Ich sah ein gedankenverlorenes Lächeln über Minas Gesicht huschen, als ich an diesen Teil der Geschichte gelangte. Mir fiel auf, dass sie mir bis zu diesem Tage nicht verraten hatte, warum sie das Wort für uns in dem Moment ergriff, in dem ich mich schon von einem mächtigen Geschoss an die Wand des Zwingers geschleudert sah. Womöglich wusste sie es selbst nicht genau und war einfach ihrer Intuition gefolgt.
Auch die anderen überkam eine rührselige Stimmung, als wir an die Anfänge unserer gemeinsamen Zeit zurückdachten. Ich ließ meinen Blick wandern, zu Hiskam und Rualab, die mich bübisch angrinsten, zu Isengrim, die lächelnd nickte, Marius, der verschüchtert, aber stolz in seinem Stuhl zusammengesunken war und schließlich Hidda, deren glasige Augen auf mir ruhten und beinahe verträumt aussah.
***
"Und das, denkt ihr, ist wirklich notwendig?", murmelte ich zu Hiskam und Rualab, die gerade dabei waren, das Geschirr auf meinem Rücken festzuzurren. Improvisiert hatten sie meine neue Rüstung bezeichnet. Allmählich beschlich mich das Gefühl, dieses Konzept stand im Mittelpunkt allen menschlichen Handelns.
"Klar, Dicker! Wirst noch froh sein, sowas zu haben!", beteuerte Rualab.
"Hey, ich bin nicht dick!", maulte ich. Die beiden verfielen in kindisches Gelächter.
"Aber eins... muss man... Hidda zugutehalten", keuchte Hiskam außer Atem. Er hatte offenbar Mühe, die schweren Verschlüsse zu seiner Zufriedenheit einzustellen. "Das war ein guter Einfall. Eisenplatten... an einem Ochsengeschirr zu befestigen...? So! Fertig." Die beiden klatschten in die Hände und sprangen von dem Karren herunter und umrundeten mich, um ihr Werk zu begutachten.
"Steht dir ausgezeichnet", urteilte Hiskam.
"Macht auch 'ne schlanke Linie!", grinste Rualab. Ich machte einen plötzlichen Ausfallschritt und tat so, als würde ich nach ihm greifen wollen. Lachend sprang er zur Seite und rette sich geschickt mit einer Rolle aus meiner Reichweite. Auch ich schaffte es nicht, mir ein Grinsen zu verkneifen.
Ich mochte die beiden von Anfang an. Sie waren die einzigen, die meine Aufnahme in die Lintbrut nicht für eine schlechte Idee hielten, mir nicht mit Argwohn und Skepsis begegneten. Noch ahnte ich jedoch nichts von der tiefen Freundschaft, zu der unsere Bekanntschaft irgendwann heranwachsen sollte.
Ich prüfte meine Bewegungsfreiheit, den Schwerpunkt meiner neuen Rüstung, machte einige trockene Fausthiebe. "Das ist gute Arbeit.“
Auch Morg brummte seine Zustimmung.
"Nicht wahr? Hidda ist ein wahrer Technicus. Aber mit etwas hat sie sich sogar selbst übertroffen. Komm mit!", sagte Rualab und bedeutete mir, zu folgen.
Ich duckte mich unter dem Vordach des Stalls hindurch, der Morgs und meine vorübergehende Behausung darstellte, und folgte den Männern. Sie gingen schnurstracks auf die einfache Schmiede zu, einem Ort, an dem man Metalle schmelzen und formen konnte. Wir bogen um die Ecke und ich erblickte Hidda, die tief über ein etwa zwei Schritt langes Objekt gebeugt war.
"Hid, wie kommst du voran?", flötete Hiskam.
Ein entnervtes Stöhnen entfuhr ihr, als sie sich aufrichtete und sich uns zuwandte.
Hidda hatte sich bis zu diesem Moment rar gemacht. Wenn ich abends mit Hiskam und Rualab bei einem Bier zusammensaß, mit Isengrim und Marius Kampftaktiken übte oder Minas Lektionen zu gesellschaftlichen Verhältnissen lauschte, war sie nie dabei gewesen. Ich hatte es immer darauf geschoben, dass sie uns nicht mochte. Welch ein Narr ich doch gewesen bin!
Zum ersten Mal überhaupt nahm ich die großgewachsene Frau in diesem Moment tatsächlich wahr. Unter ihren dicken Lederhandschuhen kamen feingliedrige Finger zum Vorschein, mit denen sie eine Art Schutzbrille von ihrem rußverschmierten Gesicht streifte. Darunter kamen tiefgrüne, runde Augen zum Vorschein, die mich mit einer Mischung aus Überraschung, Interesse und Argwohn musterten. Sie hielt einen Moment inne, schien in meinem Gesicht etwas zu suchen. Dann gab sie sich einen Ruck, streifte die Lederschürze ab und warf sie zur Seite.
"Wenn ihr mir nicht so auf die Nerven gehen würdet, wäre ich schon längst fertig!"
Sie wendete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Objekt zu und betrachtete es mit in die Hüften gestemmten Händen.
"Aber ich denke, es ist vollbracht." Stolz zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.
"Und an was arbeitest du?", fragte ich.
Sie schielte zu mir herüber und betrachtete mich von oben bis unten. "Deine Rüstung hast du also schon? Nun, dann fehlt ja nur noch eins." Sie trat einen Schritt zurück und deutete auf den Gegenstand, der in der trüben Mittagssonne leicht glänzte. "Deine Waffe."
"Waffe? Du meinst...? Aber wozu, ich kann doch mit den Händen...?"
"Grom, sei still. Und nimm sie", unterbrach Rualab mich.
Mit zögerlichem Schritt trat ich auf die Vorrichtung zu, auf der die Waffe lag. Sie war riesig, etwa drei Mal so lang wie das längste Schwert, das ich je an einem der Menschen gesehen hatte. Und doch war es kein Schwert, eher ein überdimensionierter Hammer.
"So etwas habe ich noch nie gesehen."
"Nimm ihn mal in die Hand!", ermutigte Hidda mit einem Lachen. Ich umfasste den dicken, mit Lederriemen umwickelten Griff und hob die Waffe in die Höhe. Der schwere, eiserne Kopf löste sich mit einem dumpfen Klingen vom Tisch. Der Schwerpunkt lag schwer in unseren Händen, bedeutete rohe Gewalt und brachiale Zerstörung.
"Das ist ein Streithammer", erläuterte sie. "Dafür konzipiert, Rüstungen und Körper mit stumpfer Kraft zu zerschmettern. Ich dachte, das wäre genau das richtige. Ist doch nicht zu schwer für dich, oder?"
Als ich zu Morg herüberblickte und sein kindliches, zufriedenes Grinsen sah, wusste ich die Antwort.
Als ich ein wenig später mit den dreien zum Rest der Drachenjäger stieß, bemerkte ich, dass wir Besuch hatten. Eine kleine Menschenmenge hatte sich bei unseren Unterkünften gesammelt und redete auf Mina ein. Meine Schritte mussten uns wohl verraten haben, denn die Gespräche verstummten plötzlich und alle sahen zu uns herüber. Die schwere Plattenrüstung klirrte leicht bei jedem Schritt und Morg hatte sich den Streithammer lässig über die Schulter geworfen. Große Augen stierten uns an, einige der Menschen wichen unsicher ein paar Schritte zurück.
"Verdammt nochmal, ich hoffe ihr wisst, was ihr tut", stammelte jemand.
"Wie kann man nur so dumm sein, dieses Biest zu bewaffnen? Es wird uns alle plattwalzen!", stotterte ein anderer.
"Mina, wenn das schiefgeht, dann stehst du dafür gerade." Das war die Stimme von Hendrik. Es war das erste Mal, dass ich ihn nicht als schemenhaften Umriss, sondern bei vollem Tageslicht sah. Ein ernster Mann mit harten Gesichtszügen. Er schien nervös zu sein.
"Das... wird es nicht", antwortete sie, verzweifelt um Überzeugung in ihrer eigenen Stimme bemüht.
"Nun, nun!", versuchte ich zu beschwichtigen. "Ich gehöre doch jetzt zu euch! Sorgt euch nicht. Aber auch ich würde gerne allmählich wissen: Warum habt ihr mich bewaffnet?"
"Das kann dir Mina erklären", erwiderte Hendrik. Er kam ein paar Schritte auf mich zu und starrte zu mir herauf. "Aber eins sage ich dir. Ich traue dir nicht. Das alles hier", er gestikulierte fuchtelnd in meine Richtung und die der anderen Drachenjäger, "war Minas Idee. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir dich schon längst ausgestopft und als Kuriosität in des Königs Thronsaal gestellt."
"Das ist jetzt aber nicht sehr-", wollte ich erwidern.
"Und nur damit du es weißt, selbst wenn du dich beweisen solltest, wird sich daran nichts ändern." Er spuckte und aus, machte auf dem Absatz kehrt, bestieg sein Pferd und machte sich mit seinem Stab davon.
"Ich glaube, er mag dich", spottete Hidda.
"Meinst du? Ich finde, er hat recht", mischte sich Muonn ein und warf mir einen unterkühlten Blick zu.
"Oh man, du gehst zum Lachen aber auch auf den Heuboden, oder? Rostbeule?", ätzte Hidda zurück.
"Ich habe gesagt, du sollst mich verdammt nochmal nicht so-", brauste Muonn auf.
