Wieder in meiner Hütte lehnte ich mich gegen eine Wand, die bei dem plötzlichen Druck laut knarzte. Die Sonne schien nur durch einige Ritzen im Holz hindurch, ansonsten war der Raum in gedämpftes Licht getaucht. Ich ließ mich an einer Wand entlang zu Boden sinken, wo ich eine Weile verharrte. Was war das hier für ein Leben? Plötzlich erinnerte ich mich an eine Unterrichtsstunde, in der wir Fragen zum Sinn des Lebens beantworten sollten.
»Was ist für dich der Sinn des Lebens?«
Anfangs hatte ich keine Ahnung gehabt, was ich antworten sollte, doch dann hatte ich plötzlich einen Geistesblitz gehabt. Ganz genau erinnerte ich mich nicht mehr an meine Antwort, doch eines wusste ich noch: ich hatte über meine Familie geschrieben. Wie wir miteinander lachten, wie sie mein Leben erfüllten, wie wir füreinander da waren, in guten, als auch in schlechten Zeiten.
Doch welchen Sinn hatte das Leben jetzt? Meine Familie war mir genommen worden - mein Leben hatte keinen Sinn mehr. Meine Brust schnürte sich zu und ich begann hemmungslos zu weinen. Eines der ersten Male, dass ich meinen Tränen freien Lauf ließ. Ich winkelte meine Beine an und schlang meine Arme um meine Knie. So verharrte ich da, zitternd, schluchzend, bis ich mich beruhigte. Keine Ahnung, wie lange ich so da saß. Eine Stunde? Oder zwei? Oder nur eine halbe? Zeit hatte für mich keine Bedeutung mehr, mein Kopf pochte wie verrückt, ich hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden.
Mit einem Ruck stand ich auf. Zuerst fühlte ich mich etwas dusselig, sodass ich einf Schritte taumelte, bis ich einigermaßen gerade stand. Meine Glieder schmerzten - offenbar hatte ich länger auf dem Boden gesessen als ich angenommen hatte. Ich dehnte mich einmal kurz, bevor ich aus der Hütte in den Wald hineintrat. Vielleicht würde mich das etwas ablenken.
Die Tür verschloss ich fest hinter mir, in der Hoffnung, dass niemand in diese Hütte treten möge. Es war mir wirklich nicht wohl dabei, mich von dem einzigen Platz, an dem ich mich einigermaßen sicher fühlte, zu entfernen. Leider würde mich das Rumsitzen in der Hütte auch verrückt machen, es würde mich regelrecht in den Wahnsinn treiben und mich nur erinnern lassen. Ich musste meinen eigenen Weg finden, die Erinnerungen zu blockieren - früher oder später würde ich herausfinden, wie das möglich war.
So ging ich also in langsamem Tempo durch den Wald, hörte das Zerknirschen des Laubes sobald ich es zertrat, das Knacken von Ästen, das Rascheln der Blätter an den Bäumen, sah meinen Atem in der kalten Luft. Komischerweise spürte ich die Kälte gar nicht, nicht an meinen Gliedmaßen, auch nicht an meiner Haut. Irgendwie war meine ganze Welt auf den Kopf gestellt. Das hier war doch absurd, wie hatte es nur so weit kommen können? Nie hätte ich gedacht, dass es so weit kommen könnte – ich hatte einfach alles verloren. Die Menschen, die mir immer am Nächsten gestanden hatten, waren tot. Und das Schlimmste an dieser verkorksten Situation war der Fakt, dass alles, was meinen Eltern und Ben geschehen war, meine Schuld war. Und das war es auch, alles war passiert, und zwar nur wegen mir. Hätte ich es ihnen an dem Abend nie gesagt, sondern an einem anderen Tag, hätte ich meine wahre Natur unterdrückt…hätte ich mich doch nur umgebracht, bevor es so weit hätte kommen können. Ich hätte meine Familie verlassen sollen, noch bevor ich wusste, wer ich war, was ich war. Ich hätte nie bleiben sollen. Niemals.
