Genre: Elensar, semi-fanfiction, Fantasy
"... und damit beenden wir die heutige Stunde. Vergesst nicht eure Hausübungen über das Wochenende zu erledigen!"
Die mahnende Stimme des Lehrers verfolgte Shanora noch, als sie ihren Klassenkameraden zur Tür hinaus folgte. Einen Stapel Bücher an ihre Brust gedrückt, während der Riemen ihrer schweren Tasche schmerzhaft in ihre Schulter schnitt. Sie musste wirklich aufhören, so viele Bücher aus der Bibliothek zu entlehnen. Gerade war sie aber nur dankbar, dass endlich Freitag war und die letzte Stunde vorübergegangen war. Ihr am Morgen ordentlich geflochtener Zopf löste sich bereits auf und ihre Krawatte saß ein wenig schief.
"Kannst du glauben, dass die uns tatsächlich drei Aufsätze aufgedrückt hat?", hörte Shanora ein Mädchen, das ihr rotes Haar theatralisch in den Nacken warf, "Als hätten wir nichts Besseres zu tun! Ich wollte nach Hogsmead gehen und dort eine neue Haarspange kaufen."
Shans türkise Augen schielten einen Moment zur Sprecherin hinüber und verdrehten sich genervt. Klar, Haarspangen, Süßigkeiten und Schminkzeug. Die konnten sich ja wenigstens ein schönes Wochenende machen neben den paar Hausübungen. Sie hingegen...
"Na Schwesterchen, bereit zum Zug zu laufen?", Finn tauchte mit einem breiten Grinsen neben ihr auf, schnappte sich ihre Bücher und stopfte sie in seine eigene Tasche, "Es geht für ein paar Tage nach Hause. Ist das nicht großartig?"
"Ja. Großartig. Doppelte Hausaufgaben und Prinzessinnenunterricht", stöhnte Shan und legte den Kopf in den Nacken, "Hört sich grandios an. Wirklich... Alles, was ich will, ist ein normales, langweiliges Wochenende, statt heimzufahren, weiterzulernen und extra Aufgaben, weil wir erst Dienstag wieder herfahren."
Finns Grinsen verwandelte sich prompt in ein mitfühlendes Lächeln. Das hatte er glatt vergessen. Während er mit Church im Garten abhängen konnte, musste seine kleine Schwester über heimatlichen Lektüren brüten.
"Wir könnten das Ganze ja etwas beschleunigen, in dem wir dein Armband benutzen", raunte er ihr aus dem Mundwinkel zu, "Damit ersparen wir uns eine Zugfahrt und ich helfe dir mit den Hausaufgaben, damit du auch mal Freizeit genießen kannst."
Shanoras Miene erhellte sich: "Das Armband..."
Sie warf ihm einen verschwörerischen Blick zu und war plötzlich viel motivierter, die Strecke zum Zug zurückzulegen.
Außerhalb der magischen Barriere von Hogwarts konnte sie ihr Schlangenarmband aus der Tasche holen und überstreifen.
"Dann wollen wir mal. Ladira wird böse sein, oder?", sie hob fragend eine Braue, "Ach, was soll's. Ich will ausschlafen." Shanora tippte ihr Armband an, das zum Leben erwachte, sich erwärmte und sich wie eine echte Schlange um ihr Handgelenk wand und einen Schlüssel preis gab, den die Schülerin in das kleine Schloss eines Schuppens am Bahnsteig steckte, um dessen Tür zu öffnen. Eine flirrende, leuchtende Öffnung tat sich auf und Shanora griff nach Finns Hand, um gemeinsam mit ihm hindurch zu gehen. Ihren Berechnungen nach, dürften sie direkt in ihrem Zimmer im Landhaus in Elensar landen.
Kühle Luft streifte ihre Wangen und zerzauste ihre ungleichmäßigen Stirnfransen des rabenschwarzen Haares. Sie blinzelte. Hatte jemand ein Fenster offen gelassen, dass es so zog?
"Das... Ist nicht Elensar", merkte Finn in einem seltsamen Tonfall an und Shanora öffnete die Augen und starrte in die Tiefe. Der Wind rauschte um sie herum und sie sah weit, sehr weit, unter sich kleine Menschen in einem Park. Stahlstreben bauten sich hinter und unter ihr auf zu dem berühmtesten Gerüst in der Geschichte der Menschheit, der Pariser Eiffelturm. Sie standen unterhalb der obersten Spitze auf einem Querbalken. Unter sich die gähnende Leere.
"Ähhhhh... Da hab ich mich ordentlich verhext", sie schluckte und drückte sich gegen einen der Streben, "Es scheint zumindest das richtige Jahrhundert zu sein?"
"Ich dachte, du hättest gelernt, wie man diese magischen Portale öffnet?!"
"Habe ich auch. Naja... So halb. Ich hatte viel zu tun!"
"Was heiß so halb?", Finn tastete sich vorsichtig vor, um einen Weg hinunter zu finden, "Du hast uns auf die Spitze eines Monuments gezaubert und offenbar außerhalb der Reichweite des Aufzugs."
