Kalte Luft strich über meine Haut. Langsam atmete ich sie ein, lies sie jeden Millimeter meines Körpers ausfüllen, bis ich sie schließlich wieder ausatmete.
Blinzelnd öffnete ich meine Augen. Helle Lichter leuchteten wie Glühwürmchen auf dem schwarzen Flies der Nacht. Hier über den Dächern der Stadt fühlte ich mich frei. Nirgends sonst in der beklemmenden Enge der Stadt war das möglich.
Ich hasste sie und vor allem diese Enge.
Seufzend stützte ich mich mit den Armen am Geländer ab. Eigentlich war ich hier raufgekommen, um der Enge des Rebellenstützpunktes und vor allem den Gedanken an das seltsame Mädchen zu entkommen, doch auch hier war es mir nicht möglich meine Gedanken zu ordnen. Schon wieder geisterte sie durch meinen Kopf. Seit drei Tagen war sie auf der Krankenstation und scheint sich nur sehr langsam zu erholen so viel ich den Berichten der Heiler entnahm. Bisher hatte ich es vermieden die Krankenstation aufzusuchen, aber lange würde ich es nicht mehr aufschieben können.
Sie hat ein Löwenherz, dachte ich bei mir. Sie ist eine Kämpferin und sie wird wieder gesund werden. Da war ich mir vollkommen sicher.
Das Mädchen war wirklich zäh, das musste ich zugeben. Andere wären schon früher K.O. gegangen, doch sie hatte durchgehalten. Nicht zu vergessen: die neun Rebellenführer, die sie getötet hat, dachte er. Sie ist gefährlich, das wusste ich und doch gab es da etwas das mich an ihr glauben lies. Sie hat es für ihr Mutter getan, überlegte ich. Was würde sie noch alles aus Liebe tun? Würde sie es noch einmal probieren? Alles Fragen auf die ich keine Antwort wusste.
Mir wird nichts anderes übrigbleiben. Seufzend wandte ich mich von den Lichtern der Stadt ab und öffnete die alte knarrende Tür, die zum Dach führte. Schwaches Licht erleuchtete das enge Treppenhaus. Eine schmale Eisentreppe wandte sich nach unten. Unter jedem meiner Schritte knarrte die Treppe.
Das Rebellenhauptquartier war ein altes verlassenes Fabrikgebäude, in dem vor über hundert Jahren Medikamente hergestellten wurden, bis Fox Enterprises mit ihrem Health Center auch diesen Markt übernommen haben. Ihre Konkurrenz schluckten sie gnadenlos. Es hieß sogar der Eigentümer hätte sich in diesem Gebäude erhängt und sein Geist würde immer noch hier rumspucken. Zum Glück glaubte ich nicht an solche Schauergeschichten.
Jedes Kind kannte die Geschichte von Paradise City. Vor über zwei Hundert Jahren gelang es Wissenschaftlern der Fox Group ein Mittel gegen die meisten Viruskrankheiten zu finden. Es war ein Durchbruch in der Medizin. Die Medien stürzten sich auf diese Neuigkeit wie Aasgeier. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer über den ganzen Erdball verbreitet. Der erste Schritt zur Unsterblichkeit war getan. Dass das vermeintliche Wundermittel bisher noch in der Testphase war hatten die Wissenschaftler in der Eile vergessen zu sagen.
Nach einer Weile zeigten sich bei den ersten Patienten, die den Impfstoff injiziert bekommen hatten, erste Symptome. Es begann mit Schlaflosigkeit und endete mit Wahnsinn. Eilig wurde der Katastrophenzustand ausgerufen und alle noch nicht infizierten wurden evakuiert. Die Mauer wurde gebaut, ein zehn Meter hoher Eisenkäfig durch den Starkstrom geleitet wird. Jeder der ihn berührt, ist auf der Stelle Tod. Das Zeitalter von Paradise City begann.
Verwirrt blieb ich plötzlich stehen als ich erkannte wohin meine Beine mich getragen haben: ich stand vor der Tür zum Krankenflügel.
Unentschlossen trat ich von einem Bein auf das andere. Ich wusste das es Zeit für einen Besuch war und doch war es als würde ich gegen eine unsichtbare Wand laufen. Ich fühlte mich auf eine seltsame Art und Weise schuldig ihr diese Schmerzen bereitet zu haben obwohl sie mich zuerst töten wollte.