Vor lauter Gedanken hatte ich nicht einmal bemerkt, dass meine Wangen vor lauter Tränen ganz nass waren, doch ich gab mir nicht einmal die Mühe, sie irgendwie zurückzuhalten. Wen kümmerte es, ob ich weinte? Meine Familie bestimmt nicht - einige unter denen waren tot und die anderen dachten bestimmt, ich sei auch abgekratzt. Sollten sie doch in dem Glauben bleiben, solange ich dann in Ruhe gelassen werden würde. Da mein Magen knurrte, packte ich ein Sandwich aus meinem Rucksack und riss die Verpackung auf. Ich verzog das Gesicht, als mir der Geruch meiner Mahlzeit entgegen schlug. Mann, wie ich solche Fertigbrötchen hasste. Dennoch nahm ich einen Bissen, und zwang mich, ihn herunterzuschlucken. Das Brot war matschig, und der Belag war auch nicht gerade in einem bessen Zustand. Dennoch kaute ich langsam, damit ich schneller satt wurde. Wer wusste, wie lange meine Vorräte halten würde. Und je öfter ich ins Dorf zurückgehen würde, desto größer war das Risiko, dass man mich erkennen würde. Genau das wollte ich um jeden Preis verhindern, denn das hatte mir gerade noch gefehlt. Dann würde die Polizei eingeschaltet werden, man würde nach mir suchen…wobei, taten sie das nicht bereits? So dumm waren die Beamten auch nicht, denn meine Leiche war definitiv nicht in dem Wagen gewesen. Ich konnte nur hoffen, dass es nicht der Fall war. Selbst dieser Wald würde mich vor einer riesigen Suchaktion nicht beschützen. Gott, wie konnte es nur so weit kommen, dass ich alleine in einem Wald hauste. Am liebsten würde ich mir die Seele aus dem Leib schreien, bis meine Kehle wund würde, diese verdammte Hütte niedertreten und den Wald niederbrennen. Doch nichts davon würde mir helfen, denn nichts würde etwas an meiner Situation ändern. Und wieso sollte ich mich überhaupt beschweren? Wäre ich nicht so schwach, hätte ich mich bereits getötet, oder ich hätte den Mut zusammengenommen, und wäre zu meiner Familie zurückgekehrt. Doch ich wusste ganz genau, dass beides keine Option war. Es ging einfach nicht.
Frische Luft wehte mir entgegen – mir war gar nicht aufgefallen, wie muffig es in der Hütte roch. Ich schloss meine Augen und genoss die Stille, die um mich herrschte. Nur gelegentlich knackte mal ein Ast, und ab und zu zwitscherte ein Vogel hoch oben im Dickicht. Oh, könnt’ ich fliegen, wie Tauben dahin, dachte ich. Keine Ahnung, von wo ich dieses Zitat plötzlich herhatte. Wobei es durchaus toll wäre, einfach so dahin zu fliegen und alles hinter mir zu lassen , zu vergessen, was geschehen war. Nachdenklich schüttelte ich den Kopf – in solchen absurden Fantasien zu schwelgen brachte mich nun auch nicht weiter. Genervt von mir selbst rollte ich mit den Augen, bevor ich mich Schritt für Schritt von der Hütte entfernte.
Kaum hatte ich zehn Schritte vorwärts getan, als mir plötzlich Ben entgegen trat. Moment. Ben? Ich kniff für ein paar Sekunden die Augen zusammen, ehe ich sie wieder öffnete. Mein Bruder war nicht mehr da. Super, jetzt wurde ich auch noch komplett verrückt. Immer wieder kniff ich die Augen zusammen, da ich Bens Erscheinung aus meinem Gehirn verbannen wollte, doch irgendwie war das Bild meines Bruders dort bereits verewigt. Egal wie sehr ich mich bemühte, immer wieder lugte er hinter Bäumen hervor oder erschien urplötzlich hinter mir, sodass ich mehrere Male zusammenzuckte und sogar einmal leise aufschrie. Ich wurde noch wahnsinnig, mein Körper begann, in Schweiß auszubrechen, meine Atmung wurde schneller und mein Herz klopfte immer heftiger und heftiger. Dann fing ich an zu rennen und blieb nicht mehr stehen. Ben war ständig hinter mir, doch das schöne Gesicht dieses Jungen wich einer Fratze und verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Mal war er neben mir, mal hinter mir, sodass ich beinahe seinen Atem in meinem Nacken spüren konnte – eine Gänsehaut überkam mich und meine Nackenhaare stellten sich auf. Das Blut rauschte in meinen Ohren, doch Bens Stimme konnte ich nur zu gut hören:
“Es ist alles deine Schuld!”
