Du bist Brenna Sundergeer.
„Lass uns hier bleiben“, meinst du im Flüsterton zu Allyster. Jetzt zu Goldings Schuppen aufzubrechen, ist für dich ein zu hohes Risiko. Lieber nimmst du das, was dir sicher ist: Markas Stall. Zu oft hast du harte Konsequenzen für jedes eingegangene Risiko erlebt.
Marka nickt, als er eure Entscheidung hört. Sein Gebaren vermittelt euch, dass ihr die einzig vernünftige Entscheidung getroffen habt. So werdet ihr in den Schankraum geführt, der im ersten Stock ist, während man eure Pferde im Stall versorgt. Allyster zahlt, ihr werdet an einen Tisch in dem staubigen und dunklen Raum gesetzt. Außer euch sind nicht viele Gäste anwesend, die meisten wirken wie mittelständische Kaufleute – nicht besonders reich, doch es fehlen die zerlumpten Bettler, die du in anderen Tavernen oft genug gesehen hast. Ihr zieht ein paar neugierige Blicke auf euch, als Aji seine Kapuze abzieht und die ungewöhnliche Augen- und Haarfarbe offenbart, die er seit eurem Ausbruch aus dem Wald der Dunkelelfen besitzt. Doch zu der Zeit, da euch euer Essen gebracht wird, ist das Interesse der anderen Gäste abgeklungen.
Ihr esst schweigend, um nicht zu riskieren, das jemand eure Pläne belauscht, dann geht ihr in das Dachgeschoss, wo in einem einzigen, langgestreckten Raum mehrere Betten bereitstehen. Es gibt keinen separaten Raum für Frauen, geschweige denn Einzelzimmer, doch du bist so froh, endlich wieder in einem Bett zu schlafen, dass du dir darüber keine Gedanken machst. Ihr legt euch früh schlafen, denn der nächste Tag verspricht, aufreibend zu werden.
Bald seid ihr eingeschlafen.
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„Was für eine Katastrophe!“
Dieser Ausruf Allysters reißt dich am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Du fährst auf und greifst alarmiert nach den Säbeln, die du immer neben deinem Bett liegen hast.
Sie sind nicht da. Nach einem kurzen Moment der Panik siehst du sie etwas entfernt auf dem Fußboden liegen, in einem Gewirr verstreuter Kleidungsstücke. Deiner Kleidungsstücke. Während du dich blinzelnd umsiehst, erkennst du, dass eure Taschen aufgerissen und durchwühlt wurden, all euer Besitz liegt rings um eure Betten verstreut.
„Wir wurden ausgeraubt!“, sagt Allyster, der inmitten des Chaos' kniet, nur mit einem Nachthemd bekleidet, und durch die Taschen seiner Robe wühlt. „Das Geld ist weg!“
„Das Geld?“, wiederholst du. „Alles?“
Allyster nickt und steht fluchend auf, um seine Roben überzustreifen.
Du siehst dich um. Die anderen Betten sind verlassen. Als ihr den Stall verlasst, trefft ihr Marka, der sich in der Küche herumdrückte, als ob er euch aus dem Weg gehen wollte.
„Wir wurden ausgeraubt!“, fährt Allyster ihn an. „In deiner Taverne.“ Zornige Blitze zucken durch seinen kurzen Bart.
„Was für ein Pech!“ Marka wirkt übertrieben bestürzt, macht auf dich aber keinen besonders überraschten Eindruck. „Das betrübt mich, zu hören. Hört, gute Gäste – ihr habt bereits im Voraus für die Pferde bezahlt, das Geld gebe ich euch wieder. Eure Tiere dürfen trotzdem im Stall bleiben, bis ihr zurückkehrt – das ist das Mindeste, was ich tun kann!“
Du spürst trotzdem, dass er euch eilig loswerden will. Schon steht ihr auf der Straße, mit leichterem Gepäck als zuvor. Allyster wiegt den Geldbeutel von Marka prüfend in der Hand.
„Immerhin werden unsere Pferde kostenlos verpflegt“, meint Aji leise, um euch zu trösten.
„Der Halsabschneider ist ja auch mit genug Geld für die nächsten sechs Monate davon gekommen!“, grummelt Allyster in seinen Bart. „Wir müssen zusehen, dass wir bald zurück nach Kalynor kommen und unseren Lohn für den Schöpferstein einstreichen!“
„Zuerst gehen wir zum Hafen“, meint Aji besänftigend und Allyster nickt, um dann die Führung zu übernehmen.
Hoffentlich könnt ihr es dem geldgierigen Marka irgendwann heimzahlen. Ihr alle seid sicher, dass er euch ausgeraubt hat oder mindestens Mitschuld trägt. Nur beweisen könnt ihr es nicht.
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Am Hafen liegen immer noch die drei Schiffe vor Anker. Allyster übernimmt es, mit den jeweiligen Kapitänen zu sprechen, während ihr im Hintergrund wartet. Aji trägt wieder einen Mantel mit großer Kapuze, da er sonst zu auffällig wäre. Der Junge zieht misstrauische Blicke auf sich, ein paar Seemänner werfen dir schmierige Kusshände zu oder pfeifen dir nach. Bettler hocken an der Felswand, die eine natürliche Hafenmauer bildet, oder vor den heruntergekommenen Gebäuden. Ihr ignoriert sie alle.
Der erste Kapitän besitzt das große Handelsschiff und ist damit beschäftigt, Waren aufzuladen.
„Verzeihung, können wir Euch kurz stören?“, fragt Allyster, als er auf den großgewachsenen Händler zu geht. Dieser trägt goldbestickte Kleidung, einen roten Turban und hat gepflegte, lange Haare und einen schwarzgelockten Bart.
Er sieht Allyster an. „Aber nur kurz, wir haben es eilig!“
„Ich wollte fragen, ob Ihr Reisende mitnehmen würdet“, kommt Allyster gleich zur Sache.
Der Kapitän zwiebelt eine geflochtene Strähne seines Bartes und lässt den Blick über euch wandern. „Natürlich, in diesen Gewässern nehmen wir jedes Geschäft an. Wir segeln in Richtung Mittsee, das sollte euch nicht verwundern. Ich werde keinen Umweg über Kaltmoor machen, falls das euer Ziel ist.“
„Mittsee ist genau die richtige Richtung“, sagt Allyster.
Der Händler nickt. „Die Überfahrt kostet drei Silberlinge pro Tag und Person. Für Kabinen, Verpflegung, einfach alles. Habt ihr mehr Gepäck als das da?“ Er nickt zu eurer kargen Habe.
Allyster verneint.
„Gut. Wir stechen um Mittag in See, seid pünktlich, wenn ihr mitwollt.“
Allyster dankt dem Kapitän und ihr wandert den Steg entlang.
„Das ist teuer“, bemerkst du, als ihr außer Hörweite des Händlers seid.
„Zu teuer“, gesteht Allyster ein und klopft auf den Geldbeutel. „Versuchen wir es bei dem Schiff dort drüben!“
Ihr haltet auf das Piratenschiff zu, was dir nicht wie eine gute Idee erscheint.
„Meinst du wirklich, wir sollten …“, beginnst du, doch Allyster winkt ab.
„Die Piraten werden uns nichts tun, falls du das fürchtest. Sie leben genau wie die Händler vom Transport. Es kann nur passieren, dass sie uns rekrutieren wollen – das würde uns aber vielleicht sogar helfen.“
Als ihr euch dem Schiff mit der roten Flagge nähert, bemerkst du, dass die Piraten nicht nach dir pfeifen. Allyster tritt an den Rand des Stegs und verlangt rufend nach dem Kapitän. Nicht viel später wird eine Planke ausgefahren und der Kapitän kommt zu euch: Eine breitgebaute, kräftige Blondine mit harten Augen. Sie ist dir sofort sympathisch.
„Was gibt es?“, fragt sie.