"Ruhe jetzt! Alle beide!", donnerte Mina. Das Geräusch zuklappender Münder quittierten ihren Befehl. Sie kam auf mich zu und nahm Morg und mich in Augenschein. "Wie geht's dir in deiner neuen Kleidung?"
Die Frage überraschte mich ein wenig. Wann mich das letzte Mal jemand nach meinem Befinden gefragt hatte, musste schon etliche Winterzyklen her sein.
"Ähm, gut." Minas braune Augen schienen mich wie zwei Dolche zu durchbohren. Aber nicht auf eine unangenehme Art. Ich wich ihrem Blick aus. "Sehr gute Arbeit, ich danke euch. Aber ich weiß immer noch nicht, gegen wen wir überhaupt kämpfen."
Die Andeutung eines Lächelns machte sich auf ihrem Gesicht breit. "Wusste ich auch nicht. Bis eben. Leute!", bellte sie an alle gerichtet. Marius und Isengrim gesellten sich neugierig dazu.
"Wir haben unseren ersten Auftrag. Der ehrwürdige Bürgermeister hat mir eben einen Brief überreicht, vom König höchstselbst. Etwas ist faul in Tandula und er hat uns gebeten, dort einmal nach dem Rechten zu schauen. Nun, nicht wirklich gebeten, ihr wisst ja wie das läuft."
Hidda kicherte.
"Also, packt eure Siebensachen und wir machen uns heute Abend noch auf den Weg."
"Oh man, Mina, können wir nicht morgen früh...?", maulte Marius.
"Nichts da. Wenn du es bis jetzt nicht ins Bordell geschafft hast, hast du eben Pech gehabt." Sie schielte in die hochstehende Mittagssonne. "Ihr habt zwei Stunden." Aufgeregtes Gemurmel griff um sich, als wir auseinandergingen.
"Entschuldige, Mina", hakte ich nach. "Aber was genau heißt das, etwas ist faul? Was sollen wir tun?"
"Nun, es ist ganz einfach: Ihr kommt mit uns und tut, was ich sage. Nicht weniger und insbesondere auch nicht mehr."
"Sind wir so eine Art Ordnungshüter?", wollte ich es genauer wissen.
Wieder dieses Lächeln, als Mina gemütlich den Kopf schüttelte. In einem Tonfall, in dem sie wahrscheinlich einem kleinen Kind ihren Beruf erklären würde, jedoch nicht auf eine herablassende Art, führte sie aus: "Unser Name, Drachenjäger. Was meinst du, woher kommt der?"
Ich schaute sie ratlos an.
"Den haben uns die Leute gegeben und irgendwann hat er sich eben eingebürgert. Er kommt nicht selbstverständlich nicht daher, dass wir Drachen jagen. Es gibt keine Drachen. Nein, wir jagen alles, was die Leute für Drachen halten." Mina schien sich zu einer weiteren Ausführung genötigt, als sie meinen Blick sah. "Manchmal verschwinden Leute spurlos oder werden auf bestialische umgebracht, ein anderes Mal wird ein Dorf von schlechten Ernten oder anderen Katastrophen heimgesucht. Und da kommen wir ins Spiel. Wir lösen diese Hirngespinste auf. Oft genug ist es ein tollwütiger Bär oder eine Hexe, die dahintersteckt. Wir spüren den Übeltäter auf und bringen ihn zur Strecke."
"Und ich?"
"Du? Du bist ab sofort unser, ähem, Mann fürs Grobe." Sie zwinkerte mir mit einem Auge zu und wandte sich ab. Morg und ich sahen uns ratlos an. Fürs Grobe?
Als wir später am Tag aufbrachen, hatten sich dunkle Wolken am Himmel zusammengezogen. Es würde bald regnen. Die Menschen hatten mir erklärt, dass die warme Zeit dieses Sonnenzyklus sich dem Ende zuneigte, sie nannten sie den Herbst. Die Sieben der Drachenjäger hatten ihre Habseligkeiten verschnürt und sich auf ihre Pferde geschwungen.
"Tut mir leid für euch, aber es gibt hier weit und breit kein Tier, das euch auf seinem Rücken tragen könnte", sagte Mina plötzlich und schaute mitleidig zu Morg und mir herüber.
"Auf seinem Rücken tragen...?", erwiderte ich verwirrt, bevor ich begriff und lachte. Das Prinzip, dass man zur Fortbewegung auf ein anderes Lebewesen stieg, war für mich nach wie vor eine absurde Vorstellung. Und doch leuchtete es ein, wenn man derart kurze Beinchen wie die Menschen hatte. "Ah, verstehe. Mina, nimm es mir nicht übel, aber ihr solltet aufpassen, nicht von uns abgehängt zu werden. Richtig, Morg?"
"Abgehängt!", feixte Morg dumpf und schielte zu Mina herab. Selbst auf ihrem Pferd überragten wir sie noch um einiges.
"Hast du das gehört, Schnecke? Der hat eben deine Ehre beschmutzt", flüsterte sie dem Pferd vornübergebeugt ins Ohr. Das Tier schaute mich skeptisch abwartend an, jedoch nicht panisch wie die meisten seiner anderen Artgenossen. Es war wohl wirklich abgehärtet. "Nun gut, wie du meinst. Ein bisschen Bewegung wird dir sicherlich nicht schaden", beschloss sie und trieb ihr Reittier in einen lockeren Trab. "Auf geht's, Drachenjäger! Die Pflicht ruft!"
„Ein bisschen Bewegung wird uns nicht schaden?“, wiederholte ich ihre Worte.
„Na wegen dem da!“, lachte Rualab, als er an uns vorbeipreschte, und zeigte auf unseren weit hervorstehenden Bauch.
Die anderen taten es ihm gleich und stießen im Chor ein kurioses Geräusch aus, irgendwas zwischen Fauchen und Jaulen.
"Frag nicht. Sollen Drachengeräusche sein", rief mir Hidda über die Schulter zu.
Mit gemischten Gefühlen schaute ich der kleinen Kolonne der Sieben hinterher. Sie würden nun für eine Weile mein Stamm sein. Ich hoffte, mich in ihren Augen beweisen zu können, mir ihr Vertrauen zu erarbeiten, sodass es vielleicht keine Freundschaft, aber zumindest Frieden zwischen Ogern und Menschen geben könnte. Ein wenig bang dachte ich an die Verantwortung, die auf Morgs und meinen Schultern lastete. Mit einem Mal hörte ich hinter mir ein lautes, metallenes Rattern und eilig klopfende Pferdehufe.
"Wartet!", schrie jemand aus der Ferne.
Als ich mich umdrehte, sah ich Zuak die Stadt verlassen und uns nacheilen. Auch er hatte viel Gepäck dabei, das er auf seinem Sattel verschnürt hatte. Mit geröteten Wangen kam er vor mir zum Stehen. Ich freute mich, ihn zu sehen.
"Was willst du denn, Scharlatan?", rief Isengrim von weiter vorne. Sie zügelten ihre Pferde und schauten herüber.
„Der Bürgermeister hielt es für eine gute Idee, dass ich euch, ähm, begleite“, rief er zurück.
Genervtes Raunen befiel die Drachenjäger. Nach wie vor wusste ich nicht, warum seine Artgenossen derart allergisch auf Zuak reagierten.
"Wer's glaubt. Will ihn nur nicht in der Stadt haben.“
"Also ich freue mich, dass du uns begleitest", sagte ich.
"Da bist du der einzige hier", sagte Mina, die zu uns gestoßen war. "Wenn der Bürgermeister es wünscht, kann ich da nichts machen, Scharlatan." Sie musterte ihn abschätzig. "Aber erwarte keine Gastfreundschaft von uns. Du gehörst nicht zu uns. Niemand hier wird sich für dich in Gefahr begeben."
Damit wandte sie ihr Reittier um und eilte den anderen nach, die demonstrativ weitergeritten waren. Zuak lächelte mich mitleidig an, als er meinen Blick sah.
"Mach dir nichts draus. Sowas bin ich gewohnt", versuchte er zu beschwichtigen. Doch wenn ich seine Mimik richtig verstand, sah er verletzt aus.
"Was ist denn bloß geschehen, dass die Leute so-", schnitt ich das Thema erneut an.
"Schon gut, ein anderes Mal", unterbrach er mich und ritt ebenfalls an mir vorbei. In diesem Moment fühlte ich mich ihm sehr verbunden, so von Sonderling zu Sonderling. Ich wusste nicht warum, doch ich fasste einen spontanen Entschluss: Ich würde nicht nur das Vertrauen in uns wiederherstellen, sondern auch das in Zuak.
Wir waren lange unterwegs, einige Tage. Die anfänglich noch gute Laune hatte sich seit dem Anschluss von Zuak eingetrübt und der bald einsetzende Regen tat sein Übriges. Jeder starrte nur grimmig voraus, die Mäntel so eng es ging um sich geschlungen. Morg und mir machte Regen nichts aus, die Kälte drang kaum durch unsere dicke Haut. Doch den Menschen erging es anders, sie waren nicht für ein Leben unter freiem Himmel gemacht. Und so liefen meine Versuche, Unterhaltungen zu führen, auch schon bald ins Leere.