Diese vier Worte wiederholte er immer wieder, sie hallten in meinem Kopf wie ein Echo wider, der Kloß in meiner Kehle wuchs und wuchs. Immer noch rannte ich, weil ich Angst hatte. Angst vor Ben, meiner Vergangenheit. Doch vor allem hatte ich Angst vor mir selbst. Und Ben hatte Recht: es war alles meine Schuld. Plötzlich stolperte ich, fiel auf die Knie, wobei meine Hose stellenweise aufgerissen und meine Hände beim Aufprall auf dem harten Boden aufgeschürft wurden. Ein stechender Schmerz durchzog meinen Körper, als ich auf dem Boden aufschlug, und mir blieb für einen kurzen Moment die Luft ein. Als ich mich mit den Händen auf dem Boden abstützte, amete ich einmal zischend ein. Mann, das tat weh. Mit hektisch klopfendem Herzen blickte ich mich um – tatsächlich, Ben war nicht mehr da. Dem Himmel sei Dank. Ich legte mich auf den Rücken und sah gen Himmel. Ich wurde verrückt. Das war die einzig logische Erklärung, die mir einfiel. Ich wurde langsam aber sicher zum Psychopathen, immerhin war mein Bruder tot. Und doch hatte es sich so richtig angefühlt, so als sei er richtig da gewesen, nicht tot, sondern lebendig. Schon wieder traten mir Tränen in die Augen. Ich wusste ganz genau, dass er nicht mehr lebte. Er war tot. Und ich hatte soeben meinen toten Bruder gesehen. Wahrscheinlich würde es nicht lange dauern, bis ich vollends wahnsinnig wurde.
*
Ich wollte noch nicht zur Hütte zurückkehren, aus Angst, ich würde weiteren verstorbenen Familienmitgliedern begegnen, also lief ich einfach ziellos im Wald herum. Dabei summte ich irgendwelche Melodien vor mich hin, die mir einfach in den Kopf kamen, um mich abzulenken. Auf keinen Fall wollte ich meinem Bruder ein zweites Mal begegnen. Nicht heute, und auch nicht morgen. Den Schmerz ignorierte ich einfach, der würde schon noch verschwinden. Im Gegensatz zum psychischen Schmerz war der körperliche gar nichts – man hätte mir sämtliche Knochen brechen können, und der physische wäre immer noch geringer gewesen als der innerliche Schmerz des Verlustes. Vielleicht sollte ich raus aus dem Dorf, raus aus dem Land. Wer wusste, ob ich hier noch jemals einmal leben könnte, ohne ständig an alles erinnert zu werden. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, ob ich auf diesem Kontinent neu anfangen konnte. Oder ob ich es überhaupt irgendwo auf der Welt konnte.
Seufzend ließ ich mich auf dem Boden nieder und summte einen Melodie von irgendeinem Classic Rock Song, welchen ich immer sehr gemocht habe. Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich daran dachte, wie sehr meine Eltern diese Art von Musik verabscheut hatten. Egal wann ich mir meine CDs anhörte, würden sie sich über meinen Musikstil beschweren, wobei ich fast alle Art von Musik mag. Mir wurde warm im Magen als ich an den einen Tag zurückdachte, als ich meinen Eltern einen zehn-minütigen Vortrag gehalten hatte, warum mein Musikgeschmack besser war als der ihre. Seufzend fuhr ich mir durch die zerzausten Haare. Es würde nie wieder so werden. Gähnend blickte ich mich um. Da ich keine Ahnung hatte, wo ich mich im Wald befand, beschloss ich kurzerhand, hier zu schlafen. Es dämmerte bereits, und ich war vorhin so panisch umhergelaufen, dass ich gar nicht auf den Weg geachtet hatte. Da ich meinen Rucksack mitgenommen hatte, hatte ich zwar eine Taschenlampe, aber ich würde mich damit wahrscheinlich nur noch mehr verlaufen. Ganz tolle Arbeit, Jenna, fluchte ich innerlich. Kurzerhand ließ ich mich auf dem Boden nieder und schloss die Augen. Zum Glück war es nicht zu kalt, sodass ich immerhin noch nicht fror. Morgen würde ich schon noch den Weg zurück zu meiner Hütte finden.
