Etwas Neues von Albrecht/Luca. Diese Szene spielt deutlich vor der aus dem »Besuch aus der Vergangenheit«: https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/86366-2020-01-15-besuch-aus-der-vergangenheit
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Haltlos taumelte ich durch das endlose Weiß. Der farblose Horizont verschmolz in der Ferne mit den weiten schneebedeckten Ebenen. Die vereinzelten Bäume an den Rändern der Felder standen wie vergessene graue Soldaten im ewigen Spalier.
Mit Eiszähnen biss der Wind in mein Gesicht, fuhr mir unter Mantel und Wams, schnitt durch die zahlreichen Risse meiner Uniform. Ich hatte schon vor Stunden das Gefühl in meinen Füßen verloren. Doch ich musste weiter. Weiter, weiter. Weg. Zurück. Wohin auch immer.
In meinen Gedanken war nichts als das Schmerzen meiner Haut und Nebel. Undurchdringlicher Nebel, wo Erinnerungen sein sollten. Ich wusste nur eines: Friedrich war gestorben. Johann auch, und Georg. Ein Drittel unseres Regiments hatten die verfluchten Österreicher ausgelöscht. Und als wir uns auf den Weg nach Südwesten machten, am nächsten Tag, da hatten sie versucht, auch den Rest zu holen. Otto und Carl hatte ich gesehen, wie sie fielen, getroffen, wie gefällte Bäume. Überrannt. Wie Anton unterging im Schlamm. Und dann der glühende Schmerz an meiner linken Hüfte, der mir die Sinne geraubt hatte.
Das musste mittlerweile vier, vielleicht fünf Tage her sein. So viele waren gefallen, hatten ihr Leben lassen müssen in diesen beiden Nächten, in denen der Tod über uns gekommen war, in denen es Feuer und Kugeln gehagelt hatte. So viele waren gefallen.
Auch ich.
Auch ich war gefallen.
Und doch irrte ich durch das tief verschneite Schlesien, voran, immer voran, der Körper betäubt von der Kälte und mit nichts bei mir, außer dem, was ich am Leibe trug. Vielleicht hatte ich längst die Grenze zum verfluchten Österreich passiert, vielleicht wanderte ich auch zurück nach Preußen, nach Sachsen oder Bayern. Oder in die unerbittliche Weite Russlands. Ich wusste es nicht. Jede Schneewehe sah gleich aus, es gab keine Sonne, keinen Mond und keine Sterne, an deren Wanderung ich die meine hätte ausrichten können.
Ich wusste nur eines: Ich musste laufen. Durfte nicht stehenbleiben. Musste weiter, immer weiter. Bliebe ich stehen, würde ich erfrieren, würde einfach vom Schnee bedeckt und begraben, tief in der Eiswüste, in der niemand jemals einen preußischen Soldaten suchen würde. Und wenn der Frühling kam, würden mich Unkräuter überwuchern und Maden meinen verwesenden Leib zernagen, sich Gänge in mir graben, bis nichts als blankes Gebein mit den blau-roten Fetzen von mir übrig wäre.
Auf seltsame Weise tröstete mich der Gedanke, die Natur würde mit meinem Leib noch etwas anfangen können, wenn er mir nichts mehr nutzte. Doch obschon gebrochen, zusammengeschnurrt auf eine flackernde, fast verlöschende Flamme, war mein Lebenswille noch nicht gänzlich vergangen. Ich wusste es. Ich war gestorben. Der Streich, der mich getroffen hatte, der meine Haut und mein Fleisch aufgerissen, der Hieb, der sie durchstoßen hatte, sie hatten eine Wunde gerissen, aus der mein Leben, mein Bewusstsein flossen, als hätten sie nur auf den rechten Ausgang gewartet. Schnell, immer schneller, während ich noch hinabsank in den aufgewühlten Schlamm, das Gefühl des hölzernen Karrens noch unter meinen Fingern, wie er mir entglitt, wie ich der Szenerie entglitt, der Welt, dem Leben. Dunkelheit.
