Ein Meter vierundneunzig. Oberschenkel wie Baumstämme. Eine Oberkörperbehaarung, bei der jeder Grizzly neidisch geworden wäre. Und er trug das grimmigste Gesicht zur Schau, das in der nördlichen Hemisphäre aufzutreiben war.
Wobei letzteres sicherlich auch dem Umstand geschuldet war, dass besagter ein Meter vierundneunzig-Bär in einem deutlich zu engen Goldkleidchen steckte, das ihm nicht einmal bis über den Bauch reichte. Dazu trug er ein goldenes Röckchen in XXL und einen Haarreif mit einem Heiligenschein aus regenbogenfarbenem Plüsch. Und Flügel. Was wäre das Kostüm ohne glitzernde Flügel! Die sahen an seinem Bärenkörper allerdings aus, als wäre er kein Engel, sondern eine aus der Form geratene, in Goldstaub gefallene Hummel. Die Aufmerksamkeit im gesamten Club war ihm so auf alle Fälle gewiss.
Aber Wette war nun einmal Wette.
»Na, mein Engel, Lust auf eine kleine Sünde?«, feixte ein junger Typ mit südeuropäischem Einschlag, dessen Haut von Netzshirt und Hotpants nur alibimäßig bedeckt wurde.
Der Engel-Bär neben mir schnaubte nur als Antwort und der Andere ging lachend und mit wiegenden Hüften von dannen.
»Läuft doch prima«, merkte ich an und schaffte es nicht, ein Grinsen zu unterdrücken. »Alle haben Spaß!«
»Ja, bis auf mich«, grummelte der Engel-Bär und nahm unsere Getränke vom Barkeeper entgegen. Irrte ich mich oder hatte der seinen Blick ein bisschen zu lange über die unbedeckten Hautstellen schweifen lassen? Scheinbar sorgte das Kostüm neben aller Lächerlichkeit doch noch für ganz andere Fantasien.
»Ach, jetzt sei nicht so, Ulf!« Ich stieß mit ihm an und trank einen Schluck meines Cocktails. Herb und stark – genau, wie ich ihn mochte. »Du wusstest, worauf du dich eingelassen hast, als du mit Marco und mir gewettet hast.«
Ulf nuschelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und verschanzte sich dann hinter seiner Bierflasche.
Ich beschloss, ihn eine Weile in Ruhe zu lassen und verlegte mich darauf, das geschäftige Treiben auf der Tanzfläche zu beobachten. Immer wieder sah ich, wie Männer zu uns herüberblickten, wie sie Ulf mit Blicken maßen und sich dann grinsend abwandten. Oder wie sie unverhohlen auf ihn deuteten und ihren Freunden oder Betthäschen etwas zuriefen, woraufhin diese zu lachen begannen. Jepp, die Aufmerksamkeit war ihm definitiv gewiss. Da hatten Marco und ich wirklich ganze Arbeit geleistet!
»Kann ich nicht wenigstens diesen dämlichen Puschel abnehmen?«
»Auf keinen Fall! Du bist doch ein Engel und die haben nun mal einen Heiligenschein.«
Ulf seufzte schwer und trank noch einen Schluck Bier. »Wie lange muss ich noch so bleiben?«
»Solange wir hier sind!«
Ulf starrte mich an. »Moment. Hast du nicht gesagt, dass du einen Beutel mit nem Shirt und ner Hose für mich mitnimmst? Sag mir nicht, dass …«
Ich sah ihn gespielt schockiert an. »Habe ich das? Oh oh.« Ich hob die Hände. »Ich glaube, ich hab aus Versehen den Beutel mit deinen Klamotten stehen lassen, als wir los sind.«
»Das ist nicht dein Ernst!« Ulfs Stimme bebte.