*
Leise dringt mein Name an meine Ohren. Zunächst ist es nicht mehr als nur ein Flüstern, sodass ich es fast gar nicht höre. Die Stimme wird dann jedoch lauter, trotzdem kann ich nicht einordnen, wem die Stimme gehört.
“Jenna.”
Immer wieder ertönt mein Name, und ich sehe mich um, um zu erkennen, von wo sie kommt. Jedoch ist es dunkel, sodass ich nicht einmal die Hand vor Augen erkennen kann. Und dann plötzlich trifft es mich wie ein Schlag: es ist meine eigene Stimme. Meine eigene, schluchzende Stimme, die auf das Grab ihrer Eltern und ihres Bruders blickt. Jetzt sage ich nicht mehr meine Namen, sondern bleibe still, während Tränen salzige Spuren auf meinen Wangen hinterlassen. Ich mache mir nicht die Mühe, sie wegzuwischen, sondern schließe meine Augen, lasse den kalten Wind auf mein Gesicht peitschen und Blätter aufwirbeln. Das Grab sieht schön aus – es ist wunderbar eingerichtet mit rosa Blumen, die allerdings bereits einige Blüten verlieren. Seufzend betrachte ich den Grabstein. Es ist Marmor und richtig gut gepflegt. Zwar wäre es unwahrscheinlich, dass es jetzt bereits schmutzig wäre, doh es freut mich, dass das nicht der Fall ist. Wenn meine Familie schon auf solch eine grausame Art und Weise gestorben sind, dann soll ihre letzte Ruhestätte ein schöner Platz sein. Wo sie jetzt wohl sind?
Schlagartig ändert sich die Szenerie: seltsamerweise stehe ich jetzt vor einem Spiegel, jedoch ist es nicht mein Spiegelbild, das mir entgegenblickt, sondern Bens. Anstelle seiner Augen klaffen zwei Löcher, seine Haut trägt stellenweise Brandmale und das Grinsen, das sein Gesicht schmückt, ist furchteinflößend. Er sagt nichts zu mir, sondern starrt mich mit seinen nicht vorhandenen Augen an. Eine Gänsehaut überfällt mich, und es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich das Wort ergreift.
“Jenna.” Er sieht aus, als würde er überlegen, doch das Bild im Spiegel wird immer dunklerer, sodass ich Ben nur noch als düstere Silhouette wahrnehme. Bevor er ganz verschwindet, sagt er noch etwas: “Lebe wohl.”
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, er würde mir sagen, es sei meine Schuld, daher trafen mich diese zwei Worte vollkommen unerwartet, da ich nicht auf so einen Satz vorbereitet gewesen war. Ich hatte mich für alles gewappnet, ja, sogar, dass er mich anschrie oder mich körperlich verletzte. Doch dass er so etwas sagt, erfüllt mich einerseits mit Ruhe, andererseits auch mit Angst. Denn jetzt wird mir wieder bewusst, dass ich ihn in meinem Leben nie wieder sehen werde. Und ich habe nie wirklich Abschied genommen.
Erneut wechselt die Szenerie und ich finde mich plötzlich zuhause auf dem Sofa wieder, und sehe meinen Eltern und Ben zu, wie sie sich mit der Wii amüsieren. Mein Bauch schmerzt vor Lachen, weil mein Vater haushoch am Verlieren ist. Gebannt schaue ich den dreien zu, wie sie alle ihr bestes geben, um den Wettstreit zu gewinnen. Schließlich jubelt meine Mutter und lässt sich, offensichtlich zufrieden gestellt, auf das Sofa zurückfallen und sieht mich strahlend an.
“Wieso weinst du?”, höre ich sie sagen. Stirnrunzelnd sehe ich zu ihr rüber.
“Tu ich doch gar nicht.”