Schweigend stapften wir auf schlammigen Straßen an gerodeten Äckern entlang, schlugen uns über verwucherte Waldpfade, die von Bäumen geschmückt waren, deren Farben von Grün über Gelb bis Feuerrot reichten, und streiften über endlose Wiesen. Es war herrlich, gänzlich unbekümmert die Welt der Menschen zu erkunden. Lediglich in den kleinen Siedlungen oder Bauernhöfen, die wir hin und wieder passierten, wurde mir meine Andersartigkeit gnadenlos bewusst: Kinder fingen an zu weinen, Frauen huschten eilig in Häuser, Männer schnappten sich ängstlich Forken und Sensen und hielten sie drohend empor. Selbst die Beschwichtigungsversuche der Drachenjäger konnten den Argwohn nicht überwinden. Und so schliefen wir zumeist unter freiem Himmel anstatt in einer Scheune oder einem Stall, wie es vielleicht ohne mich gewesen wäre.
"Bisher hat sich seine Gesellschaft ja noch nicht so bewährt", maulte Muonn und nickte in meine Richtung, während er versuchte, aus nassen Holzscheiten ein Feuer zu entfachen. Isengrim kam soeben aus dem Wald und schleifte ein mittelgroßes Huftier hinter sich her, das sie als Reh bezeichnete. Morg und ich hatten uns darauf geeinigt, selbst für unsere Mahlzeiten zu sorgen, um den Menschen nichts wegzuessen.
"Stell dich nicht so an, du Nassholzanzünder", stichelte Mina, als sie sich auf einem moosbedeckten Stein niederließ. Während Isengrim sich daran machte, das Reh auszunehmen und aus den feuchten Scheiten der erste, dünne Rauchfaden emporstieg, richtete sie das Wort an alle.
"Hört zu, wir sollten im Laufe des morgigen Tages Tandula erreichen. Alles, was ich weiß, ist, dass es einen nächtlichen Überfall auf das Dorf gegeben hat. Mehrere Tote. Die Menschen haben Angst und glauben, der Leibhaftige hätte es auf ihr Dorf abgesehen. Was nun so anders sein soll als ein üblicher Banditenüberfall, weiß ich nicht. Der Statthalter wird uns empfangen und weiter mit Informationen versorgen. Morg und Grom, ich hätte gerne, dass ihr beide zurückbleibt und euch fürs Erste nicht zu erkennen gebt. Ich glaube, die Dorfbewohner sind schon verängstigt genug." Schuldbewusst schaute sie zu uns herüber.
"Natürlich", brummte ich kurz.
"Wer bezahlt uns eigentlich für den Auftrag? Der Statthalter?", hakte Marius neugierig nach. Er war der Jüngste im Bunde, voller Tatendrang und jugendlichem Leichtsinn. Und gierig schien er auch zu sein.
"Ja, der. Und keine Sorge, wir werden schon einen ordentlichen Batzen nach Hause tragen. Wenn wir Erfolg haben und die Verantwortlichen zur Strecke bringen. Der Statthalter und die Bewohner müssen sich danach sicher fühlen, verstanden? Wir sollten derart überzeugend wirken, sodass sie glauben, nie wieder behelligt zu werden, denn nur dann werden sie spendabel sein. Dasselbe gilt übrigens auch für uns: Wir müssen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln, als Fachleute Selbstvertrauen und Professionalität ausstrahlen, kapiert?" Sie nahm jeden einzelnen von uns eindringlich in Augenschein und ließ erst ab, als sie sicher war, dass wir verstanden hatten. "Gut. Das heißt auch, kein Schnaps heute Abend, falls noch jemand welchen gehortet hat. Ise, was macht dieses verdammte Vieh? Ich habe Hunger!"
"Ich auch Hunger", stimmte Morg zu, der gebannt Isengrim dabei beobachtete, wie die das ausgenommene Reh auf einem Spieß über dem mittlerweile lodernden Feuer drapierte.
Der Abend endete in einer ebenso mürrischen Laune, wie er begonnen hatte. Sie alle waren sicherlich bis auf die Haut durchnässt und froren, was die Moral drückte. Dass wir bei dieser Witterung auch noch unter freiem Himmel nächtigen mussten, lediglich ein wenig geschützt von den ausladenden Baumkronen, half auch nicht unbedingt. Und so legten sich alle früh schlafen und hofften auf einen besseren nächsten Tag.
Der war uns wider Erwarten geneigt. Goldene Strahlen brachen sich am Morgen schüchtern Bahn durch das vom Herbst buntverfärbte Blätterdach. Ein dunkelblauer Himmel war hier und dort zu erspähen. Lediglich der nächtliche Tau tropfte vereinzelt mit einem lauten Plop von den Bäumen, ansonsten schien es ein trockener Tag zu werden.
Morg hatte sich offenbar bereits Frühstück besorgt und ich wachte in dem Moment auf, als er seine Zähne in eine riesige, klebrige Bienenwabe schlug. Der Honig tropfte auf unseren Bauch, wo er zähflüssig kleben blieb.
„Kannst du nicht ein bisschen aufpassen?“, versuchte ich eine konstruktive Anmerkung, wusste jedoch in dem Moment, dass sie auf taube Ohren stoßen würde.
Er grinste mich wild an, vereinzelte Bienen schwirrten noch um seinen Kopf. „Morg Hunger!“
„Schon gut. Lass es dir schmecken. Hast du auch ein Stück für mich?“
Mit spitzen Fingern holte er eine weitere Wabe aus dem aufgebrochenen Bienenstock heraus und reichte sie mir, was den Überresten des Schwarms ein zorniges Summen entlockte.
„Danke“, murmelte ich und biss hinein. Ah, Honig, eine wunderbar süße Variante des Nektars. Ich schloss für einen Moment die Augen und genoss den Geschmack.
„Ich vermisse Zuhause“, seufzte Morg auf einmal leise. Überrascht schaute ich zu ihm herüber, war es doch das erste Mal, dass er etwas wie Heimweh erwähnte.
„Was meinst du?“, hakte ich nach.
„Unser Dorf. Unseren Stamm. Unser Leben… von vorher…“ Er schaute traurig auf seine Finger, zwischen denen der goldene Nektar lange Fäden zog.
„Vor den Keszz?“, riet ich.
Ein wortloses Nicken seinerseits bestätigte meine Vermutung.
„Ja, ich auch. Und deswegen verstehst du auch, warum wir das hier machen, oder?“
Morg sah nicht gänzlich überzeugt aus, obwohl ich es ihm schon oft genug erklärt hatte. So war er eben, seine Stärke war nicht sein Intellekt, hatte aber das Herz am rechten Fleck, wie die Menschen sagen.
„Unser Stamm“, fuhr ich geduldig fort, „ist… verloren. Sie wissen nicht mehr, wer sie sind. Gol’dar und die anderen glauben, wir dienen den Keszz. Glaubst du wir dienen diesen widerlichen Kreaturen?“, wollte ich von Morg wissen.
Ein eifriges Kopfschütteln beruhigte mich, machte mich beinahe stolz auf ihn. Trotz all seiner Unzulänglichkeiten hatte Morg doch allen anderen Ogern einiges voraus.
„Genau das denke ich nämlich auch. Und deswegen müssen wir mit den Menschen zusammenarbeiten – so schwer es uns manchmal auch fällt. Dass wir in diese Welt geschleudert worden sind, hat uns irgendwie von den Keszz getrennt. Und das ist unsere einmalige Chance.“
Morg sah mich an und ich entdeckte einen winzig kleinen Hoffnungsschimmer in seinem Auge aufblitzen.
„Ich glaube dir“, grunzte er glücklich und fletschte die Zähne zu einem Lächeln.
„Gut. Und kriege ich noch was von dem Honig ab?“, erwiderte ich und lachte.
Kurz darauf waren wir zurück bei den anderen, wo die Menschen bereits dabei waren, das Lager abzubrechen. Die trübe Laune vom Vorabend schien sich aufgehellt zu haben, ich erspähte hier und dort ein Lächeln, Rualab machte sogar einen Scherz, den ich allerdings nicht verstand.
„Also gut, dann mal los, ihr Pfeifen. Ich schätze, es sind noch zwei oder drei Stunden bis Tandula“, begann Mina. „Wir sollten also ausreichend viel Tagesli-„
„Psst!“, unterbrach ich sie und legte meinen Zeigefinger an die Lippen. Alle Augen schnellten überrascht in meine Richtung. Zunächst war ich mir nicht sicher, doch ich spürte auch Morgs Anspannung, daher war ich mir sicher, mich nicht zu täuschen. „Da ist etwas“, erläuterte ich flüsternd. Die Menschen schauten sich unsicher um, lauschten angestrengt in den Wald hinein, jedoch ohne etwas zu bemerken.
„Bist du dir sicher?“, flüsterte Hidda. Sie fummelte unruhig an dem Knauf ihres Dolchs herum.
Da – ein Ast knackte laut! Mein Blick schnellte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und sah einen dunklen Schatten zwischen den Bäumen. „Wir werden beobachtet!“, rief ich, während ich zum Sprung ansetzte.
„Warte! Grom, halt!“, rief Mina, die mich versuchte, aufzuhalten. Ein inneres Gerangel entbrannte zwischen mir und Morg, dessen Instinkte übernommen hatten und die Verfolgung aufnehmen wollten. Unter einiger Kraftanstrengung behielt ich aber die Kontrolle und stapfte zögerlich zurück ins Lager.
„Was denn?“, schimpfte Morg unzufrieden.
„Das war ein Mensch, vermutlich ein Jäger oder Fallensteller“, seufzte Mina und sah dem Schatten hinterher, der zwischen den Bäumen verschwunden war. „Kommt sicherlich aus Tandula. Scheiße!“
Alle zuckten erschrocken zusammen. Mina konnte furchteinflößend sein, wenn sie wütend war.
