Jedenfalls alle bis auf Carrie. Auch Deborah zog eine Schnute, aber wahrscheinlich nur, weil sie bei der kleinen "Exkursion" nicht dabei sein konnte. Auch Steve wollte mitgehen, vor allem um Carrie zur Seite zu stehen. Doch je weniger Schüler dort unten waren, desto besser konnten die Rettungskräfte ihre Arbeit machen.
"Sobald wir wieder oben sind, schreibe ich dir", versprach Carrie, ehe sie der schon etwas ungeduldigen Schulsozialarbeiterin folgte.
Mit jeder Treppenstufe die sie wieder hinabstiegen, wurden die Stimmen hinter ihnen leiser bis sie schliesslich ganz verstummten. Weder Angelina noch Carrie sprachen ein Wort, bis sie die aufgebrochene Tür erreichten, vor der vier Sanitäter warteten. Man wollte ja nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen, aber bei einer Bergungsaktion war es nunmal Standard, dass ein paar Sanitäter vor Ort waren.
In Carries Fall vielleicht ganz gut so, die Siebzehnjährige war doch etwas blass um die Nase. Das sah wohl auch einer der Sanitäter so, der ihnen beiden sogleich je eine Wärmedecke reichte. Angelina blickte auf ihre Uhr- diese zeigte 17:23. Wie lange sie hier wohl ausharren mussten?