Ich hob abwehrend die Hände und hatte alle Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen. Ich fühlte meine Mundwinkel zucken. »War keine Absicht.«
»Du bist so ein Arsch, Kaspar!«
»Hey! Was kann ich dafür, wenn du an deine eigenen Sachen nicht denkst?«
Ulf wollte etwas erwidern, doch dann schnaubte er nur wieder und trank Bier. Zwei junge Typen mit K-Pop-Frisur schwebten an uns vorbei und warfen Ulf halb amüsierte, halb aufreizende Blicke zu. Einer von ihnen schickte sogar ein Luftküsschen und ein Zwinkern hinterher. Dann waren sie zwischen den tanzenden Leibern im zuckenden Scheinwerferlicht verschwunden.
»Hey! Einen Whiskey on the rocks!«, rief Ulf in Richtung des Barmanns und stürzte das Getränk runter, sobald er es in der Hand hatte. »Noch einen!«
Auch dieser verschwand genauso schnell in Ulfs Kehle wie der zuvor. Den dritten drehte er eine Weile in der Hand.
Ich beobachtete ihn und war einen Moment lang nicht sicher, ob er sich aus Frust besaufen wollte oder ob er beschlossen hatte, diesen Abend mit genügend Alkohol aus seinem Gedächtnis zu streichen.
»Wie du willst, du kleiner schadenfroher W…üstling«, begann Ulf und ich wollte schon protestieren, dass einssechsundachtzig nicht unbedingt unter »klein« im Lexikon standen, aber er achtete nicht auf mich. »Wenn ich schon keine Wahl habe, dann kann ich den Mist ebenso gut auch genießen. Und du wirst schön an meiner Seite bleiben, damit mich keiner mit mehr als nur Blicken auszieht.«
Damit stellte er unsere beiden Gläser auf die Theke, packte mich am Kragen und zog mich mitten auf die Tanzfläche.
»Hey, was soll das? Ich will ni…«
Ulf schaute mich von oben herab an und lockerte seinen Griff nicht im Geringsten. »Warum soll nur ich mich zum Affen machen? Du hast mich in dieses alberne Kostüm gesteckt, also sorg dafür, dass ich am Ende der Nacht noch drin bin.«
Ohne Übergang löste er seine Finger aus meinem Shirt, warf die Arme in die Luft und tanzte mit ungeahntem Enthusiasmus zum aktuellen Song, der aus den Boxen an der Decke wummerte. Die schwitzenden, sich bewegenden Körper um mich herum, die flackernden Lichter, die viel zu laute Musik, der Rauch aus der Nebelmaschine und die Hitze machten mich benommen. Ich hasste es, auf der Tanzfläche zu sein. Ich hasste es und ich wusste, dass Ulf das wusste. Aber der tanzte vor sich hin und ließ es krachen, ohne auch nur einen Blick für mich übrig zu haben. Am liebsten wäre ich weggerannt, hätte mich an die Bar geflüchtet, zu meinem Cocktail, in Sicherheit, … aber ich spürte deutlich, dass das keine Option war. Ulf würde mich spätestens nach zehn Sekunden wieder genau hierher zurückschleifen.
Mitgehangen, mitgefangen.
Kurz überlegte ich, ob wir die Nacht einfach abkürzen und sofort nach Hause gehen sollten. Aber dann hätte sich der Spaß mit der verlorenen Wette kaum gelohnt und Marco, der vermutlich erst in einer oder zwei Stunden kam, hätte mein Werk überhaupt nicht bewundern können.
»Du sollst auf mich aufpassen, Mann!« Ulf stieß mich an und pflückte gleichzeitig ungerührt eine Hand, die weder zu mir noch zu ihm gehörte, von seiner Hüfte. »Und atmen könntest du auch mal wieder. Hab gehört, das soll helfen, um zu überleben!«
Er feixte mich an, aber seine Augen waren ernst. Erst jetzt merkte ich, dass ich wirklich in einer Art Schockstarre die Luft angehalten hatte. Gierig sog ich den spärlichen Sauerstoff in meine Lungen und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Einen fixen Punkt konnte ich mir in dem tanzenden und hüpfenden Gewühl nicht suchen. Aber Ulf war genau mir gegenüber. Und mein Blick suchte automatisch ihn in der Menschenmenge.