„Ähh… warum ist das jetzt so schlimm?“, wollte Hiskam wissen.
„Na weil er… ihn entdeckt hat“, fluchte Mina und zeigte auf mich. „Was meinst du wohl, wo der Typ nun hinrennt, hm? Zum Statthalter. Stell dir mal den Empfang vor, den die uns bereiten, wenn das Wort von einem Monster im Wald die Runde gemacht hat.“ Sie seufzte laut und ließ den Kopf hängen. „Nun, wie dem auch sei. So müssen wir uns immerhin nicht mehr darüber den Kopf zerbrechen, wie wir euch verstecken.“ Sie schaute Morg und mich an. „Ihr kommt mit uns mit. Und tut euer Bestes, irgendwie… harmlos auszusehen, ja?“
Morg und ich warfen uns einen hilflosen Blick zu.
„Wir sehen doch immer harmlos-?“, begann ich, schob aber schnell auf ihren Blick hin nach: „Ähm, ja, wir tun, was wir können.“
Tandula war näher als gedacht. Bereits nach einer Stunde erblickten wir die niedrigen Häuser der Stadt. Die Kleinstadt war bei weitem nicht so beeindruckend wie Augul mit seinen hohen Stadtmauern und befestigten Straßen, aber nichtsdestoweniger eine Stadt mit sicherlich einigen tausend Einwohnern. Wie von Mina vermutet, hatte der Jäger wohl seinen Weg zurück in die Stadt gefunden, denn aus der Ferne hörten wir hektische Kirchglocken und aufgeregte Rufe. Menschen flüchteten von ihren Feldern, als sie uns sahen.
"Kein guter Auftakt. Überlasst mir das Reden, ja?", mahnte Mina erneut.
Wir näherten uns der Stadt ohne Eile, gut sichtbar und möglichst harmlos wirkend. Kurz bevor wir die ersten Häuser erreichten, kam uns ein kleiner Trupp Berittener entgegen, allen voran ein kleiner, glatzköpfiger Mann, dessen weit aufgerissene Augen nicht gerade von Furchtlosigkeit zeugten.
"Wer...", fiepste er, bevor er sich räusperte und erneut ansetzte. "Wer seid ihr und w-was wollt ihr hier?", krächzte er nur mühsam beherrscht. Sein Blick ruhte unentwegt auf Morg und mir.
"Wir sind die Drachenjäger, mein Name ist Mina. Wir sind hier im Auftrag des Königs."
Es schien nicht so, als hätte er sie gehört. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe herum, Schweiß glänzte auf seiner Stirn.
"Hallo, guter Mann?" Mina ritt ein Stück vor und drängte sich in sein Sichtfeld. Das riss ihn aus seinen Gedanken.
"Ja, bitte?" Er blinzelte verwirrt. "Also ich sage es noch einmal, wer seid ihr und was wollt ihr hier?"
Mina stöhnte. Unwillkürlich musste ich grinsen. "Wie ich schon sagte. Der König erwähnte, Ihr hättet Schwierigkeiten? Wir können auch wieder umkehren, wenn Ihr alles im Griff habt...?" Sie ließ den Satz in der Luft baumeln und begann demonstrativ, ihr Pferd zu wenden.
"Nein!", kreischte der Mann und erschrak über seine eigene Stimme. "Nein, bitte", fuhr er ein wenig beherrschter fort. "Ja, wir brauchen Hilfe! Ihr seid also diejenigen die uns..." Skeptisch huschten seine kleinen Augen zwischen uns hin und her und blieben erneut an uns hängen. "...versprochen wurden?"
"Genau die. Dra-chen-jä-ger." Keine Antwort von dem Mann. "Also wollen wir uns Euer Problem ansehen oder...?"
"Ja! Ja. Das Problem." Er räusperte sich erneut. "Also folgt mir. Ähm, vielleicht nehmen wir den Weg außen um die Stadt herum." Er versuchte ein Lächeln und bedeutete seinen Leuten, ihm zu folgen.
Mina reihte sich neben ihm ein, nicht ohne uns vorher einen vielsagenden Blick zuzuwerfen, der Bände darüber sprach, was sie von dem Mann hielt. Es war offensichtlich, dass der Statthalter uns nicht in der Stadt haben wollte. Ob es am Misstrauen gegenüber Söldnertruppen im Allgemeinen oder einfach der Angst vor einem Oger lag, vermochte ich nicht zu sagen. Wir umrundeten die Stadt in einem großen Bogen, hielten möglichst viel Abstand zu Häusern und Einwohnern, bis wir schließlich von der Hauptstraße abbogen und inmitten eines hohen Getreidefelds einen kleinen Hof erreichten.
Oder zumindest das, was davon übrig war. Bereits bei der Durchquerung des einfachen Portals, über dem in krakeligen Lettern Sonnenbach stand, überkam uns ein Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Das kleine hölzerne Tor schwang leise knarzend in der leichten Brise hin und her.
"Es ist zu ruhig hier", flüsterte Hidda neben mir. "Kein Vogel, kein Hundegebell. Nicht ein einziges Zeichen von Leben." Lediglich der Weizen raschelte leise.
Sie starrte mit zusammengekniffenen Augen umher, als könne sie das Rätsel von hier aus ergründen. Den anderen erging es ähnlich, nur Mina und Isengrim waren ihr souveränes Selbst. Waren dies nicht erfahrene, furchtlose Krieger?
"Ich, ähm, also wir werden hier, äh, warten, solange ihr...", flüsterte der Statthalter in die angespannte Stille hinein. Nervös zog er an den Zügeln und brachte sein Pferd zum Stehen. Seine Begleiter nickten eifrig, offensichtlich erleichtert über die Eingebung ihres Vorgesetzten.
"Nun gut", erwiderte Mina mit professionellem, festen Blick. "Was könnt Ihr uns erzählen, Herr...?"
"Rudulf." Sein Kopf zuckte unruhig zwischen ihr und dem Weg zu Hof hin und her.
"Also, Herr Rudulf, was ist hier passiert?" Sie klang übertrieben ermutigend.
"Nur Rudulf. Was hier passiert ist? Wir wissen es nicht. Eines Nachts hörten die Nachbarn unnatürliches, unmenschliches Heulen von hier, nur unterbrochen von sehr menschlichen Schreien. Es war stockfinstere Nacht, daher war nichts zu erkennen, aber die Schreie waren weit zu hören. Das Ganze dauerte nicht lange, vielleicht eine Viertelstunde. Als die Nachbarn am nächsten Tag vorbeikamen um nachzuschauen, war niemand mehr am Leben. Die Stadtwache und ich haben danach nochmal den Ort untersucht und seitdem ist... ist niemand mehr hier gewesen." Seine Ausführungen waren in ein Flüstern abgeglitten und verliefen sich dann vollends.
"Du sagst also, die Leute hier sind ermordet worden", fasste Mina zusammen und erntete ein bedeutungsschwangeres Nicken von ihm. "Aber viel mehr auch nicht..." Erneutes Nicken.
"Dafür seid ihr ja nun hier, richtig? Ihr müsst euch beeilen, bitte! Die Leute sind nervös, Gerüchte machen die Runde."
"Gerüchte?"
Rudulf lockerte seinen Kragen und rückte näher an sie heran. "Gerüchte, dass dieser Ort verflucht ist." Sein Blick bohrte sich förmlich in sie hinein.
Mit tröstlichem Lächeln, das sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor zwängte, bot sie ihm Verständnis an. "Natürlich, das verstehe ich. Keine Sorge, guter Mann, wir sind ja nun da. Wie viele Leichen gibt es? Sind die noch hier?"
"Wir, äh, wissen es nicht genau. Irgendwas zwischen vier und sechs Personen, mindestens eine Frau war darunter. Wir haben, ähm, alles eingesammelt, was wir finden können, und danach eingeäschert."
Mina stöhnte auf.
"Wegen dem Fluch! Sicher ist sicher.“ Er stemmte stolz die Hände in die Hüften.
"Ja, das hast du wirklich gut gemacht. Nun gut, dann wollen wir uns das mal anschauen.“
"Macht das. Wir werden hier warten und sicherstellen, dass euch niemand bei eurer Arbeit stört.“
Mina nickte kurz, strich sich eine halblange, pechschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und ritt voraus.
Je näher wir dem Hof kamen, desto angespannter wurden die Menschen. Hochgezogene Schultern, Hände in der Nähe der Waffen, Schweigen, unruhige Blicke. Sollte ich vielleicht auch nervöser sein? Übersah ich eine drohende Gefahr?
Schließlich bogen wir um eine Kurve, an deren Ende sich das hochgewachsene Weizenfeld lichtete. Unvermittelt standen wir auf einem kleinen sandigen Platz, an den ein kleines Wohnhaus und zwei weiteren Gebäude, wahrscheinlich Ställe oder Schuppen, angrenzten. Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte, die Spuren der Verwüstung hatte selbst der tagelang währende Regen nicht fortspülen können.
In der Mitte des Hofs lag ein großer, vierrädriger Holzkarren auf der Seite. In tiefen Schleifspuren stand das Regenwasser. Das Wohnhaus war zur Hälfte eingebrochen, als ob an einer Ecke ein Loch in die Wand geprügelt worden wäre und der Rest darüber eingestürzt war. Die Ställe sahen nicht besser aus: herausgerissene Tore, eingeschlagene Holzwände, abgedeckte Dächer. Einer der Schuppen war zu Hälfte schwarz verkohlt – Spuren eines Feuers. Der Boden war übersät mit hölzernen Trümmerteilen und Fußspuren.