“Verarscht”, grinst sie. Sie liebt es, mich mit solch einfachen Sätzen zu verwirren. Als ich aufstehe, erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild und stelle fest, dass ich doch weine. Allerdings scheint das niemand zu bemerken, denn immer noch lachen sie, während mir Tränen über die Wangen kullern. Langsam beginnen sie, sich aufzulösen, bis sie ganz verschwunden sind und ich alleine bin. Verzweifelt schreie ich ihre Namen, doch sie sind fort. Für immer.
*
Mit einem Aufschrei wachte ich auf. Die Sonne war bereits aufgegangen, sodass der dreckige Waldboden, auf dem ich lag, deutlich zu erkennen war. Seufzend erhob ich mich. Meine Handflächen waren blutverschmiert und meine Glieder fühlten sich steif an. Als wäre das nicht schon genug, hatte ich keine Ahnung, wie ich zur Hütte zurückkehren sollte. Humpelnd ging ich also über den laubbedeckten Waldweg. Dabei wollte ich mir gar nicht ausmalen, wie ich aussah.
Ziellos ging ich umher und hoffte innerlich, dass ich niemandem begegnen würde. Ich hatte keine Ahnung, ob Suchanzeigen verbreitet wurden oder nicht. Jedenfalls musste ich mich auf alles einstellen, wobei ich schon hoffte, dass man mich für tot hielt und nicht nach mir suchte.
Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich die Hütte wiedergefunden hatte. Wie ein Idiot war ich umhergeirrt und hatte bereits beinahe Panik bekommen, da ich befürchtete, sie nie wiederzufinden. Schließlich war es mir doch gelungen, aber als ich die Tür öffnete konnte ich einen Schrei nicht unterdrücken. Mein Rucksack war aufgerissen, die Lebensmittel, die ich an der Tankstelle gekauft hatte, waren weg – wahrscheinlich hatte sich irgendein Tier in der Nacht den Bauch vollgeschlagen, während ich dämlich auf dem Boden lag und Albträume hatte. Am liebsten würde ich einfach nur schreien, wieso passierte mir das auch noch? Es ist ja nicht so, als hätte ich bereits genug Probleme. Nein, irgendein Tier musste auch noch mein Essen stehlen. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, zu weinen. Erschöpft ließ ich mich auf dem Boden nieder. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Ins Dorf wollte ich nicht so bald zurück, das hatte ich mir fest vorgenommen – doch blieb mir jetzt noch eine Wahl? Stumm saß ich da, unfähig, auch nur irgendeinen Gedanken zu formen, bevor ich zu einem Entschluss kam. Ich würde das Grab meiner Eltern und Ben besuchen, obwohl es wahrscheinlich noch nicht geschlossen war. Zwar hatte ich keine Ahnung, wann die Beerdigung stattgefunden hatte, doch einen Versuch war es wert. Auch wenn sie mich nicht hören konnten, war es doch eine gute Gelegenheit, mich bei ihnen für alles zu entschuldigen.
So ging ich also durch den Wald und ließ meine Hütte hinter mir. Den Rucksack ließ ich dort, da ich es sinnlos fand, diesen mitzuschleppen. Mein Essen war ohnehin weg, und mein restliches Zeug konnte ich nicht gebrauchen, nicht jetzt. Ans Grab wollte ich gehen, ohne irgendetwas mit mit rumzuschleppen.
Bis ich den Friedhof erreichte war eine Stunde vergangen. Ich hatte mir Zeit gelassen, dorthin zu gelangen, da ich nicht in eine Hektik verfallen wollte. Ich hatte keine Ahnung wo das Grab war – ich musste wohl oder übel den ganzen Friedhof absuchen. Zu meiner Erleichterung war keine Menschenseele anwesend, sodass ich ganz allein war. Allein mit unnzähligen Toten. Nach ein paar Minuten hatte ich gefunden, wonach ich suchte: zwar war der Grabstein noch nicht installiert worden, sodass ich vor einem Haufen Erde stand, aber das störte mich nicht weiter. Zu meiner Freude hatte jemand – trotz des fehlenden Steins – einen Blumentopf mit wundervoll blütenden Blumen dorthingestellt. Das war vermutlich meine Tante gewesen, sie hatte ein Händchen für so etwas. Jetzt, da ich hier war, wusste ich nicht was ich machen oder sagen sollte. Eigentlich wollte ich nur noch hier weg, doch ich zwang mich, mich hinzuknien, und die Erde vor mir zu betrachten. Ich hätte mir im Kopf eine Art Rede vorbereiten sollen, ich fühlte mich einfach nur unwohl, hier so ganz still zu sitzen, wobei ich doch so viel zu sagen hatte.
