»Das Ding ist ja nicht mehr als eine Nussschale«, stellte Ulf fest. Das himmelblaue Kanu, das am Holzsteg zu ihren Füßen festgemacht war, schaukelte kaum merklich in der Strömung. Die beiden Paddel hatten sie aus der Hütte geholt.
Kaspar zuckte die Schultern. »Das ist die Standardgröße. Du bist einfach nur zu riesig.«
Ulf verschränkte die Arme und richtete sich zu seiner vollen Größe von einsvierundneunzig auf. »Da pass ich nicht rein.«
Als hätte Kaspar noch nicht selbst daran gedacht!
»Ach, komm, lass es uns doch erst mal versuchen. Setz dich mal rein, ich halte es fest.«
Ulf schnaubte widerwillig, legte aber sein Paddel auf dem Steg ab und setzte einen Fuß in das Kunststoffgefährt. Als er ganz hineingestiegen war, begann das Kanu bedrohlich zu schwanken.
»Setz dich hin!«, kommandierte Kaspar und bemühte sich, die Bewegungen von Ulf vom Ufer aus auszugleichen.
»Das sagst du so leicht«, grummelte Ulf in bester Schlecht-gelaunter-Bär-Manier zurück und versuchte, seinen zu breiten Unterleib und seine zu langen Beine zwischen seiner eigenen Sitzschale und dem vorderen Sitz zu platzieren. Nach einer Runde Körper-Origami hatte er es geschafft und kam mit angezogenen Knien und finsterem Gesichtsausdruck zum Sitzen. Obwohl diese Haltung allein schon maximal unbequem aussah, machte das Paddel, das Kaspar ihm anreichte, diesen Eindruck noch schlimmer. Ulf klemmte es sich irgendwie zwischen Knie und Brust und schnaubte erneut.
Kaspar beeilte sich, die Vertäuung zu lösen und ebenfalls ins Kanu zu klettern. Er streckte seine Beine in die Schnauze des Gefährts und griff nach seinem eigenen Paddel.
Ohne ein weiteres Wort stießen sie sich vom Steg ab und manövrierten sich in die Mitte des Fließes. Der erste Teil der Strecke würde sie mit der leichten Strömung führen, sodass sie Zeit hatten, sich an diese Form der Fortbewegung zu gewöhnen.
»Immer abwechselnd: Links, rechts, links, rechts«, dirigierte Kaspar und tauchte sein Paddel in der angegebenen Reihenfolge ins Wasser.
»Hmpf«, kam es von hinten und Ulf tat es ihm gleich.
Schnell fanden sie ihren Rhythmus und ließen das Wassergrundstück von Kaspars Onkel hinter sich. Sie folgten dem Fließ, das sich in beinahe geradem Lauf durch die Wiesen und Felder schlängelte. Das Ufer war gesäumt von knorrigen Weiden und Erlen, stolzen Eichen und filigranen Birken, die ihren Weg angenehm beschatteten. Wasserläufer und Libellen huschten vor ihnen vorbei, im Sonnenlicht über einer Grasfläche tanzten Mückenschwärme. Vogelgezwitscher und das beharrliche Klopfen eines Spechtes lagen in der Luft, die Paddel verursachten ein plätscherndes Geräusch, wenn Kaspar und Ulf sie ins Wasser tauchten – ansonsten war es still.
An der ersten Biegung schreckten sie ein Entenpärchen auf, das zwischen Entengrütze und einer großen Wurzel im Wasser gedümpelt hatte. Noch ein paar Meter schwammen die beiden Vögel vor ihnen her, bis sie mit den Flügeln schlugen und das Weite suchten.
Der stete Rhythmus der Paddel gab den Takt vor, in dem sie sich durch die Landschaft bewegten. Obwohl es noch nicht Sommer war, schien die Natur um sie herum mit aller Macht zu explodieren – überall grünte und blühte es, üppige Grasflächen wechselten sich ab mit Mischwaldstreifen, in denen der würzige Duft des Waldes sich mit dem charakteristischen Geruch der Wasserwelt vermischte.
»Danke, dass du mitgekommen bist«, sagte Kaspar, als sie nach einem kurvenreichen Stück wieder in einen geraden Spreearm einbogen. Über ihnen spannte sich das weite Blau des Himmels, nur durchbrochen durch einzelne Äste am Ufer stehender Bäume. »Ich musste wirklich mal raus, in der Stadt ist mir die Decke auf den Kopf gefallen.«
»Ist wirklich schön hier«, brummte Ulf.