"Was zum Teufel ist hier passiert?", murmelte Muonn.
"Dieser Rudulf will uns ernsthaft glauben machen, dass niemand etwas gesehen hat? Es sieht aus als wäre eine verdammte Armee hier durchmarschiert", pflichtete Isengrim bei.
"Also gut, ihr kennt das Spiel: seht euch um, sammelt Hinweise. Verdächtige Fußabdrücke, Blutspuren, ein unterschriebenes Bekennerschreiben...“ Sie hielt inner für einen Lacher, wurde aber nicht belohnt.
„Wie immer gibt es eine logische Erklärung für das alles. Lasst euch nicht verrückt machen. Auf auf!"
Während die anderen ausschwärmten, ergänzte sie an Morg und mich gewandt: "Erster Schritt: Beweise sammeln und eine Theorie zu den Hergängen aufstellen. Dann sehen wir weiter. Also, schaut auch ihr beide euch um, ob ihr etwas Verdächtiges seht: Spuren, Hinterlassenschaften der Täter, so etwas. Wenn sich für euch ein Bild ergibt, sagt ihr es uns. Alles klar?"
Morg und ich nickten und machten uns an die Arbeit. Wir begannen mit den Außenbereichen. Ich spürte Spannung in mir aufsteigen, denn so ein Abenteuer war vollkommen neu für mich. Worauf galt es zu achten? Woran erkannte man eine Spur? Waren die Täter noch hier?
Behutsam und aufmerksam tasteten wir uns der Peripherie entlang, wo der plattgetretene Erdboden langsam Feld oder Wiese Platz machte. Ein niedriger, baufälliger Holzzaun trennte die eine von der anderen Seite. Um den gesamten Hof vollständig zu umrunden brauchten wir etwa tausend Schritte, schätzte ich.
Mir fiel auf, dass mir nichts auffiel. Es gab keine Spuren, niemand hatte sich durch das hochgewachsene Feld geschlagen oder war über den Zaun geklettert, was Spuren hinterlassen hätte. Somit schieden Tiere oder größere Gruppen von Menschen schon einmal als Täter aus – es sei denn, sie wären unbekümmert durch das Hauptportal hereingekommen. An einer Stelle blieb mein Blick zufällig an etwas hängen, was sich bei näherer Betrachtung als eine erstaunlich große Feder herausstellte.
"Klar, sie könnten natürlich auch herbeigeflogen sein können", kicherte ich. Morg murmelte seine Zustimmung.
Als ich meine Runde beendet hatte und wieder beim Portal angekommen war, musste ich zähneknirschend feststellen, dass mir das mehr Fragen als Antworten eingebracht hatte.
"Nun, das wäre vielleicht auch zu einfach gewesen, oder? Was denkst du Morg, sollen wir uns mal diesen Karren ansehen?" Grunzende Antwort.
Der war eindeutig umgeworfen worden. Es waren noch die alten Radspuren und Vertiefungen im Schlamm zu erkennen, wo das auf die Räder lastende Gewicht den weichen Untergrund abgesenkt hatte. Nun lag er auf der Seite, zwei der Speichenräder ragten hilflos in die Luft. Warum den Karren umwerfen? Schließlich bedurfte das einiger Kraft, selbst wir beide müssten uns dafür ordentlich dagegen stemmen.
Ich ging näher heran. Der Täter schien nicht nur sehr viel Kraft, sondern auch sehr spitze Finger gehabt zu haben. Drei parallel verlaufende, tiefe Kratzer zeugten davon.
"Hmm, vielleicht doch ein Tier?", sinnierte ich.
"Hast du was gesagt?", hörte ich jemanden hinter mir. Es war Muonn, der wohl in dem Moment herübergekommen war.
"Oh, nein, habe nur laut gedacht. Ich denke, das war das Werk eines Tiers", antwortete ich und richtete mich auf.
"Ein Tier?", wiederholte er ungläubig und fing dann an zu lachen. "Was für ein Tier soll denn das sein, das einen halben Hof in Schutt und Asche legt? Überlass' das mal uns, wir haben damit mehr Erfahrung." Er schlenderte kichernd davon. "Ein Tier, sagt es...!"
Ich schaute ihm unschlüssig hinterher. Warum mochte der Mann uns nicht? Den Gedanken beiseiteschiebend konzentrierte ich mich wieder auf die Aufgabe. Nächstes Objekt: Die Ställe, in deren dünnen Holzwänden riesige Löcher klafften. Auch hier gab es keine eindeutigen Fußabdrücke, die den Regen überlebt hatten.
Ich schob meinen Kopf behutsam ins Innere. Morg legte leider nicht dieselbe Sorgfalt an den Tag und vergrößerte mit seinem Horn das Loch noch um zwei weitere Holzplanken, die polternd zu Boden fielen.
„Pass doch auf!“
„Tschuldigung. Eng hier“, maulte er.
Die Dunkelheit offenbarte eine rostbraune Schleifspur, wahrscheinlich Blut, die sich über die gesamte Länge des Stalls auf dem Boden ausgebreitete hatte. Sie endete in einem großen runden Fleck. Wahrscheinlich hatte sich einer der Menschen schwerverletzt hier entlang geschleppt und war dann dort ausgeblutet. Ein Bild setzte sich allmählich vor meinem inneren Auge zusammen, wie die Tat vonstattengegangen sein könnte. Ich beendete meine Runde und gesellte mich schließlich zu den anderen, die sich auf dem Hof zusammengefunden hatten.
Mina nickte, als wir vollständig waren. "Also, dann lasst mal hören!"
Ratlose Gesichter schauten zu Boden oder warfen sich gegenseitig unschlüssige Blicke zu.
"Na los jetzt, keine falsche Scheu. Ise, lass uns doch an deinen Gedanken teilhaben!", forderte sie die blonde Frau auf.
"Ach, Mina, du weißt, dass mir diese Detektivarbeit nicht liegt. Ich bin eher dafür gemacht, Sachen kurz und klein zu hauen", maulte sie. Ihre Gesichtstätowierungen schienen in der Mittagssonne zu glänzen. "Das Einzige, was ich dir sagen kann, ist: Es gibt keine Kampfspuren. Die Bauern wurden gnadenlos abgeschlachtet, niemand von ihnen hat Gegenwehr geleistet." Ratlos zuckte sie mit den Schultern und hakte ihre Daumen hinter das Lederne Bandelier.
"Hm. Sonst jemand? Hidda, enttäusch‘ mich nicht."
Die große, schlaksige Frau nickte konzentriert. "Ein Raubmord kann es nicht gewesen sein. Hab mich im Wohnhaus umgesehen. Die wenigen Wertgegenstände, das Porzellan... ist alles noch da." Sie schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, wer immer das getan hat, hatte eine Rechnung mit den Leuten offen." Sie sah grübelnd in die Runde. "Was ich nicht verstehe: Warum diese ganze Zerstörung? Wenn ihnen jemand eine Lektion erteilen wollte, wozu sich die Mühe machen und die Gebäude derart demolieren?"
"Guter Punkt", erwiderte Mina. "Rualab, Spuren?"
Der breitgebaute Mann mit den schon grauen Haaren seufzte laut. "Der Regen hat nicht viel übergelassen. Und da die Leichen schon eingeäschert sind, ist die Spur auch kalt. Ich... dachte... da hinten in der Scheune... auf dem Boden...“ Er schien mit sich zu ringen, ob er einen Gedanken weiterverfolgen wollte, kam dann aber zu einem anderen Ergebnis. "Nein, ich habe nichts, tut mir leid." Frustriert trat er einen kleinen Kiesel fort.
"Verdammt", rief Mina unvermittelt. Alle zuckten leicht zusammen. "Und wie stellt ihr euch das jetzt vor, hm? Dass ich dem König einen Brief sende und ihm sage, dass wir unverrichteter Dinge hier wieder abgezogen sind? Muonn, was ist mit dir?!"
Er schüttelte nur betreten den Kopf, ohne sie anzuschauen.
"Marius? Hiskam?" Keine Antwort. Sie fuhr sich frustriert mit den Händen durchs Gesicht.
"Ylrag", rumpelte Morg plötzlich, für seine Verhältnisse leise. Jedoch reichte es, um alle Köpfe zu uns herumschnellen zu lassen.
"Das weißt du nicht", flüsterte ich ihm zu.
"Was tuschelt ihr da?", mischte sich Mina ein.
"Ach, es ist nur eine – wie sagt ihr, Theorie? – zu diesem Zeitpunkt", antwortete ich in der Sprache der Menschen.
"Na dann lass' hören. Ist schließlich mehr als dieser ganze nutzlose Haufen hier zu bieten hat."
"Ähm, nun gut", räusperte ich mich. "Das Wort, das Morg eben genannt hat, Ylrag, ist ein Lebewesen, das in unserer Welt vorkommt. Übersetzten könnte man es mit, hm, Säbelklaue. Lasst es mich als Frage formulieren: Was ist das größte Exemplar der Geschöpfe, die ihr Vögel nennt, in eurer Welt?"
Die Menschen schauten sich ratlos an.
"Wahrscheinlich 'n Adler oder Geier?", vermutete Hiskam.
"Zwei Flügel, zwei Füße, großer Mund?", hakte ich nach.
"Schnabel. Ja, genau. Warum-", entgegnete er.
"Stellt euch eine Säbelklaue wie einen dieser Vögel vor", unterbrach ich ihn. "Nur mit vier Füßen und um einiges größer."