Ich schloss meine Augen und atmete tief durch, als eine leichte Brise aufkam und mein ohnehin schon vom Chaos geprägtem Haar durchwühlte. Ich atmete einmal tief ein und dachte fieberhaft nach. Es tut mir leid? Sogar in meinem Kopf klang das lahm. Überhaupt – zwar sollte ich mich vielleicht entschuldigen, aber den Sinn darin sah ich nicht. Ich konnte immerhin nicht dafür, dass ich lesbisch war, und wenn ich das an mir ändern könnte, dann würde ich es auch. Zwar hatte ich kein Problem mit meiner sexuellen Orientierung, im Grunde genommen würde es mir ganz egal sein, wenn meine Familie nicht an den Folgen davon gestorben wäre. Okay, sie sind nicht wirklich deswegen oder daran gestorben, aber irgendwie war es doch ein Faktor, der zu ihrem Tod beigetragen hatte. Könnte ich, wie alle Mädchen, die ich kannte, ebenfalls auf Jungs stehen, wäre mein Leben jetzt nicht für die Tonne. Ich holte tief Luft und begann zu singen:
“In the arms of an angel
Fly away from here
From this dark cold hotel room
And the emptiness that you feel
You are pulled from the wreckage
Of your silent reverie
You’re in the arms of an angel
May you find
Some comfort here.”
Noch bevor ich das Lied zu Ende singen konnte, spürte ich, wie ein Kloß in meiner Kehle aufstieg und mich zu ersticken drohte. Mühsam zwang ich mich, ihn zu unterdrücken, was mir auch halbwegs gelang. Dennoch klang meine Stimmme beim Singen wie gedämpft, und man hörte klar den Schmerz, der daraus hervorklang und mit den Worten verschmolz. Ich fuhr mir mit einer schmutzigen Hand über die Augen, um die Tränen fortzuwischen, doch zu meiner Überraschung waren da keine. Ich weinte nicht, obwohl ich glaubte, es zu tun. Doch keine einzige Träne rollte meine Wange herunter und befeuchtete meine Hand. Nicht eine einzige. Und jetzt, da ich fertig war mit singen, fühlte ich mich auch schon viel wohler. Es war, als würde ich nicht auf einem Friedhof vor dem Grab meiner Familie sitzen, sondern zuhause, mit ihnen im Wohnzimmer. Lächelnd stellte ich mir vor, wie meine Mutter mir einen Arm um die Schultern legt und mich an sich drückt, während mein Vater und mein Bruder sich drüber stritten, wer nun besser war : der FC Bayern München oder Dortmund? Ich würde nie erfahren, ob sie sich geeinigt hatten.
Ich schloss meine Augen und stellte mir vor, wie es meinen Eltern nun ging. Trotz meines verkorksten Lebens glaubte ich immer noch irgendwie an Gott und das Leben nach dem Tod. Ob es das wohl wirklich gab? Ich hoffte es. Ich wünschte es allen verstorbenen so, so sehr.
