Aufgeregt tänzelte Luzifer zwischen den heruntergestreckten Händen seiner Zweibeiner hindurch. Irgendetwas war heute besonders, er konnte die Aufregung spüren. Sie redeten durcheinander, heute wäre der "große Tag" und sie seien "schon gespannt", doch der kleine weiße Kater konnte mit den Worten nur wenig anfangen. Aber es lag eine positive Nervosität in der Luft und so sah Luzifer keinen Grund, sich in eines seiner zahlreichen Verstecke zu verkriechen.
Endlich passierte etwas. Die Zweibeinerin öffnete die Tür. Wollte sie nun etwa einfach gehen?! Sie trat hindurch und lies die Tür sperrangelweit offen. Nanu? Entsetzt starrte Luzifer auf das, was in all den Wochen die unhinterfragte Grenze seiner Welt gewesen war. Ein frischer Lufthauch wehte herein. Im Gegensatz zu ihm schien sein getigerter Bruder überhaupt nicht verunsichert zu sein. Schließlich war er der Ältere und natürlich auch der Stärkere. Langsamen, aber festen Schrittes marschierte er seiner Zweibeinerin hinterher.
Luzifer bekam Panik. Der kleine Tiger war bereits ums Eck verschwunden, nur er allein stand noch vor der Türschwelle. Seine Pfötchen waren wie festgewachsen und er zitterte am ganzen Leib. Ließen ihn jetzt alle allein? Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte er es, all seinen Mut zusammen zu nehmen. Vorsichtig setzte er eine Pfote über die Schwelle, dann noch eine. Doch halt! Ein Geräusch versetzte ihn in Schockstarre, im Augenwinkel bemerkte er die Bewegung von etwas Großem. Viel größer als er. Das war zu viel – mit einem entsetzten Maunzen machte der junge Kater kehrt und schoss zurück ins sichere Zuhause.
Zusammengekauert beobachtete Luzifer die noch immer geöffnete Tür. Plötzlich tauchte ein Schatten auf, der schnell größer wurde. Langsam bewegte sich der Kater rückwärts, die Muskeln angespannt und bereit für die Flucht. Was jedoch im hellen Türrahmen erschien, war kein Monster, keine Gefahr. Es war sein Bruder, der mutige Tiger, der mit einem fröhlichen Murren auf Luzifer zuhüpfte.
Der Tiger stupste ihn mit dem Kopf an und brabbelte los: "Luzifer! Wo bleibst du denn? Komm schon, draußen ist es soooooo toll..."
"Aber ich trau' mich nicht," murmelte der Weiße. "Dort ist es doch gefährlich..."
"Ach was! Du Angsthase," erwiderte sein Bruder. "Komm schon mit, du weißt doch, ich passe immer auf dich auf!"
Luzifer blickte ihn zögerlich an, doch er wusste, er konnte seinem großen Bruder vertrauen. Der Tiger lief ein paar Schritte voraus und blinzelte ihn auffordernd an. Luzifer atmete tief durch und schlich ihm vorsichtig hinterher. Als er die Pfoten zum ersten Mal auf die Wiese setzte, überkam ihn endlich ein Gefühl der Aufregung. Das Gras kitzelte an seinem Bauch und die Gerüche erst! Dicht an der Seite seines Bruders strich er zwischen den Blumen hindurch, die grünen Augen weit aufgerissen. Während er aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam, ließen ihn die vielen neuen Eindrücke seine Furcht langsam vergessen.
Luzifers erstes großes Abenteuer in der Freiheit konnte beginnen.