Kaspar schmunzelte bei diesen Worten.
»Hier bin ich aufgewachsen. Früher war ich oft mit meinem Onkel, meinen Eltern und meinen zwei Cousinen im Sommer paddeln. Manchmal sind wir auch im Winter Kahn gefahren. Aber paddeln ist schöner, da ist man flexibler.«
»Na ja, vielleicht wenn man so ein halbes Hemd ist, wie du«, gab Ulf zurück, aber er klang nicht böse.
Kaspar warf einen Blick über die Schulter zurück. »Tut mir leid, mein Onkel hat leider nur dieses Kanu und noch zwei grüne, die genauso groß sind. Bei einem Verleih gibt auch größere, aber die haben ja alle gerade nicht geöffnet.«
»Hmpf. Schon gut. Ich werd's schon überleben. Zur Not massierst du mich nachher ausgiebig.«
Kaspar lachte. »Daran soll's nicht scheitern!«
Schweigend paddelten sie noch eine Weile, bis sie in ein Fließ abbogen, in dem sie ein Stück gegen die Strömung ankämpfen mussten. Auch der nächste Arm der Spree floss ihnen entgegen und die beiden Männer konzentrierten sich darauf, von der Stelle zu kommen. Ein verirrtes Blesshuhn überholte sie in gebührendem Abstand und verschwand in der tief herabhängenden Uferböschung.
»Unfair«, brummte Ulf, bemüht, ihren Paddelrhythmus beizubehalten. »Wieso macht dem das nix aus?«
Kaspar grinste und versuchte, das schwarze Federkleid des Blesshuhns hinter dem Grasschleier auszumachen, aber vergeblich. »Da vorne ist schon das Eschenfließ. Da fahren wir dann wieder mit der Strömung.«
»Unglaublich, wie du dich hier auskennst. Ich hab schon nach der zweiten Kurve die Orientierung verloren.«
»Hier hab ich meine halbe Kindheit verbracht. Ist wie nach Hause kommen. Da weiß ich ja auch, wo das Schlafzimmer und die Küche sind.«
»Mag ja sein, aber in unserer Wohnung gibt es deutlich weniger Möglichkeiten, falsch abzubiegen!«
Sie lachten, dann bogen sie ins Eschenfließ ab und ließen sich eine Weile mit der Strömung treiben.
Die Landschaft zog in Zeitlupe an ihnen vorbei, Kaspar korrigierte nur ab und an den Kurs, wenn sie zu nah ans Ufer zu treiben drohten. Eine Libelle tanzte vorm Bug des Kanus umher. Kaspar beobachtete ihren Zickzackflug eine Weile, dann verschwand sie aus seinem Blickfeld.
»Ich hab uns ein paar belegte Brote gemacht und was zu trinken habe ich auch eingepackt. Lass uns noch ein bisschen am Steg picknicken, wenn wir zurück sind.«
»Hab mich schon gewundert, was in der Tasche war«, erwiderte Ulf. »Können wir gern machen.«
Kaspar tauchte wieder sein Paddel ins Wasser und trieb das Kanu zurück in die Mitte des Flüsschens.
»Wir können auch gern bis zum Abend bleiben, wenn du willst. Mir gefällt's hier auch richtig gut und ich hab gar keine Lust, so schnell wieder in den Großstadtdschungel zurückzufahren. Also, solange ich nicht den ganzen Tag in diesem Miniaturboot sitzen muss.«
»Lieber nicht«, gab Kaspar zurück.
»Was?«
»Bis zum Abend zu bleiben, ist keine so gute Idee.« Kaspar drehte sich mit einem Grinsen zu Ulf um. »Zumindest wenn man, so wie wir, kein Antimückenspray dabei hat. Glaub mir, die Viecher sind blutrünstiger als eine Horde ausgehungerter Vampire.«
»Na, dann müssen wir eben ganz bald wiederkommen. Mit Spray.«
»Gerne.«
Damit nahmen sie ihren Rhythmus wieder auf und machten sich auf den Rückweg.
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Hier gibt es noch eine kleine Geschichte mit den beiden: