Scarlett blieb einfach sitzen wo sie war und beobachtete West, wie dieser nach oben lief. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf Darwin. „Bin ich zu zeitig?“, fragte sie vorsichtig. Dabei war es sein Fahrer gewesen, der sie abgeholt hatte. Sie hatte da kein Mitbestimmungsrecht.
„Anscheinend ja“, erwiderte er und ließ sich erleichternd auf die Couch fallen, wo er die Füße hochlegte auf den Glastisch vor ihnen. „Nach meiner inneren Uhr zumindest.“
Nachdem er sie im Restaurant so auf die Manieren hingewiesen hatte, kam diese Geste sehr unerwartet und überraschend für Scarlett. Sie versuchte sich möglichst zu benehmen und dieser Mann verhielt sich wie ein Halbstarker.
Bei seinem Verhalten kam Scarlett ein Kommentar von Marian in den Sinn. Über einen halbstarken, reichen Playboy. Aber ob er so jemand war?
„Also... wie gefällt dir mein bescheidenes Heim?“, fragte er grinsend, den Kopf im Nacken gebettet und hob schwach die Arme in dem Versuch sein Reich zu präsentieren.
Scarlett musste sich die größte Mühe geben ihn nicht entgeistert anzustarren. Bescheiden? Wie eingebildet war dieser Kerl eigentlich?
„Nun, es ist... erschlagend“, erklärte sie nachdenklich. Was sollte sie auch sonst dazu sagen? Sie war noch nie in einem solchen Haus.
„Ich hoffe doch im positiven Sinne. Es wird mindestens die nächsten Wochen dein zu Hause sein“, erklärte er, als West wieder zurückkehrte und an ihnen vorbei in die Küche lief. Darwin ignorierte ihn dabei. Für ihn war es sicher schon normal im Hintergrund jemanden rumlaufen zu haben, aber in diesem großen doch leeren Haus, war es eher ablenkend.
Scarlett erschauderte bei diesem Gedanken ein wenig. Sie sollte hier wohnen? Das hätte sie sich zwar denken können, doch das Haus war dennoch ungewohnt.
Scarlett setzte ein schiefes Lächeln auf. „Ich denke nicht, dass es mir schwerfallen wird, mich daran zu gewöhnen“, erklärte sie und hatte mehr Angst darum, ob sie sich diesen Luxus wieder abgewöhnen konnte.
„In meinem vier Wänden kannst du dich benehmen wie es dir beliebt. Es ist sozusagen, dein Saferoom... zumindest solange bis ich nichts anderes behaupte“, begann Darwin und setzte sich wieder normal hin, als West ihm sein Getränk servierte. „Außerhalb dieser Wohnung dagegen, wirst du deine Rolle spielen“, fügte er hinzu und schnippte mit den Fingern, während er seinen ersten Schluck nahm und prompt wurde Scarlett von West ein Ordner auf den Schoß gelegt.
Scarlett stellte den Tee ab und schlug den Ordner neugierig auf. Sie sollte eine Rolle spielen? War dafür nicht ein Schauspieler besser geeignet?
Bereits auf der ersten Seite lächelte ihr ein Stammbaum entgegen. Sollte sie für ihn eine Geschichtsklausur absolvieren?
„West hat die Mappe für dich zusammengestellt, er kennt meine Familie besser als ich. Darin findest du Portfolios von Ihnen, so wie Themen die erwünscht und unerwünscht sind. Einige Dinge auch von mir, damit es nicht so wirkt, als würden wir uns wer kennengelernt haben. Solche Dinge eben“, wann Darwin unwichtig ab. Dabei war er nicht die Person, die den ganzen Stoff durchbüffeln musste!
„Und was genau wird meine Aufgabe sein?“, fragte sie, denn das alles kam ihr doch reichlich seltsam vor. Warum sollte sie etwas über seine Familie lernen, wenn sie doch eigentlich sein Escort war? Und warum sollte es den Eindruck haben, als würde sie ihn kennen?
„Oh... hab ich das noch nicht gesagt?“, fragte er unbedacht und nahm einen weiteren nachdenklichen Schluck aus seinem Glas.
„Mister Christensen benötigt für die nächsten drei Monate eine Alibi-Beziehung im Kreise seiner Familie und den Medien“, erklärte der ältere Mann, der gesittet abseits des Geschehens stand, die Hände am Rücken gefaltet und still zuhörte.
„Alibi-Beziehung“, wiederholte Scarlett nachdenklich. Gegenüber seiner Familie und den Medien.
Ihr Gehirn schien darin eine Verbindung zu sehen und plötzlich wusste sie wieder, woher sie den Namen kannte. Christensen war der Name eines Sohnes eines großen Firmenchefs, der in den letzten Monaten wegen seiner Affären, Partys und generell seinem Verhalten für viele Schlagzeilen gesorgt hatte. Warum war ihr das nicht zeitiger eingefallen?
Vermutlich weil ihr solche Skandale normalerweise egal waren. Doch nun war sie mitten in einem hineingeraten.
Sie würde also die ersten Tage damit verbringen diese Dinge zu lernen. Auch wenn sie damit viel weiter in das Leben von Leuten geriet, die ihr normalerweise egal waren. Warum sollte sie sich auch für das Leben der Reichen und Schönen interessieren? Sie dachte bisher, dass sie sowieso nie etwas mit diesen zu tun haben würde.
„Verstehe“, murmelte sie und wirkte ein wenig eingeschüchtert. Konnte sie das schaffen?
„Da fällt mir ein... wir brauchen noch eine Beschäftigung für dich. West war sich nicht sicher, weil du schon die Grundlagen kennen solltest. So viel Zeit haben wir nicht“, erklärte Darwin und trank den Rest des Halbvollen Glases in einem Zug aus.
„Beschäftigung?“, fragte Scarlett irritiert. „Grundlagen? Welche Grundlagen?“
Darwin rollte die Augen, als hätte Scarlett gerade etwas vollkommen dummes gefragt. Doch woher sollte sie denn wissen wovon er sprach?
„Du brauchst einen Job. Etwas was meinen Eltern Zusagen würde“, erklärte Darwin und hielt das Glas abseits von sich weg, als Zeichen, dass West es wegräumen sollte.
„Ach so okay. Das ergibt Sinn“, meinte sie nachdenklich. Aber was würde seinen Eltern zusagen? Sie hatte zwar die Mappe war aber noch nicht dazu gekommen sie zu lesen. Wie auch?
„Ideal wäre natürlich eine Naturwissenschaft im Bereich Forschung und so weiter. Aber dir da etwas beizubringen würde zu lange dauern“, erklärte Darwin und verschränkte nachdenklich die Arme, während er West anblickte, der wieder an seinen Platz neben der Couch trat.
„Sie sagten doch, Miss Nolan sei gelehrt im Management. Das würde heißen sie hat studiert. Sie könnten auch sagen, sie studiere noch“, erklärte West diszipliniert und nüchtern wie immer.
„Wieso sollte ich mich an einem College rumtreiben?“, schnaufte Darwin abwegig.
„Wieso sollten Sie sich an einem Institut herumtreiben?“, erwiderte West nüchtern, doch schlagfertig. Darwin verengte nachdenklich die Augen, ehe er langsam eine Hand aus seiner Haltung löste und auf West deutete.
„Richtig, das würden sie mir nicht abkaufen. Punkt für dich, alter Mann“, gestand er anerkennend. „Gut, also Studentin.“
„Und was soll ich studieren?“, fragte Scarlett vorsichtig. Die Art, wie sich Darwin mit dem Butler unterhielt schüchterte sie ein wenig ein. Außerdem fragte sie sich, ob man Darwin bei seiner Vergangenheit nicht sogar auf einer Studentenparty erwarten würde. Das würde zu seinem bisherigen Lebensstil passen.
„Worin kennst du dich denn aus?“, erwiderte Darwin und öffnete eine der Balkontüren, um tief durchzuatmen.
Scarlett folgte ihm automatisch mit seinem Blick und hatte das Bedürfnis auf den Balkon zu gehen, um dort die Aussicht zu genießen. „Management. Kunstgeschichte“, zählte die auf. „Und ich habe eine Vorliebe dazu Sprachen zu lernen. Aber bis auf Deutsch kann ich keines wirklich gut“, erklärte sie ein wenig überfordert.
„Management ist zu einfach. Kunstgeschichte zu... künstlerisch... als Hobby vielleicht. Sprachen... Linguistik?“, fragte Darwin an West gewandt, um zu erfahren was er davon hielt.
„Linguistik wäre durchaus passabel und nicht zu auffällig“, stimmte West mit einem angedeuteten Nicken zu.
Scarlett störte es ein wenig, dass es um sie ging, man aber nicht wirklich mit ihr sprach.
Als wäre sie gar nicht existent in diesem Raum, während die beiden Männer über ihre neue Identität entschieden.
Sie hoffte wirklich, dass das bald vorbei war. Es war sowieso schon nicht so einfach dem zu entsprechen, was Darwin oder eher seine Eltern scheinbar wollten. „Werden meine Eltern auch wichtig sein?“, fragte sie zögerlich.
„Sicherlich. Sollten Sie sie kennenlernen wollen, werde ich Schauspieler engagieren. Aber keine Sorge, soweit wird es nicht kommen“, beschwichtigte Darwin und streckte sie sorglos in der frischen Morgenluft Seattles.
„Ihre Eltern werden jedoch sicherlich einen Backgroundcheck, ohne Ihr Wissen, vornehmen.“, wandte West jedoch ein.
„Verdammt“, fluchte Darwin, als habe er etwas fatales vergessen und schlug wütend gegen den Türrahmen. „Scheiße, wie konnte ich das vergessen?“
„Heißt das ich brauche eine neue Identität falls sie mich googlen?“, fragte sie sehr überrascht. Wie kontrollsüchtig konnte man sein?
Darwin lachte leicht verzweifelt und fuhr sich durch die ohnehin zerzausten Haare. „Googeln... sicher. Sollten Sie wirklich einen Privatdetektiv anheuern, sind wir geliefert. Wir könnten dir eine neue Identität besorgen, aber um eine glaubwürdige zu erzeugen, wird es dauern. Es reicht nicht nur ein Pass, wir brauchen Familie, Schulen, Sozialversicherungsnummern, Hintergründe, eine Wohnung und und und... wir bräuchten eine komplette Vorgeschichte und es wäre noch dazu eine Straftat, was hieß ich könnte das Geld sofort vergessen und wieder zu meinen Eltern ziehen. Nein, nein und nochmals nein! Wir dürfen einfach nicht ihr Misstrauen Wecken, damit sie nicht auf die Idee kommen, dich durchzuleuchten“, sprach Darwin so schnell und aufgescheucht, dass Scarlett Mühe hatte ihn zu verstehen.
„Und sollten sie irgendwas haben, kann ich dich auch immer noch mit all den Dingen angelogen haben. Ich habe immerhin nicht viel zu verlieren“, gab Scarlett nüchtern von sich, der Darwins Reaktion ein wenig Angst machte.