An diesem Tag war ich früher als sonst in meine Räume zurückgekehrt. Als ich die Tür aufschloss wusste ich schon das irgendetwas nicht stimmte. Anders als meine Gewohnheit war die Tür nur einmal verschlossen. Nach dem Mord an den anderen Rebellenführern hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht die Tür zweimal zu verschließen und das auch immer zu überprüfen.
Als die Tür also nach nur einer Drehung des Schlüssels aufsprang war ich sofort in Alarmbereitschaft. Vorsichtig zog ich mein Messer aus seinem Versteck und öffnete langsam die Tür. Angespannt lauschte ich in die Stille. Leise Schritte ertönten aus dem angrenzenden Raum das mein Schlafzimmer war. Ich machte mir nicht die Mühe leise zu sein und trat in den Raum. Die Tür lies ich hinter mir mit einem lauten krachen in das Schloss fallen.
Vorsichtig trat ich zur Schlafzimmertür und stieß sie mit der Schulter auf. Im Zimmer war es dunkel. Angespannt trat ich in das Zimmer ohne Licht zu machen. Durch das Fenster fiel dämmriges Mondlicht auf mein Bett. Ich ließ meinen Blick langsam durch den Raum gleiten und lauschte. Ein Schatten huschte an meinem Augenwinkel vorbei. Ich drehte mich blitzschnell in die Richtung des Schattens und packte das Handgelenk meines Angreifers. Mondlicht fiel auf eine mehrere Zentimeter lange filigrane Klinge, die gefährlich nahe an meiner Pulsader schwebte. Mein Blick fiel auf meinen Angreifer der geschätzte zwanzig Zentimeter kleiner war als ich und auch sonst zierlich wirkte. Er trug schwarze Kleidung und eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze. Seine Hände hatte er in schwarze Handschuhe gesteckt, was einerseits intelligent, aber auch ziemlich dumm war. Ich verstärkte den Griff um sein Handgelenk. Ein ächzen drang an mein Ohr als auch schon ein Knie nach oben schoss. Blitzschnell drehte ich mich, trat ihm das Bein weg und stieß ihn von mir. Hart prallte er mit der Schulter voran auf den Boden. Das Messer war ihm aus der Hand gefallen. Scheppernd fiel es auf den Boden. Ein weiteres ächzen entglitt meinem Gegner als er sich mühsam aufrappelte. Es war eine seltsam hohe weibliche Stimme. Langsam regte sich in mir der Verdacht das mein Angreifer gar kein Mann war. Das war doch nicht möglich? Könnte Fox wirklich so blöd sein und eine Frau schicken.
Ich stieg über ihn und trat meinem Gegner in die Rippen. Durch die Wucht meines Tritts fiel die Kapuze nach hinten und gab das Gesicht meines Angreifers preis, der mit schmerzerfülltem Gesicht nun auf dem Boden kauerte und sich die Seite hielt. Ich kauerte mich über ihr und hielt sie an beiden Armen fest. Nun hatte ich keinen Zweifel mehr: Mein Angreifer war ein junges Mädchen.
Im Schein des Mondes erkannte ich einen langen braunen Zopf, aus dem sich Strähnen gelöst hatten. Ihr Gesicht war schneeweiß vor Schmerzen. Ihre Unterlippe war aufgesprungen und Blut lief über ihr Kinn. Als sie röchelnd ihre Augen öffnete strahlten mich zwei bernsteinfarbene Augen hasserfüllt an. Doch ich erkannte noch etwas anderes darin: Angst.
Ich ließ meinen Blick weiter über meine Angreiferin schweifen. Ich schätzte sie auf höchstens zwanzig. Mein Blick fiel auf die Rundung ihrer Brüste, die sich unter der schwarzen Kapuzenjacke vorwölbte und sich bei jeder ihrer Atemzüge sich mir entgegen wölbte.
Völlig abgelenkt von meiner Entdeckung bemerkte ich zu spät das Knie, das sie mir in die Weichteile trat. Zischend zog ich die Luft ein. Sterne tanzten vor meinen Augen. Der Schmerz zog in Wellen durch meinen Unterleib.
„Verdammt" zischte ich und gab ihr mit dem Handrücken eine schallende Ohrfeige. Das Mädchen fiel krachend zu Boden. Erst jetzt bemerkte ich das ich immer noch mein Messer in der Hand hielt. An der Klinge klebte eine dunkle Flüssigkeit. Als ich sie ins Licht des Mondes hielt glänzte sie scharlachrot. Ich betrachtete wieder den Körper meiner Gegnerin die sich benommen unter mir regte und vor schmerzen stöhnte. Ihre linke Schulter fiel mir ins Auge.