"Verflixt.", Shanora kramte mit einer Hand in ihrer Umhängetasche. Irgendwo musste es doch sein... Selbst, wenn sie es irgendwie zum Aufzug schaffen sollten, sie trugen noch immer ihre Schuluniformen und würden damit noch mehr Aufmerksamkeit erregen als ohnehin.
"Ah. Hier. Finn, nimm meine Hand und halt das hier!", sie hielt ihm ein kleines Schloss hin. Es würde ausreichen, um ein Portal zu öffnen.
"Was willst du denn damit?", der blonde Junge nahm jedoch wie gefordert das Schloss und hielt es bereit, mit der anderen Hand fasste er Shanoras freie Hand. Der Wind blies kräftig um sie und brachte beide ins Wanken.
"Beeil dich oder wir machen Bekanntschaft mit dem Asphalt unter uns!", drängelte er und kniff die Augen zusammen, in die Tränen schossen. Seit sie hier gelandet waren, rauschte das Adrenalin durch seinen Körper.
"Durch!", schrie Shanora, als ein grün leuchtendes Portal vor ihnen erschien. Ein Schritt daneben und sie würden in den Abgrund stürzen.
Sie sprangen und fielen.
"Autsch...", brummte Shanora und rollte sich auf den Rücken. Ihre Hände, die den Aufprall abgefangen hatten und ihre Knie schmerzten. Über ihr blauer Himmel und kleine Wolken. Das war auch nicht ihr Zimmer...
"Auf ein Neues", Finn rappelte sich auf und klopfte den Dreck von seiner Hose, bevor er Shanora auf die Beine half.
Seine Schwester nickte zustimmend und steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um...
Es war spät geworden. Shanora lehnte sich müde an Finn. Ihrer beider Haar war vollständig zerzaust und nass, denn ein Portal hatte sie ins Meer beordert. Zum Glück an die Küste und mit viel Glück würden die Bücher noch zu retten sein, wenn sie nach Hause gelangten. Saphira konnte da sicher helfen und das Wasser aus ihnen herausziehen.
Wenn...
"Ich schlage nie wieder etwas vor.", brummte Finn und fuhr sich durchs Gesicht, "Das waren die chinesische Mauer, Tibet, der Wiener Prater, die Pyramiden, Hawaii und ... Wo genau sind wir jetzt?"
"Irgendein Wald... Zumindest sehe ich nur Bäume." Shanora seufzte tief.
"Das ist doch verhext! Normalerweise funktioniert das Armband zuverlässig und führt mich nicht ständig an irgendwelche komische Orte."
"Wir hätten auf Hawaii bleiben sollen. Da war es schön...", murmelte ihr Bruder, "Sonnig, warm, Kokosnüsse..."
"Hübsche Mädchen mit Blumenkranz und Bastrock", lachte Shanora, "Das wäre dein einziger Grund für Hawaii!"
"Ey! Die Hängematte war auch cool", erwiderte Finn, während die peinliche Röte in seine Wangen schoss.
"Wie auch immer... Wir sollten hier ein Nachtlager einrichten. Ich bin zu müde, um es noch mal zu versuchen."
"Oder ihr kommt mit mir mit."
Die sanfte, vertraute Stimme ließ beide hochfahren und sich umdrehen, denn sie kam aus dem Baum hinter ihnen.
Das Gesicht einer hübschen Frau mit grünen Augen blickte ihnen entgegen und zwei Hände wuchsen aus der Rinde des Baumes, streckten sich nach den Geschwistern aus.
"Ich habe euch überall gesucht, seit ihr nicht am Bahnsteig aufgetaucht seid", lächelte Mari und ihre Gestalt schälte sich allmählich aus dem Baum. Sie blieb mit ihrem langen grünen Haar verwachsen.
"Na kommt. Gehen wir nach Hause", sie fasste Shanora und Finn bei den Händen und zog sie mit sich zurück in den Baum, mit dem die beiden verblüfft verschmolzen, nur um im Garten ihres Zuhauses wieder aufzutauchen.
"Shan! Finn! Wo zum Henker wart ihr?!", gellte Ladiras wütende Stimme, "Ich bekomme noch weiße Haare wegen euch beiden! Hatte ich nicht gesagt, ihr sollt den Zug nehmen?"
"Wir... wollten ein wenig abkürzen", nuschelte Shanora kleinlaut.
"Es war meine Schuld. Ich habe es vorgeschlagen", beeilte Finn sich zu sagen.
"Quatsch, es war meine. Ich hätte mehr üben sollen mit dem Schlangenband und ..."
"Hausarrest. Für euch beide!", Ladira stemmte die Arme in die Hüften, "Ab auf euer Zimmer! Zieht euch um und kommt zum Essen runter. Morgen lasse ich die Bibliothekarin nach einem Buch suchen, das sich mit dem Ding auskennt. Dann solltest du dich in Zukunft nicht mehr so leicht verhexen."
Ihre blauen Augen funkelten beide wütend an, doch sie war in Wahrheit erleichtert, ihre beiden Zöglinge wohlbehalten Zuhause zu wissen.
"Dann muss Mari euch nicht ständig in der gesamten Weltgeschichte suchen gehen."