Kein Zweifel: Das war Friedrich. Er war älter geworden. Seine weichen, kindlichen Gesichtszüge waren kantiger geworden, in den Augenwinkeln bildeten sich erste kleine Fältchen und sein hellblondes Haar hatte bis zu den Spitzen einen Aschton angenommen. Der Drei-Tage-Bart gab ihm etwas Wildes, Unnahbares. Aber sein Lächeln war ganz Friedrich. Ich hätte es überall erkannt, dieses unschuldige, strahlende Lächeln, das ich schon immer an ihm geliebt hatte.
»Hallo, Albrecht.«
Selbst seine Stimme war tiefer geworden, männlicher. Fremder.
Mein Mund war von einem Moment auf den anderen staubtrocken. Ich vergaß, wie man sprach, was man antwortete in solch einer Situation.
Das war doch unmöglich.
Vollkommen unmöglich!
Ich hatte Friedrich zum letzten Mal gesehen vor … vor zwanzig Jahren! Im Winter vor zwanzig Jahren, auf diesem vermaledeiten Feld in Schlesien, in dieser sternenklaren, windigen Nacht, die alles verändert hatte. Dass er hier war, hier bei mir, in Florenz, das war unmöglich. Ich hatte doch gesehen, hatte doch gehört, wie er …
Nichts hast du gesehen. Er wurde nie gefunden. Du hast dir selbst immer wieder eingeredet, dass er kämpft, dass er geflohen ist, dass er in Sicherheit ist. Es ist nicht unmöglich!
Die Zweifel pickten beharrlich hinter meiner Stirn, bis ich den Kopf schüttelte, um einen klaren Gedanken fassen zu können.
Friedrich lächelte unerschütterlich.
»Hast du mich vermisst, Albrecht?«
»Ja.« Meine Stimme klang rau und verbraucht, als hätte ich stundenlang geschrien. »Ja, ich habe dich vermisst, unendlich vermisst.«
»Du hast mir auch gefehlt, Bruder.«
Friedrich überwand die kurze Distanz zwischen uns und umarmte mich.
Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen, mein Herz schlug bis zum Hals, doch dann hatte ich mich wieder im Griff, erwiderte die Umarmung fest, viel fester als nötig, und vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge.
Friedrich ließ es geschehen, schließlich spürte ich seinen Griff ebenfalls fester werden. Lange standen wir unbeweglich da. Dann begann er, mir sanft übers Haar zu streichen, bis ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich mich wieder von ihm lösen konnte.
»Was machst du hier, wie kommst du hierher?«
»Wie man halt nach Italien kommt. Zu Fuß, mit der Kutsche und einen Teil der Strecke bin ich auf einem Heuwagen mitgefahren.«
»Aber warum bist du hier?«
Friedrich legte mir einen Finger auf die Brust. »Deinetwegen.«
»Aber woher wusstest du, dass ich hier bin? Ich habe doch …«
»… niemandem gesagt, wohin du gehst? Deine Spuren verwischt, nachdem du beim zweiten Überraschungsangriff der Österreicher verwundet wurdest und dann noch in derselben Nacht verschwunden bist? Das stimmt, niemand aus deinem Regiment hat je wieder etwas von dir gehört oder gesehen. Und genau wie ich wurdest du nach ein paar Wochen für tot erklärt.«
Friedrich machte eine Pause, hob aber die Hand, als ich eine weitere Frage stellen wollte.
»Aber ich würde dich überall finden, Bruder. In Schlesien, in Italien, in Preußen, ja, selbst in diesem verfluchten Österreich.«
»Du bist also nicht gestorben in dieser Nacht? Die Stimme, die mich gerufen, der Soldat, der mich zur Seite gestoßen hat, als die Kanonenkugel neben mir einschlug, das warst nicht du, Friedrich?«
»Wir beide sind nicht gestorben in dieser Nacht. Wir beide sind davongekommen und haben diesen Krieg überlebt. Und nun bin ich hier. Ich habe dich gefunden, Albrecht. Nun können wir endlich wieder eine Familie sein.«
Ich schluckte.