Die schwarze Kapuzenjacke war auf höhe des Schlüsselbeines nass. Ich öffnete den Reißverschluss der Jacke und gab die Stelle frei. Das schwarze T-Shirt war voll Blut und löste sich nur schwer von der Wunde. An der Stelle wies das Shirt einen Schnitt auf. Als ich es anhob, um die Stelle zu betrachten, schrie das Mädchen vor schmerzen und öffnete die Augen.
Rufe und schritte drangen nun an mein Ohr. Ich bückte mich zu ihr. Sie atmete stoßweise. Ihr warmer Atem strich über meine Wange.
„Das war nicht sehr schlau, Mädchen" flüsterte ich ihr ins Ohr bevor die Wachmänner in das Zimmer traten und ich aufstand. Das Licht ging an und ein Bild der Verwüstung offenbarte sich uns. In mitten dieser lag ein Mädchen in einer großen Blutlache.
Zitternd lag sie auf den Boden und blickte zu uns hoch. Ihre Augen huschten von einem Gesicht zum anderen.
„Was ist passiert?" wollte Blake, der Hauptmann der Wache wissen.
„Ich habe dieses Mädchen in meinem Zimmer erwischt" einen Moment ruhte mein Blick auf ihrem Gesicht. Sollte ich die Wahrheit sagen? dachte ich. Sie wäre zum Tode verurteilt, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Sie wollte dich töten. Sie ist eine Mörderin, sagte eine weitere harte Stimme. Aber sie ist doch noch so jung, flehte die andere Stimme. Es muss einen Grund geben.
Ich schluckte schwer. „Bringt sie in mein Büro. Ich will mit ihr sprechen bevor ich mich entscheide was mit ihr geschieht," befahl ich und drehte mich zur Tür.
Hinter mir hörte ich einen schmerzvollen Aufschrei als sie sie auf die Beine zogen. Ich ging, ohne mich umzudrehen voraus.
Seufzend kehrte ich wieder ins diesseits zurück. Meine Hand hatte sich um den Türgriff geschlossen. Ich habe mich entschieden, beschloss ich und stemmte die Tür auf.
Mit pochendem Herzen ging ich durch den Gang des Krankenflügels. Die Rohrlampen über mir zischten und flackerten. Der Geruch von Krankheit und Desinfektionsmittel stieg mir in die Nase.
Das Zimmer am ende des Ganges hat man mir gesagt. Dort lag sie. Vor der Tür erkannte ich sofort die Wache. Seine Haut hatte dieselbe Tönung. Sein Gesicht war runder, doch von den Haaren bis zu den Augen waren wir uns erschreckend ähnlich. Er nickte als ich näherkam.
„Wie geht es ihr?" frug ich ohne umschweife und warf einen Blick über seine Schulter.
„Sie lebt" antwortete Jamie und drehte sich nun ebenfalls zur Glastür. „Sie bekommt starke Schmerzmittel. Sei also nicht verwundert wen sie immer wieder das Bewusstsein verliert" warnte er mich vor.
Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und nickte bevor ich leise die Tür öffnete.
Ihre Augenlider flackerten als ich nähertrat. Schneeweiß war ihre Haut so dass sie kaum von dem Bettzeug zu unterscheiden war. Doch ihr Atem ging regelmäßig und nicht mehr stoßweise und der Monitor neben ihrem Bett zeigte regelmäßige Herztöne.
Ich Griff nach der Hand die locker an ihrer Seite lag. Sie war warm. Ich spürte wie mein Herz einen Sprung machte. Auch die Kurve auf dem Monitor wurde unregelmäßiger als würde ihr Herz schneller Schlagen.
Flatternd öffneten sich ihre Augen. Blinzelnd sah sie in mein Gesicht.
„Schaust du nach ob ich schon die Karotten von unten betrachte, Grey?" krächzte sie und machte anstalten sich auf zu setzten.
„Bleib liegen" wies ich sie an.
Ihre Augenbrauen wanderten skeptisch hoch.
„Willst du dann das beenden was du begonnen hast?"
Ich schüttelte den Kopf. „Ich sagte doch, dass ich dich nicht töte"
Sie lies sich in die Kissen zurücksinken. „Was machst du dann hier?"
Ich atmete tief durch. „Ich will mich entschuldigen"
Ihre Augen starrten mich überrascht an. Ich konnte es ihr nicht verübeln, war ich doch von mir selbst überrascht.