Muonn lachte auf. "Was soll das? So etwas gibt es nicht. Mina, müssen wir uns wirklich diesen Unsinn anhören?" Seine kleinen Augen funkelten feindselig.
"Ruhe! Es sei denn, du hast eine bessere Theorie?", erwiderte Mina unwirsch. Muonn klappte perplex seinen Mund zu.
"Ich habe keine eindeutigen Beweise.“
„Indizien.“
„Meinetwegen. Es fehlen beispielsweise Hinweise darauf, wie der Angreifer auf den Hof gekommen ist. Daher nehme ich an, er ist geflogen."
„Könnte auch einfach der Regen sein, der alle Spuren verwischt hat.“ Ich ignorierte Muonn, wie er die Augen verdrehte.
"Da hinten am Rand habe ich einige recht große Federn entdeckt, die nicht von so kleinen Vögeln wie einem Adler stammen können. Dann, die Verwüstungen und das viele Blut: Die Menschen wurden regelrecht abgechlachtet. Warum sollte sich jemand solche Mühe machen, der auf einen Raub aus ist? Nein. Die Bewohner haben versucht, in den Gebäuden Schutz zu suchen, doch einen Ylrag hält das nicht auf. Dafür sprechen auch die Krallenspuren an dem Karren."
„Krallenspuren?“, hörte ich jemanden flüstern.
Plötzlich war ich mit meinen Ausführungen am Ende und kam mir ein wenig töricht vor. Wie konnte ich mir anmaßen, es in einer mir fremden Welt besser zu wissen als dessen Bewohner? An den Gesichtern der anderen konnte ich ablesen, dass sie meine Theorie für genau das hielten – töricht.
„Ich fasse nochmal zusammen“, sagte Mina. „Wir haben keine Spuren, bis auf diese Kratzer am Wagen, Wertgegenstände wurden nicht entwendet und... einen Haufen Federn.“
„Dann war es ein Einzelgänger. Was persönliches, Rache oder so“, bot Hiskam an.
„Das erklärt nicht die Zerstörungen. So etwas kriegt nur eine ganze Armee zustande.“
"Also wollt ihr sagen“, fragte ich in das sich ausbreitende Schweigen hinein, nicht bereit, so einfach aufzugeben. „Dass es ein Geschöpf wie den Ylrag nicht in eurer Welt gibt? Nicht ein einziges, was dem Nahe kommt?" Sie waren nicht überzeugt. "Wenn euch vor einem Mondzyklus jemand von Ogern erzählt hätte, wie wäre da eure Reaktion ausgefallen? Und schaut, wo wir jetzt stehen!"
Das saß. Einem Erdstoß gleich verursacht dieses Argument tiefe Risse in den Fundamenten der Gewissheit. Muonn wehrte sich mit kindischem Spott dagegen, doch in die Gesichter der restlichen Drachenjäger schlichen sich Zweifel.
"Nun... nur mal angenommen, es war so ein riesiger Vogel... so ein Säbel-Ding", sagte Isengrim zögerlich. "Wie genau hilft uns das jetzt? Wie finden wir ihn – es?"
Ein breites Grinsen machte sich auf Morgs Gesicht breit. Fast schon verschmitzt schaute er zu mir herüber.
"Nun, ihr könntet Glück haben, denn vor euch steht der Oger mit den feinsten Sinnen aller Kinder von Tÿl", erwiderte ich. Morg versuchte eine Art Verbeugung, was Hidda ein kauziges Lachen entlockte.
Mina verzog die Augenbrauen. "Du kannst dieses Ding finden?", fragte sie Morg langsam, der ein wenig schüchtern nickte.
Ihre Gedanken rasten, ihre Blicke waren umhereilende Griffe nach Strohhalmen. Doch niemand sprang ihr zur Hilfe, selbst Muonn blieb stumm.
"Nun dann, da ich auch keine bessere Idee habe... Morg, du gehst voran!" Sie breitete den Arm aus und gewährte ihm den Vortritt.
"Streng dich an, dies ist die erste Prüfung", murmelte ich zu ihm in unserer Sprache. Ein wenig mulmig war mir dabei zumute, auch wenn ich keinen Zweifel an seinen Fähigkeiten hatte.
Selbstbewusst stapfte er mit riesigen Schritten los in Richtung des Portals, wo wir den Statthalter, seine beiden Begleiter, sowie Zuak warten sahen. Ohne seinen Schritt auch nur zu verlangsamen, drängte sich Morg an den verblüfft dreinschauenden Menschen vorbei und bog am Ende des Weges rechts ab. Der schmale Pfad führte von der Stadt fort und verlor sich irgendwo zwischen Feldern.
Ein schneller Blick über Schulter sagte mir, dass die Drachenjäger eiligst auf ihre Pferde geklettert waren und langsam zu uns aufschlossen. Zuak schaute dem Ganzen mit gequältem Blick zu, reihte sich dann aber, ebenso wie Rudulf nebst Leibwache, ein.
„Hast du schon eine Fährte?“, flüsterte ich, während wir zwischen hochgewachsenen Feldern entlang stapften, die wahrscheinlich bald reif für die Ernte waren.
„Nee“, rumpelte Morg zurück.
„Aaaaber?“
„Nix.“
„Und jetzt?“
„Mal schauen, ob ich eine finde.“
„Bruder...“, seufzte ich.
„Hmm?“
„Ach. Nichts.“
Wir marschierten unbeirrbar weiter. Ich ließ Morg die Führung übernehmen, legte unser aller Schicksal völlig in seine Hände. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, würde selbst ich glauben, dass er wusste, was er tat.
Der Pfad beschrieb eine chaotische Schlangenlinie, grüne Wiesen, kleinere Wälder und frisch geerntete Äcker wechselten sich ab, bis die Zeichen der Zivilisation allmählich weniger wurden. Felder gingen in wilde Wiesen über, die irgendwann Buschland und schließlich zu Wäldern wurden. Nach einiger Zeit, es mochten ein oder zwei Stunden gewesen sein, erreichten wir den Fuß einer leichten Anhöhe, die mit dichten, majestätischen Bäumen bewachsen war. Der Tag neigte sich mit großen Schritten dem Ende entgegen und lange Schatten breiteten sich bereits über den Boden aus.
Urplötzlich blieb Morg mitten auf dem kleinen Pfad stehen, was die hinter uns reitenden Menschen beinahe mit uns zusammenstoßen ließ. Ruckartig schnellte sein Kopf in die Höhe, zuckte hin und her.
"Was denkst du, ist es hier?", fragte ich ihn.
Er nickte und ließ intensive Blicke den Waldrand entlang wandern. "Hier."
Ich rang Morg die Kontrolle über unseren Körper ab und wandte mich zu den anderen um. "Wenn unsere Theorie stimmt, dann ist er hier irgendwo, in diesem Wald."
Die Menschen stiegen langsam von ihren Pferden ab und sahen mich gespannt an.
"Wie kannst du dir da sicher sein?", fragte Zuak.
"Nenn es Instinkt, wenn du willst. Von mir aus auch Erfahrung. Säbelklauen bevorzugen dichte Wälder und Anhöhen, von denen sie einen guten Überblick über die Umgebung haben."
"Aber du weißt doch überhaupt nicht, ob es eins von denen ist!", warf Muonn ein, wie immer wenig konstruktiv.
"Du hast schon recht, aber...“
Ich spürte das Gefühl aus meinem Körper fließen, wie eine Flasche, die kopfüber gehalten wurde.
„Morg, was-? Morg!" Ich spürte, wie er zog und zerrte, bis mir schließlich die Kontrolle entglitt. Etwas schien seine ganze Aufmerksamkeit zu binden, schien ihn geradezu unwiderstehlich anzuziehen. Er stierte abseits des Weges in den Wald hinein, sein Blick streng auf einen Punkt gerichtet. Die dicken Nasenflügel blähten sich auf, während er scharf die Luft einsog. Dann stampfte er los. Anfangs ein wenig ungelenk, da ich noch Widerstand leistete, jedoch zunehmend flüssiger, je mehr ich ihn gewähren ließ. Rücksichtslos walzte er Buschwerk und junge Bäume nieder, hinterließ tiefe, große Fußstapfen im weichen Untergrund – bis wir schließlich zum Stehen kamen.
Ich hörte die anderen hinter uns atemlos zu uns aufschließen.
"Was ist denn bloß – oh", keuchte Marius, der als erster bei uns war, dann aber urplötzlich verstummte als er den Gegenstand Morgs Interesses erkannte. Den anderen erging es nicht anders, Zuak drehte sich angewidert weg.
"Immerhin wissen wir nun, dass es tatsächlich Opfer gab", stellte Isengrim nüchtern fest.
Auf dem Waldboden lag ein Mann – oder zumindest dessen obere Körperhälfte. Dort wo eigentlich seine Beine beginnen sollten, ragten dunkelbraun angetrocknete Fetzen aus dem Bauch. Doch auch der noch vorhandene Rest von ihm war nicht unbedingt in guter Verfassung, sein Gesicht glich eher einem blutigen Brei. Die Bewohner des Waldes, Vögel, Fliegen und Maden, hatten sich sicherlich auch bereits gütlich getan.
"Hier", wiederholte Morg seine Stellungnahme, während langsam das Gefühl in meine Fingerspitzen zurückkroch.
