Cesare erwachte.
Sein Körper fühlte sich matt und tonnenschwer an. Die Haare klebten ihm an Stirn und Nacken, seine Kehle war staubtrocken, als wäre er tagelang, meilenweit gerannt. Es kostete ihn einige Mühe, die Augenlider aufzustemmen und seine Umgebung zu fixieren.
Er lag rücklings im Mittelgang einer verlassenen Kapelle. Staub tanzte in einem schmalen Lichtstrahl, der durch eines der Seitenfenster fiel und nach den Fingerspitzen von Cesares linker Hand tastete. Die groben Steinwände und die morschen Holzbänke glänzten feucht und in der Luft lag ein solch durchdringender Modergeruch, dass Übelkeit in Cesare aufstieg.
Umständlich setzte er sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an eine der Holzbänke. Er ließ seinen Blick weiter schweifen, um sich von dem Gestank abzulenken.
Die Decke auf dem Altar war mottenzerfressen und schmutzig, sämtliche Kerzen waren heruntergebrannt und kaum mehr als zerflossene Erinnerungen ihrerselbst. Es gab keine Gegenstände von Wert mehr, nur die ausgeblichenen Umrisse am Kopfende zeugten davon, dass der Altar vor vielen Jahren wohl einmal mehr als ein blanker Steintisch mit einem löchrigen Deckchen gewesen war.
In dieser Kapelle war schon lange kein Mensch mehr gewesen.
Was machte er hier? Die Erinnerung, wie und warum er hierher gekommen war, schien sich in einem dichten Nebel aufgelöst zu haben.
Cesare fröstelte.
Eigentlich müsste es kalt genug sein, um seinen Atem in kleinen Wölkchen vor seinem Mund tanzen zu lassen. Doch nichts dergleichen geschah. Cesare versuchte, einmal kräftig gezielt auszuatmen.
Nichts geschah.
Es ging nicht.
Eine kalte Hand schloss sich fest um seine Brust. Schweiß brach ihm aus.
Cesare versuchte es noch einmal.
Einatmen.
Es ging nicht.
Ausatmen.
Unmöglich!
Reflexartig griff er sich an die Brust, erwartete sein panisch hämmerndes Herz unter seinen Rippen zu spüren, doch da war nichts. Er tastete noch einmal nach der Stelle, unter der sein Herz schlagen musste, fühlte nichts, legte die zitternden Finger an seine Handgelenke, an seine Halsschlagader, wieder an seinen Brustkorb.
Nichts. In ihm regte sich rein gar nichts.
»Was?«, schlich sich tonlos über seine spröden Lippen, hallte verzerrt von den Wänden wider. Cesare vergrub voller Verzweiflung die Hände in seinen Haaren und krümmte sich zusammen. »Was … ist mit mir passiert?«
»Wir nennen es den ›Neuanfang‹.«
Cesares Kopf ruckte hoch.
Vor dem Altar stand ein hochgewachsener Mann unbestimmten Alters. Er trug einen langen Stoffmantel, den goldene Knöpfe und an Ärmeln und Kragen goldgewirkte Ornamente zierten. Seine langen schwarzen Haare hatte er mit einem Seidenband im Nacken zusammengebunden. Wie Porzellan wirkte seine Haut, makellos, hell, fast durchscheinend. Ganz offensichtlich gehörte er der Oberschicht an. Man hätte ihn als erhaben, als schön bezeichnen können … wäre nicht die lange Narbe gewesen, die sich von seiner linken Schläfe über die Wange bis hin zu seiner Oberlippe zog.
Der Fremde blickte Cesare abwartend an und quittierte sein ungeniertes Starren mit einem süffisanten Lächeln.
»Keine Panik, Cesare. Wenn du erst einmal etwas getrunken hast, wird alles besser.«
Er streckte ihm die Hand hin, doch Cesare zuckte zurück. Dieser Mann wusste offenbar, was mit ihm geschehen war, doch er war viel zu verwirrt, viel zu erschöpft, viel zu sehr in Panik, um einen klaren Gedanken fassen zu können.
»Was soll das? Was ist mit mir passiert?«
»Ich habe dich gebissen.«
Der Fremde deutete auf Cesares Hals und als dieser an die Stelle tastete, glitten seine Fingerspitzen über zwei kleine vernarbte Stellen auf seiner Haut.
»Verzeih mir. Ich bin die Einsamkeit nach über siebenhundert Jahren leid und du hast mir gefallen.«
Ein Gedanke, ein Erinnerungsfetzen spukte durch Cesares Kopf. Eine alte Legende, nicht mehr als ein Ammenmärchen, das man den Kindern erzählte, damit sie nachts brav in ihren Betten blieben.
»Wollt Ihr damit sagen, Ihr seid … Ihr seid ein … Vampyr?«
»Nein.«
Der Fremde schmunzelte und Cesare hätte durchgeatmet, wenn ihm dies möglich gewesen wäre.
»Wir beide sind das.«
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