Ich beschloss, mich so gut es ging auf ihn zu konzentrieren und den Rest um mich herum einfach auszublenden. Mitgehangen, mitgefangen!
Als Ulf scheinbar sicher war, dass ich nicht umkippen würde und er mich nicht gleich wie ein rettender Engel aus dem Getümmel tragen musste, tanzte er weiter. Seine Bewegungen wurden immer ausladender, immer ausgefallener und es dauerte nicht lang, da bildete sich um uns herum eine Menschentraube. Einige klatschten und johlten, als der Engel-Bär während eines Refrains eine besonders energiegeladene Performance ablieferte und kokett die unbedeckten Hüften schüttelte, das Röckchen fliegen ließ und mit den Flügeln wippte.
Immerhin hatte ich so ein bisschen mehr Platz um mich herum und außerdem eine ganz gute Sicht auf das, was um Ulf herum so vor sich ging. Und wenn irgendein fremder Typ versuchte, ihm unters Röckchen zu fassen, seine Brust zu berühren oder an seinen Flügeln zu ziehen, schob ich mich beherzt zwischen sie und tanzte meinen Engel-Bären an, drängte den Grabscher weg und drückte Ulf einen Kuss auf die Lippen. Hände weg von meinem Mann – egal, wie witzig oder heiß er aussah!
So ging es weiter – mit kurzen Pausen, in denen wir am Tresen verschnauften und unseren Durst mit dem einen oder anderen hochprozentigen Getränk löschten –, bis Marco durch die Clubtüren trat. Er musste uns direkt auf der Tanzfläche ausgemacht haben, denn er brach in so lautes Gelächter aus, dass ich hochsah und ihn keinen Meter hinter der Eingangstür stehen sah. Er brauchte ein paar Minuten und ein halbes Bier, bis er sich beruhigt hatte, doch dann gesellte er sich zu uns auf die Tanzfläche.
»Gute Arbeit, Kaspar!«, lobte er mich, als wir erschöpft zusammen an der Bar standen und zupfte an Ulfs Engelsflügeln, die schon reichlich derangiert waren. Das Röckchen war durch das heftige Tanzen verrutscht und das Oberteil sah auch nicht aus, als würde es Ulfs Bärenkraft noch besonders lange standhalten. Aber wenn ich meinen – und seinen – Alkoholpegel richtig einschätzte, musste es das auch nicht mehr.
»Danke, hat auch lange genug gedauert!« Meine Zunge fühlte sich langsam so schwer an wie meine Glieder. Ich war es echt nicht gewohnt, so viel zu tanzen. Aber was tat man nicht alles, um sein Engelchen vor den vielen Lustmolchen zu beschützen.
Ulf schien auch gar nicht mehr so ein großes Problem mit seinem Outfit zu haben. In der letzten halben Stunde hatte er richtig fröhlich und ausgelassen gewirkt. Trotzdem sah auch er aus, als wäre die Nacht nun lang genug gewesen.
»Ich glaube, wir machen nun langsam die Biege. Die Wettschuld ist jedenfalls doppelt und dreifach beglichen.«
Marco nickte zu meinen Worten und ich zog an Ulfs Goldkleidchen.
»Lass uns nach Hause gehen, Engelchen. Dann befreie ich dich von allem Übel.«
Ulf erwiderte mein Grinsen und Marco wandte sich mit einem Lachen und einem »Sucht euch bloß ein Zimmer, ihr verdammten Turteltauben!« ab.
»Kann's kaum erwarten, dass du mich aus diesem Fummel befreist, mein kleiner heiliger König.«
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Hier gibt es noch eine kleine Geschichte mit den beiden:
https://belletristica.com/de/books/20354-60-minuten-geschichten/chapter/99475-2020-04-22-himmelblau