"Etwa 'ne Woche tot, passt dann zeitlich zu dem Vorfall auf dem Hof", analysierte Hidda, die sich neben den Körper kniete und ihn eingehend untersuchte, offenbar immun gegen den grausamen Anblick.
"Wer ist das?", fragte Mina an Rudulf gewandt.
Der musste sich regelrecht zwingen, einen schnellen Blick auf den Körper zu werfen, bevor er erneut seine Übelkeit herunterschluckte und den Kopf schüttelte.
"Sieht nach Rowen aus. Diese Tätowierung am Unterarm gibt es nicht so oft", sprang ihm einer seiner Wachen mit bleichem Gesicht zur Seite.
"Aus der Stadt?"
"Ja, Tagelöhner. Ist öfter mit dem Gesetz aneinandergeraten, ein Nichtsnutz. Was nicht heißt, dass er es verdient hätte, so zu enden."
"Wartet mal, was ist...?", murmelte Hidda, während sie an dem Körper herumzupfte. "Schaut mal!", verkündete sie schließlich und stand auf. Sie hielt kleine, weiße Bruchstücke in der Hand.
"Was ist das? Sind das Eierschalen?", mutmaßte Rualab und näherte sich mit skeptischem Blick Hiddas offener Hand.
"Ja, scheint so. Habe ich unter seinem Körper gefunden, die sind überall. Muss ein großes Ei gewesen sein, das er unter sich zerquetscht hat."
"Eierdieb", rumpelte Morg.
Ich pflichtete ihm bei. "Ja, denke ich auch."
"Was sagt er?", wollte Hidda wissen. Ihre kindlichen Augen schauten interessiert zu mir auf.
"Jemand, der ein Ei stiehlt. Sieht das wie ein Ei von einem – wie heißen diese kleinen, gackernden Vögel?“
„Huhn.“
„Sieht das wie ein Hühnerei aus?“
„Nein, viel zu groß dafür.“
„Nun, wir denken, dieser Rowen hat das Ei aus dem Nest des Ylrag gestohlen. Wir nennen solche Leute Eierdieb, zumeist unerfahrene, junge Burschen. Ylrag sind im Allgemeinen nicht sehr aggressiv, außer man stört sie in ihrem Revier."
"Oder klaut ein Ei", ergänzte Morg.
"Richtig. Nur die wenigsten Eierdiebe leben lang genug, um davon zu berichten."
Bedrücktes Schweigen breitete sich aus, während wir im Kreis um die Leiche herum standen. Das Summen vereinzelte Fliegen war das einzige Geräusch, das zu hören war. Die Menschen waren überzeugt.
"Aber... aber... woher kommt denn dieses Monster?“, krächzte Zuak irgendwann. Auf seinem kahlen Schädel standen trotz der einsetzenden Kühle des Abends Schweißperlen. „Überhaupt: Erst taucht ihr beiden mit eurem Stamm auf, dann dieses Loqi und nun... das! Was geschieht hier, ist das der, äh, Zorn Gottes? Oder, oder-" Seine Stimme kippte in hysterisches Fiepsen.
"Scharlatan, dreh‘ jetzt nicht durch!" Isengrim packte ihn am Kragen und stierte ihn bedrohlich an. Ihr kunstvoll geflochtener Zopf sah aus wie eine goldene Schlange, die sich um ihren Hals wand.
"Richtig", pflichtete Mina bei. "Alles berechtigte Fragen, aber nicht für diesen Moment. Ein Schritt nach dem anderen."
"Und der erste Schritt ist, dieses Monstrum zur Strecke zu bringen", mischte sich Rudulf ein, der nach wie vor sein Bestes tat, sich nicht übergeben zu müssen.
Alle nickten, einige mehr, andere weniger eifrig. Bis auf Hidda.
"Ähm, entschuldigt meine Widerworte, aber findet ihr das richtig? Diese Leute haben offensichtlich die Nestruhe dieses... Dings gestört, sogar seine Eier gestohlen. Wenn ihr mich fragt, waren sie selber schuld. Diese Kreatur, ob sie in unserer Welt heimisch ist oder nicht, sollte nicht den Preis für die Dummheit dieser Tölpel zahlen." Sie warf die Schalenreste fort und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
Erneut überraschte mich die Frau. Ihre kurzen, nussbraunen Haare und ihr kindliches Gesicht gaben ihr ein so unschuldiges Aussehen, dass man geneigt war, sie zu unterschätzen. Doch sie hatte recht. Wie sagten die Menschen doch so treffend? Leben und leben lassen.
„Eierdiebe gelten bei uns als ehrlos und hinterhältig“, pflichtete ich ihr bei. Ich erntete ein dankbares Lächeln von ihr, das zwei Grübchen zum Vorschein brachte.
Rudulf schnappte hörbar nach Luft. "Ist das euer Ernst? Frau, äh, Mina, ich erwarte, dass Sie mir dieses Problem vom Hals schaffen! Oder sollte ich etwa genötigt sein, einen weiteren Brief an den König zu schreiben, in dem ich von Eurer Weigerung berichte, unschuldige Menschenleben zu schützen?" Er schien seine Übelkeit überwunden zu haben.
Mina seufzte laut und hob beschwichtigend die Hände. "Nein, ist schon gut, Statthalter. Wir kümmern uns darum. Morg, kannst du uns zu seinem Nest führen?“
„Ja.“
„Also schön. Auf geht’s.“
„Aber...“, hob Hidda an.
„Kein Aber. Ich habe deinen Einwand zur Kenntnis genommen. Los jetzt.“
Sie stierte ihre Vorgesetzte an, ging im Geiste sicherlich alle möglichen Antworten durch. Doch schließlich schnaubte sie nur und gab klein bei.
"Da es schon bald dunkel wird, und, ähm, ich habe noch... Dinge zu erledigen...", stammelte Rudulf, dessen Blick immer wieder zu der Leiche zurückkehrte.
"Ja ja, schon gut. Wir kommen dann zurück in die Stadt, sobald wir, ähm, fertig sind", erwiderte Mina wenig überrascht. Sie zog ihr Einhänderschwert aus der Scheide und prüfte die Klinge. "Dann mal los, machen wir unserem Namen alle Ehre."
Morg machte sich daran, die Fährte aufzunehmen. Er starrte mit zusammengekniffenem Auge in den Wald und atmete einige Male tief ein. Schließlich legte er sich auf eine Richtung fest und stapfte los, dieses Mal allerdings weniger eilig. Es konnte nicht weit sein.
"Habt ihr irgendwelche Hinweise für uns, wie man gegen ein solches Wesen kämpft?", flüsterte Mina, die zu mir aufgeschlossen hatte.
Überrascht schaute ich zu ihr herüber, wurde ich mir doch schlagartig meiner Fehlannahme bewusst: Die Menschen hatten ja noch nie gegen einen Ylrag gekämpft, wussten überhaupt nicht, auf was sie sich einließen. "Oh, ähm, ja. Also Krallen und Schnabel sind scharf, von denen solltet ihr euch fernhalten", erwiderte ich, halblaut an alle gerichtet. "Und ansonsten müsst ihr kraftvoll genug mit euren Waffen zustoßen, um das dicke Federkleid zu durchdringen."
"Ach so. Sonst nichts weiter?", ätzte Muonn von weiter hinten.
"Doch, eigentlich schon. Sie sind blitzschnell, stark und unberechenbar."
"Herr, steh uns bei. Ich bin zu jung zum Sterben", murmelte Marius in einem Anflug von Panik.
"Am besten wird es wohl sein, wenn ihr uns machen lasst", versuchte ich zu beruhigen. „Ist nicht unser erster Ylrag.“
"Das ist doch mal ein vernünftiger Vorschlag", schnaufte Muonn. "Wie wäre es dann, wenn ich die Stellung in der Stadt halte und alles für eure Rückkehr vorb-"
"Ruhe, verdammte Bande!", zischte Mina. Sie musterte mich von oben bis unten, nahm insbesondere unsere Rüstung und Waffe ins Auge. "Bist du sicher?", fragte sie schließlich. Ihre bogenförmigen Augenbrauen unterstrichen ihre Skepsis.
"Ja. Haben sogar schon mal einen mit bloßen Händen erlegt. Es war haarscharf, aber nun, bewaffnet wie wir sind, sollte es schon gehen."
"Sollte schon gehen", wiederholte Morg.
"Also gut", seufzte sie schließlich. "Ihr macht die Arbeit, aber wir alle", betonte sie und schaute sich zu den anderen um, "unterstützen euch. Fernkämpfer, nutzt jede Lücke, die sich auftut. Nahkämpfer, ihr sorgt für Ablenkung und gebt Morg und Grom Luft zum Atmen." Sie griff ihr Schwert ein wenig fester. "Zu welchem Gott betet ihr?", wandte sie sich unvermittelt an mich.
"Zu welchem...?", erwiderte ich überrascht, während ich mich auf den Weg voraus konzentrierte, den Morg eingeschlagen hatte. Die Sonne stand schon tief, dunkle Schatten durchschnitten den tiefrot erleuchteten Waldboden. "Wir beten nicht. Nicht so wie ihr. Oder zumindest war es einmal so. Nun beten wir zu..." Ich überlegte, ob ich noch weitere Ausführungen nachschieben sollte, entschied mich aber dagegen. Und Mina fragte nicht weiter nach.
Plötzlich ertönte ein markerschütternder, gellender Schrei, bei dem sich meine zahlreichen Nackenhaare aufstellten. Er rollte über uns hinweg, wie eine Lawine aus purer Bedrohung, und hallte für eine gefühlte Ewigkeit im Wald nach.
