nachgeschrieben am 21.01.2020
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Sie liegt im Bett und schließt die Augen, rollt sich eng ein. Der Tag war lang und ihr Herz ist schwer. So viele Dingen geschehen jeden Tag und ihr schlechtes Gewissen plagt sie, wenn sie nicht weiterkommt, weil ihr Körper sie lähmt und die Gedanken wie durch Teer waten. Nun versinkt sie und taucht in eine andere Welt ein. Wohin wird es sie diesmal führen? Ihre Träume sind oft sehr real...
Sonnenstrahlen fielen blass durch das schmutzige Fensterglas. Im Schein tanzten die Staubflocken wie Glitter, den jemand verschüttet hatte.
Sacht streifen ihre Finger über den niedrigen Tisch, der mitten im Raum steht. Warmes Holz und eingelegte Fliesen. Ein Schauer überkommt sie. Ein Gefühl der Vertrautheit und sie wendet den Blick, um sich umzusehen. Da war es, so wie sie es kannte. Das Zimmer mit der dunkelgrünen Couch, den großen Polstern und dem farblich dazu passenden, gemütlichen Sessel, auf dem sie sich so manches Mal zusammengerollt hatte. Der Schrank mit seinen hellen Holztüren und der Schreibtisch samt Stuhl am Fenster, dessen Schnitzereien sie schon immer wunderschön fand. Neben anderen Pflanzen steht ein großer Kaktus auf dem Tisch. Seine Zweige wuchern aus dem Topf. Es ist ein Weihnachtskaktus, alt und schön. Nicht zu Weihnachten blühend, jedoch kennt sie seine rosaroten Blüten und sie tritt näher, um ihn zu genauer zu begutachten. Es ist nur ein Traum.
Sie zieht die Finger zurück und vor ihr erscheinen Bilder aus der Vergangenheit. Lachen und das Kratzen von Stiften klingen an ihr Ohr. Es waren zwei Mädchen, die kichernd die Couch zum Bett ausziehen und ihr lachsfarbenes Inneres enthüllen. Der Kampf mit dem braunen Spannbettlaken, auf das immer bestanden wurde, folgt. Sie turnen darauf, lassen sich fallen und strecken alle Viere von sich. Ihr Blick geht an die Decke zum braunen Lampenschirm. Die Szene wechselt und die Mädchen sitzen nun nebeneinander an dem kleinen Tisch, wo sich auf einmal Stiftboxen und Collegeblöcke türmen.
Sie kann nicht anders als zu lächeln. Dieser Ort existiert nicht mehr.
In Wahrheit steht dieser Tisch in ihrem Keller und wartet auf den Tag, an dem er wieder genutzt wird.
Dies ist nur ein Traum, in dem sie wandelt und die Mädchen verblassen. Verschwinden. Der Raum löst sich auf.
"Komm zu mir."
Eine Stimme ruft nach ihr. Der Boden verschwindet in Rauch. Sie dreht sich im Kreis.
"Komm zu mir, Schatzal."
Die Tür...
Sie ist noch hier. Sie kennt ihre lebhaften Träume nur zu gut, doch kann sie jene nie steuern. Sich in ihnen frei bewegen jedoch schon. So erwischt sie die Türklinge, die ihr so vertraut ist, dass sie das kühle Metall spüren kann. Sie erinnert sich daran, wie oft sie und ihre Freundin den Schlüssel umgedreht haben. Noch öfter, wie sie die Uhr neben der Tür manipulierten, nur um ein wenig mehr Zeit zu haben.
Zeit... Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit dir gehabt, schießt es ihr durch den Kopf und sie tritt durch die Tür. Der kleine Flur mit seiner Garderobe und der Weg in die Küche mit dem Ofen und der Eckbank. Selbst der knarrende Boden ist hier, doch die Stimme fehlt.
Sie sucht danach, folgt dem Rufen und steht auf einmal im Schlafzimmer. Die Stimme hockt am Bett mit ihrem blauen Schürzenkleid und den kurzen, dichten Locken, die vorne ergraut, ja schon fast weiß sind, doch hinten sind sie noch immer dunkel.
Wärest du jemals komplett grau geworden, Oma?
"Hallo..."
Träume können dich trügen. Dinge können anders sein, als sie sein sollten. Jeden Moment kann sich was ändern, wie im echten Leben, doch viel schneller und brutaler.
Die alte Frau lächelt ihr zu und streckt die Arme aus.
Sie beginnt zu laufen, denn die Distanz wird immer weiter, mit jedem Schritt dehnt sich der Raum mehr. Sie springt, ja, fliegt regelrecht.
Ich will zu dir. Du fehlst mir so sehr. Jeden Tag. Bitte lass mich zu dir.
Da.
Ihre Hand. Sie hat es geschafft und kommt neben der Frau zu ruh.
"Du schaffst das, Schatzal", erklingt die Stimme und alles wird schwarz.
Ein lautes Maunzen ihres Katers holt sie zurück in die Realität. Es ist mitten in der Nacht oder früher Morgen. Zumindest ist es noch dunkel. Sie sitzt aufrecht im Bett und spürt noch immer die andere Hand in ihrer eigenen, die ihr ganzes Leben über fest zugedrückt hatte und Tränen schießen ihr in die Augen.