Das hatte ich mir immer gewünscht. Wie oft hatte ich Gott angefleht, mir meinen Bruder zurückzugeben. Wie oft hatte ich gefleht, er möge sein Leben verschont haben, Friedrich möge in Sicherheit sein und zurückkehren können zu unseren Brüdern und dem Großmütterchen vom Nachbarhof. Zurück in ein Leben, in dem es für mich keinen Platz mehr gab. Geben durfte.
Meine Gebete wurden erhört.
Er hatte es geschafft.
Er war zurückgekehrt.
Nach Hause. Und nun zu mir.
»Ich bin so froh, Friedrich. So froh, dass wir beide …«
Ich stockte.
›Wir beide sind nicht gestorben in dieser Nacht.‹ – das ist nicht wahr. Du bist gestorben. Du bist nicht davongekommen. Du hast dich davongestohlen. Über die Ebenen von Prag durchs Feindesland über die Alpen bis nach Italien. Du bist nicht mehr Friedrichs Bruder ›Albrecht‹.
»Friedrich … ich …«, stammelte ich, griff nach den Schößen seines Mantels und senkte mit zusammengekniffenen Augen den Kopf. »Komm her, bitte umarme mich noch einmal.« Meine Stimme war nichts weiter als ein tonloses Flehen. »Sag mir, wie du es geschafft hast. Sag mir, dass es wahr ist, Friedrich. Dass du hier bist, dass wir anknüpfen können, dass ich die letzten zwanzig Jahre, dass ich diese unheilvolle Nacht nicht erlebt habe. Nur eine Illusion, ein Hirngespinst, ein Fiebertraum im Lazarett, nichts weiter. Sag es mir, Friedrich.«
Ich hob den Kopf, starrte meinen Bruder an, doch der lächelte nur stumm. Irrte ich mich oder wirkte er wieder jünger? War sein Haar nicht heller, sonnenblonder? Wo war der Bart?
»Albrecht, ich bin zu dir zurückgekehrt. Ich habe dich gefunden. Ich würde dich immer finden. Ich bin doch immer bei dir.«
»Nein!« Was ein panischer Schrei hätte werden sollen, war zu einem erstickten Wimmern zusammengeschmolzen, als mir Tränen in die Augen stiegen.
»Du sagst nur, was ich hören will.« Verzweifelt umarmte ich ihn fest, kniff erneut die Augen zusammen und … erwachte.
Ich hielt mein Kissen krampfhaft umklammert, die Stelle, an der mein Gesicht lag, war nass und heiß.
»Warum bist du so grausam?«, flüsterte ich in die Leere meiner Kammer, in die das Mondlicht verzerrte Fensterkreuze warf. In den Schatten lungerten die Erinnerungen an den Traum. »Ich weiß es doch. Ich weiß es doch … Friedrich kommt nie wieder. Und ich bin nicht mehr Albrecht. All das ist ein Leben her. Also, warum bist du so grausam, Gott?«
Ich vergrub das Gesicht im Kissen und schloss die Augen, doch hinter meinen geschlossenen Lidern erwartete mich nur Friedrichs lächelnde Gestalt, wieder 16 Jahre alt, ohne die verhasste Uniform, in einfachen Kleidern, unschuldig, fröhlich. Lebendig.
Ich riss die Augen wieder auf. Mein Herz schmerzte bei jedem Schlag.
Sinnlos.
Mit einem Ruck erhob ich mich aus meinem Bett, schlüpfte in Hosen, Hemd und Mantel und lief aus der Tür. Im Hausflur kam mir Enrico entgegen, der wohl wieder einmal zu lange im Freudenhaus gewesen war.
»Luca?! Wo willst du hin?«, rief er mir verwirrt hinterher, als ich grußlos und mit gesenktem Kopf an ihm vorbeirauschte. Ich beachtete ihn nicht.
Ich musste fort. Zum Fluss. Oder zu Aurora. Zu Sofia. Vielleicht zu Alessandro.
So schnell mich meine Füße trugen, eilte ich über das feucht glänzende Pflaster zwischen den Häuserwänden hindurch, hinaus auf die offene Piazza, schneller, weiter, weiter fort. Ich hoffte, dass meine Gedanken und mein Sehnen mir nicht folgen würden.
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Hier gibt es eine weitere Szene mit Albrecht, die kurz nach Friedrichs Tod spielt: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/87860-2020-01-26-heimatlos