»Albrecht!« Jacobs Ruf – ich glaubte, dass es Jacob war – gellte mir noch in den Ohren, über das Kampfgetöse hinweg. Eine Silhouette, ein Schemen über mir, eine Ahnung mehr vor dem dunkelgrauen Nachthimmel, vor den schwarzen Schlieren, die mir die Sicht raubten. Ein Mantel aus Finsternis und Wärme. Ein Stich an meinem Hals. Dann war Stille.
An den Moment des Erwachens konnte ich mich nicht erinnern. Irgendwann kam ich zu Sinnen und gewahrte, dass ich lief. Ohne festes Ziel. Allein. Umgeben von nichts als endloser Weite, die keinen Namen hatte.
Während ich lief, bemerkte ich, dass mich nicht der Hunger trieb. Tatsächlich verspürte ich kein Verlangen nach Nahrung. Nur Durst. Schwäche. Und unendliche Müdigkeit. Ich wusste nicht, wie es mir überhaupt gelang, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Doch ich lief. Getrieben von der Kälte, von meiner schmerzenden Kehle, von der Furcht vor dem schrecklichen Ort, den ich hinter mir gelassen hatte.
Ich musste weiter. Weiter, so weit mich meine Füße trugen. In die Ferne, fort von allem, das ich kannte, von allem, das ich verloren hatte. Ohne Heimat. Ohne einen Ort, an den ich gehen konnte. Gäbe es nur ein Haus, eine karge Hütte, ja, nur einen Unterschlupf, einen Stall vielleicht oder eine verlassene Jagdhütte im Wald. Doch überall nichts als Weiß. Weiße Ebenen mit Gespenstersoldaten aus Holz.
Als die Nacht über die Landschaft fiel, glomm am Horizont ein schwacher, milchig-heller Schein. Kaum mehr als eine Ahnung und doch verhieß er mir ein Versprechen auf eine menschliche Siedlung. Vielleicht nur ein einzelner Hof. Vielleicht ein Dorf. Fremde in der Fremde. Solange es nur kein Soldatenlager war …
Ich schleppte mich weiter. Dieser Lichtschein war meine einzige Hoffnung. Mein Wille war es, der mich antrieb. Mein Verlangen, mein Durst, sie machten meinen Körper gehen. Gehen. Gehen.
Die Minuten dehnten sich zu Stunden, dehnten sich zu Ewigkeiten, ohne dass ich dem Lichtschein näherzukommen schien. Doch im nächsten Moment tauchte ein Wall in der Ferne auf, die spitzen, schneebeladenen Dächer einer Behausung, dann ein zweites Dach, ein drittes und schließlich noch eines, bis es ein Dutzend war, das ich auszumachen glaubte. Gehen, gehen. Weiter. Weiter.
Ich erinnerte mich an nichts anderes als dieses Mantra. Weiter. Bis ich vor dem ersten Haus stand, an die rissige Holztür klopfte mit rotgefrorenen, aufgeplatzten Fingern, schlotternd, kaum mehr auf den Beinen. Noch einmal klopfte. Und noch einmal. Rief ich? Bettelte um Einlass?
Die Tür schwang einen Spalt breit auf.
»Wer seid Ihr? Was wollt ihr?«
Deutsch! Er sprach Deutsch! Ich war nicht mehr in Schlesien. Doch für Bayern oder gar Sachsen war ich wohl nicht weit genug gekommen.
»Bitte, lasst mich ein«, bat ich, selbst für mich kaum hörbar, erkannte kaum meine eigene Stimme, die brüchig und klein geworden war. »Ich brauche … nur ein Lager für die Nacht. Bitte.« Meine Stimme zitterte genauso wie mein Leib. »Ich habe keine bösen Absichten. Ich bitte euch.«
Der Mann zögerte noch einen Augenblick, musterte mich argwöhnisch. Dann schob er die Tür ein Stück weiter auf und bedeutete mir mit einem mürrischen Grunzen hineinzukommen.
So schnell ich konnte, schlüpfte ich durch den Spalt. Und obwohl ich im ersten Moment dachte, die Erschöpfung und die Kälte machten mich so benommen, wurde mir nach einer Weile klar, dass es der Duft in diesem Haus war, der mich benebelte. Der Duft, der von diesem Mann und seiner Frau, die sich ängstlich an ihn drückte, ausging.