“Hey”, sagte ich schließlich nach einer Weile. Es klang komisch, so unformell mit meinen toten Eltern zu reden. Ich kam mir blöd vor. Sie konnten mich eh nicht hören. Mühsam widerstand ich dem Drang, aufzustehen und den Friedhof so schnell wie möglich zu verlassen. Obwohl mein Verstand mir sagte, ich sollte gehen, kämpfte mein Herz gegen den Willen an, und schlussendlich blieb ich, nachdem ich eine Weile mit mir gehadert hatte, auf der gleichen Stelle sitzen. “Es tut mir leid, das was euch passiert ist.” Verdammt, vorhin hatte ich mich schon so gefreut, dass ich nicht geweint hatte, ich hatte sogar so etwas wie Stolz gefühlt. Doch jetzt saß ich hier und hatte nicht mal ein Dutzend Wörter gesagt und bbegann zu flennen. “Es tut mir so schrecklich leid. Ich hätte es euch nicht in dem Café sagen sollen, ich hätte es ein andermal sagen sollen, oder gar nicht. Vor allem hätte ich nicht mit euch streiten wollen. Hätte ich gewusst, dass es der letzte Abend mich euch gewesen wäre, dann hätte ich mich anders benommen, doch nicht so. Nicht wie eine blöde und arrogante Kuh.” Ein paar Mal atmete ich ein und aus, um mich zu beruhigen. Dann fuhr ich fort. “Ich komm damit klar, lesbisch zu sein. Anfangs war es etwas ein Problem für mich, größtenteils, weil ich eure Einstellung zu dem Thema bereits kannte – das soll kein Vorwurf sein, ich bin euch nicht böse. Jeder hat seine Meinung. Wir wären schon irgendwie klargekommen mit der ganzen Situation, da bin ich mir sicher. Immerhin haben wir davor schon einige Hürden überbrücken müssen und es immer aufs Neueste geschafft. Ohne Zweifel hätten wir auch das hier überlebt, immerhin sind – waren – wir ja eine Familie. Ich hätte nicht so hitzig reagieren sollen, an dem Abend. Es tut mir leid. Es ist meine Schuld, und wenn ich könnte, dann würde ich euren Platz einnehmen, sodass ihr leben könntet. Denn ihr habt es mehr als nur verdient. Ich nicht. Ihr seid meinetwegen tot. Und Ben…du warst noch so jung, du hattest dein ganzes Leben noch vor dir. Es tut mir leid, dass ich es dir genommen habe.”
So viel hatte ich eigentlich nicht reden wollen. Jetzt, da ich ruhig bin, fühle ich mich erst richtig allein. Deshalb rede ich weiter.
“Ich komm nicht klar mit der ganzen Situation. Ich komm überhaupt nicht klar damit. Verdammt, ich würde alles dafür geben, um meine Lage zu ändern. Doch ich kann nicht. Ich wünschte, ihr wärt bei mir. Ich vermisse euch. Ich schaffe es nicht allein – vergibt mir, wenn ich aufgebe. Auf Wiedersehen.”
Ohne mich noch einmal umzublicken, stehe ich auf und verlasse das Grab. Nichts deutet mehr darauf hin, dass irgendjemand dort gesessen hatte. Nicht einmal die geringste Spur. Doch ich würrde wiederkommen, soviel stand fest. Diesen Ort konnte ich nicht einfach nicht besuchen, das war unmöglich. Ich rang mir sogar ein kleines Lächeln ab, als ich den Friedhof verließ und mich wieder auf den Weg in den Wald machte. Es war zwar keine dauerhafte Lösung, aber eine temporäre Möglichkeit, ein Dach über dem Kopf zu haben, bis ich irgendwie etwas besseres fand – was genau ich mir erhoffte, wusste ich noch nicht, aber eines stand fest : meine Familie wollte ich nicht belasten, daran hatte sich nichts geändert. Vielleicht war mein Schicksal ja, alleine im Wald zu sterben. Ob nun Erfriertod oder Hungertod, vielleicht war ich auch einfach nur dazu bestimmt, ein Leben in Einsamkeit zu führen und auch von dieser Welt zu gehen, ohne irgendwen an meiner Seite zu haben. Ich würde es in Kauf nehmen, wenn ich dadurch niemanden mehr verletzen würde.