„Wir müssen nach Mittsee“, sagt Allyster und bedient sich zu deiner Verwunderung des schweren Piratenakzents, der Bilder von rauschenden Wellen und knarrenden Segeln weckt. „Habt ihr Platz, Käpt'n?“
„Aye, haben wir“, sagt die Frau, ihr Blick bleibt an dir hängen. „Bezahlt ihr in Silber oder in Arbeitskraft?“
„Arbeitskraft wäre zu bevorzugen“, meint Allyster. „Ich habe ein wenig Wissen über Nautik und Sterndeutung, kann den Wind lesen und solche Dinge. Brenna hier ist stark und unermüdlich, und Aji ...“
„Kinder reisen umsonst“, fällt die Piratin ihm ins Wort. „Aber ich traue niemandem, der sein Gesicht nicht zeigt.“
„Aji hat ein kleines Problem“, setzt Allyster an, doch die blonde Frau winkt an.
„Ich respektiere eure Geheimnisse. Ich sag euch nur, dass ich euch nicht traue. Die Arbeit an Bord wird hart, ihr packt mir an oder ihr müsst zahlen. Faulenzer können wir nicht gebrauchen. Abfahrt ist, sobald die Sonne hoch steht. Falls ihr es euch noch anders überlegen wollt.“
Allyster nickt und dankt, doch die Piratin wartet seine Worte nicht ab. Schon ist sie wieder an Deck, du hörst, wie die Befehle brüllt.
„Was genau meint sie damit, dass die Arbeit hart wird?“, fragst du vorsichtig, während ihr zu dem letzten Schiff geht.
„Sehr hart“, brummt Allyster kurz angebunden. „Und möglicherweise werden wir an Überfällen beteiligt. Wenn wir uns weigern, kann es durchaus sein, dass sie uns kielholen.“
Dich schüttelt es. Aber irgendwie überrascht es dich nicht wirklich.
Das letzte Boot ist die winzige Schaluppe, die aussieht, als könnte sie jeden Moment sinken. An Bord sitzen Männer mit stumpfem Blick. Der Kapitän hat euch bereit kommen sehen und wartet auf dem Steg. Er ist ein untersetzter, dicklicher Mann, kahlköpfig und schlecht rasiert, mit tiefliegenden Augen und grauer Haut.
„Reisende?“, fragt er statt eines Grußes.
„Unterwegs nach Mittsee.“ Allyster nickt.
„Da sieht ihr hier richtig“, meint der Mann und wirft dir einen Blick aus tränenden Augen zu. „Im Gegensatz zu den anderen biete ich euch einen Pauschalpreis. Ein Goldstück für jeden von euch für den Weg bis nach Mittsee. Falls das Wetter schlechter wird und wir länger segeln, braucht ihr nicht mit erhöhten Kosten zu rechnen. Essen und eine Hängematte gibt’s für einen Aufpreis von je einem Kupferstück, ebenfalls für die ganze Fahrt.“
Allyster wirf einen überraschten Blick zu dir – der Preis ist wahrlich günstig.
„Wann fahrt ihr?“, fragt der Zauberer.
„Gegen Mittag.“ Der Mann grinst und offenbart schiefe, braune Zähne.
„Wir überlegen es uns“, sagt Allyster reserviert und wendet sich zu euch. Auf eurem Rückweg über den Steg kommt ihr an dem Piratenschiff und dem hektischen Händler vorbei.
„Dieser Schaluppen-Kerl gefällt mir nicht“, brummst du.
„Ja, aber er hat bei weitem den besten Preis“, meldet sich Aji zu Wort. „Immerhin kann es sein, dass wir uns in Mittsee noch etwas kaufen müssen.“
Allyster nickt. „Der Preis ist ein echtes Argument. Den Händler können wir uns nicht leisten und bei den Piraten müssen wir vorsichtig sein.“ Er zuckt ratlos mit den Schultern. „Was meinst du?“
Du entscheidest dich …
- ... auf dem Piratenschiff anzuheuern. Lies weiter bei Kapitel 4.
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- ... auf der Schaluppe zu reisen. Lies weiter bei Kapitel 5.