*
Ich hatte mir Zeit genommen, in den Wald zurückzukehren. So eilig hatte ich es nicht, und ich war so lange auf dem Friedhof gewesen, dass ich gar nicht daraf geachtet hatte, dass es bald dunkel wurde. Mein Magen knurrte – ich ignorierte das unangenehme Ziehen um Bauch, zumal ich wusste, dass ich nichts hatte, womit ich ihn füllen konnte. Ich würde bis morgen warten, um meinen Hunger zu stillen. Bis dahin…ja, musste ich mich in Geduld üben. Da mir so langsam kalt wurde, wickelte ich die Decke, die ich aus dem Haus mitgenommen hatte, um meine Schultern und kuschelte mich hinein, sodass es mir gemütlicher vorkam, als dass es eigentlich in dieser kalten, schmutzigen Hütte war. Ich stieß einen leisen Seufzer aus, als ich das Foto von Ben betrachtete. Es war sein vierzehnter Geburtstag gewesen – in den vergangenen zwei Jahren hatte er sich extrem verändert, charakterlich als auch äußerlich. Damals war er noch kleiner gewesen als ich, im Grunde hatte ich ihn um beinnahe zwei Köpfe überragt. Doch dann kam der Wachstumsschub und bald sah ich nicht mehr den kleinen, zerbrechlichen Bruder in ihm, sondern ein junger Erwachsener, und die Person, die er einmal sein würde. Eigentlich hatte er mir schon immer geähnelt : unsere Haar- und Augenfarbe waren genau gleich, und genau wie ich war sein Gesicht von Sommersprossen geprägt. Er hatte sich natürlich immer darüber aufgeregt, wie eine männliche Version seiner großen Schwester auszusehen, doch mich hatte diese Ähnlichkeit nie gestört. Zwar hatte ich es nie jemandem gesagt, aber insgeheim hatte ich es immer gemocht, von Anfang an. Ob er wohl noch gewachsen wäre? Ich würde es nie herausfinden. Diesen Gedanken verdrängte ich jedoch schnell – daran wollte ich nicht denken, denn es gab so viele schöne Momente, die ich mit ihnen verbracht hatte. Sein vierzehnter Geburtstag : damals hatten meine Eltern beschlossen, ihm eine eigene Gitarre zu kaufen. Ben hatte dieses Instrument immer geliebt, und als meine Eltern ihn schließlich in die Musikschule anmelden waren, war er komplett außer sich. Seit dem Tag, an dem ich anfing, Querflöte zu lernen, wollte er ebenfalls Musik machen, und als der Tag schließlich gekommen war, war er so froh, dass er in Tränen ausbrach und sich noch kaum beruhigte. Die Gitarre war von Anfang an sein Element gewesen. Ich persönlich war nicht unbedingt ein Fan davon, wie er an den Seiten zupfte, ich bevorzute den weicheren Klang der Flöte. Doch immer, wenn er mir ein Lied vorspielen wollte, hörte ich ihm aufmerksam zu, und erlaubte ihm sogar, mir ein paar Akkorde auf der Gitarre beizubringen. Auch wenn ich es ungern zugab : es machte schon Spaß. Ich würde alles dafür geben, diese Zeiten wiederzuhaben.
Ben war ein solch lebensfroher Junge gewesen. Wenn einmal etwas nicht so lief, wie er es wollte, dann ließ er sich nicht unterkriegen. Selbst in Situationen, in denen jeder Mensch aufgegeben hätte, kämpfte er weiter. Das hatte ich immer bewundernswert an ihm gefunden. Er war so viel anders als ich. Ich hatte schon immer schlechtere Laune gehabt, ich war die schwarze Wolke, die den Sonnenschein zu verdrängen versuchte. Doch Ben hellte jedermanns Tag auf, auch meine. Tatsächlich war es meistens er gewesen, der mich aufheiterte, wenn ich mal wieder zornig auf einen Lehrer oder Klassenkamaraden gewesen war. Er war immer da gewesen. Immer. Ich musste unbedingt versuchen, wieder eine Sonne zu finden, damit es nicht nur düstere Gewitterwolken in meinem Leben gab. Oder ich musste selber zur Sonne werden. Wenn ich doch nur wüsste, wie.
Auch wenn ich es nur äußerst ungern zugab, so wünschte ich mir ein wenig, er würde zurückkommen, so wie gestern. Oder war es heute gewesen? Ich hatte komplett die Zeit vergessen. Dieses Mal würde ich nicht schreien, ich wäre jetzt darauf gefasst und würde mich ruhig verhalten, damit er wusste, dass ich keine Angst vor ihm hatte. Ich brauchte ihn. Ich brauchte irgendwen. Also wartete ich und wartete auf meinen Bruder, in der Hoffnung, er würde mir Gesellschaft leisten und mir durch seine Anwesenheit Trost spenden. Es fühlte sich an wie Stunden, dass ich, von der Decke gewärmt, auf dem harten und kalten Boden, die Knie an meine Brust gezogen, saß. Doch ich wartete vergebens, denn er kam nicht. Also schlief ich langsam ein, und ich war erleichtert, dass es sich um einen traumlosen Schlaf handelte.