"Nicht mehr weit", stellte Morg das Offensichtliche fest. Ein Grinsen stand auf seinem Gesicht, die gewaltigen Reißzähne standen beinahe leuchtend hervor. Ich konnte spüren, wie ihn der Rausch begann zu durchfluten, wie unser Herz schneller schlug, die Sinne erwachten. Er freute sich auf den Kampf.
Ein Blick zurück sagte mir, dass er der einzige war, der so fühlte. Die Drachenjäger machten einen wenig imposanten Eindruck, wie sie angewurzelt dastanden und mich mit riesigen Augen anstarrten. Wortlos bedeutete ich ihnen, mir zu folgen. Ich hatte keine Zeit, mich um sie zu kümmern, musste mich für den Kampf wappnen.
Wir schlichen weiter bergauf, bis mit einem Mal der Waldrand erreicht war. Er gab die Sicht frei auf eine größere Lichtung, die zufällig auch genau die Kuppe der kleinen Anhöhe bildete. Eiligst gab ich den Menschen ein Zeichen, in Deckung zu gehen und sich zu verbergen. Wenigstens stand der Wind günstig, ansonsten wäre unser Aufstieg sicherlich ganz anders verlaufen.
Denn dort oben, genau auf der Spitze der Anhöhe in den skeletthaften Überresten eines toten Baums, hatte sich etwas ein Nest gebaut. Und dieses Nest war gewaltig: Wie eine knorrige, hölzerne Krone zierte das wuchernde Gebilde diesen Hügel – eine Krone, in der etwas lebte. Ich konnte nicht viel erkennen, außer einem sich gelegentlich über den Nestrand erhebenden Federkleid.
"Kein Ylrag", wisperte Morg so leise er konnte.
Ich nickte. Ylrag bauten keine Nester. Neben mir hörte ich es mit einem Mal leise rascheln und bemerkte Mina, die hinter einem Baum in die Hocke ging. Wieder einmal musste ich ihren Mut bewundern.
"Ist er das?", flüsterte sie kaum hörbar.
"Ja. Und nein. Das ist unser Übeltäter. Aber ich habe keine Ahnung, was es ist."
Die Antwort beruhigte Mina nicht gerade. "Kein Ylrag also. Und nun?"
Ein Blick zu Morg sagte mir, dass er nach wie vor entschlossen war. Ich spürte seinen Drang, loszuschlagen, seinem Rausch nachzugeben.
"Wir bleiben dabei", stellte ich nüchtern fest. "Seid ihr bereit?"
Sie warf einen prüfenden Blick zu den anderen. "Bereiter werden wir zumindest nicht."
"Gut." Plötzlich musste ich leise kichern.
"Was ist so verdammt lustig?", zischte Mina.
"Ach, ich musste nur gerade an etwas denken. Ich kann dir nicht sagen, wie der Kampf ablaufen wird. Wir müssen... improvisieren." Ich kicherte erneut, ohne es zu wollen.
"Grom, werd' jetzt bitte nicht verrückt. Ohne dich sind wir verloren."
"Keine Sorge."
Wie aufs Stichwort übernahm Morg, umklammerte entschlossen den Streithammer und trat auf die Lichtung.
"Was soll schon schiefgehen?", flüsterte ich ihr noch zu, kurz bevor er in einen Laufschritt verfiel.
Ist es nicht seltsam? Wann immer jemand diesen Satz – Was soll schon schiefgehen? – sagt, geht ganz genau alles schief? Unser Kampf gegen die Säbelkaue war da nicht anders. Es ging schon damit los, dass das Tier nicht unterschiedlicher zu einer Säbelklaue hätte sein können. Nun gut, es hatte vier Beine und Flügel, aber dort hörten die Gemeinsamkeiten schon auf. Weder hatte es ein dichtes Federkleid, bis auf vereinzelte Federn am Schwanz, noch einen Schnabel. Stattdessen war es schuppig und hatte das Maul voller scharfer Reißzähne.
Als Morg die Bäume hinter sich ließ und auf die Lichtung trat, hatten wir obendrein noch das Pech, dass in diesem Moment der Wind drehte und unsere Fährte zu dem Tier herüberwehte. So war das Überraschungsmoment dahin.
Fünf Schritte vor dem Nest reckte das Wesen auf einmal seinen schlanken, spitzen Kopf über den Rand des Nestes und schaute uns direkt an. Es fühlte sich an, als würden sich seine tiefschwarzen Augen direkt in mich hineinbohren. Auf eine seltsame Art war ich fasziniert, beinahe schon hypnotisiert; wenn Morg nicht die Kontrolle gehabt hätte, wäre ich unter Umständen stehengeblieben – und hätte mich in dem Blick verloren. Doch so rasten wir weiter auf das Wesen zu.
Noch vier Schritte. Es stieß erneut diesen gellenden Schrei aus, der aus der kurzen Entfernung um ein Vielfaches lauter war als noch vorhin im Wald. Der spitze Kopf, so erkannte ich nun, saß auf einem langen schlanken Hals, der weiter und weiter dem Nest entwuchs. Morg antwortete mit einem tiefen, ebenso markerschütternden Kriegsschrei.
In drei Schritten Entfernung klammerte sich das Wesen an den Rand seines Nests und baute sich bedrohlich auf. Mit ausgebreiteten Flügeln und hochgerecktem Kopf war es sicherlich höher als einer dieser Kirchtürme der Menschen, seine Spannweite betrug leicht zwanzig Schritt. Irgendwo sagte eine leise Stimme in meinem Kopf, dass es vielleicht keine gute Idee gewesen war, sich Hals über Kopf auf diese Lichtung zu stürzen.
Noch zwei Schritte. Morg hob den Streithammer hoch über seinen Kopf, sein Schrei nahm noch an Intensität zu. Er machte sich bereit zum Sprung. Wenn ich das Wesen nicht vollkommen falsch verstand in diesem Moment, dann war es mindestens irritiert von uns, hatte vielleicht sogar Angst – was nicht bedeutete, dass es vorhatte, zu fliehen. Im Gegenteil: Es machte sich bereit, sich in die Tiefe, auf uns zu stürzen.
Den letzten Schritt nutzte Morg, um sich mit einem brachialen Satz in die Luft zu katapultieren. Im selben Moment katapultierte sich das Wesen über den Nestrand und kollidierte mit uns kurz darauf mitten in der Luft.
Morgs Kriegshammer sauste herab – und verfehlte den Kopf! Stattdessen traf er eine der ausgestreckten, äußerst scharf aussehenden Klauen. Ich hörte es laut knirschen, als eines seiner Beine unter dem Einschlag des Hammers zertrümmert wurde. Zeitgleich grub sich die andere Klaue spitz und kraftvoll in Morgs Körperhälfte, durchdrang die Haut tief bis auf die Knochen. Sowohl er als auch das Tier jaulten gleichzeitig auf, während wir in einem wilden Knäuel zu Boden fielen und hart aufschlugen.
Das Wesen stieß sich hektisch ab, flatterte einige Schritte zurück und landete auf drei Beinen. Eins der Vorderbeine hing schlaff herunter, dunkle Flecken begannen sich unter der grauen Haut zu bilden. Zornig stierte es uns an. Mit einem mühsamen Ächzen raffte sich Morg auf, ein stechender Schmerz strahlte von der linken Brustseite in den gesamten Körper aus.
"Au", brummte er und betastete seine Seite. "Morg sauer"
Noch während das Wesen und wir uns argwöhnisch gegenüberstanden, kam ein Pfeil flirrend zwischen den Bäumen hervorgesaust und bohrte sich mit leisen Umpf in die Flanke des Wesens. Er drang nicht tief ein, konnte kaum Schaden angerichtet haben, doch der geschuppte Kopf fuhr überrascht herum und ließ erneut seinen Schrei hören. Das war alles an Ablenkung, was Morg brauchte. Ohne zu zögern, hastete er los und holte erneut mit dem Hammer aus.
Zu spät erkannte das Wesen die Gefahr, versuchte noch auszuweichen, doch der Hammer landete einen Treffer in der Seite des Tiers. Rippen, so es denn welche hatte, brachen laut und die Luft entwich hörbar aus seiner Lunge. Mit einem jämmerlichen Seufzer taumelte es zur Seite und schien zusammenzubrechen. Ich hörte noch einen zufriedenen Grunzer von Morg, der sich zu früh siegesgewiss gegeben hatte: Während das Wesen in einer halben Drehung herum taumelte, brachte es seinen mächtigen Schwanz mit einem Wuchtschlag herum.
Wir waren zu langsam, ich bekam die harten Schuppen und dornigen Fortsätze zu spüren, deren Aufprall uns erneut von den Füßen holte. Ich hörte es knirschen und knacken in unserem Körper und hoffte nur, dass alle Knochen heile geblieben waren.
"Unghh", machte Morg, dessen Hammer in einem weiten Bogen davonflog. Dunkle Sterne tanzten vor meinen Augen.
"Nein, verdammt. Morg! Morg?", rief ich, doch der Aufprall hatte ihm scheinbar das Bewusstsein geraubt. Der Blick zu unserem Gegner sagte mir, dass wir nur wenige Augenblicke hatten, bevor er sich auf uns stürzen würde. Verletzte Tier kämpften am wildesten. Wir waren in ernsthafter Gefahr.
Ich versuchte hektisch, die Kontrolle an mich zu reißen, was mir jedoch nur unsäglich langsam gelang. Zähflüssig wie Honig spürte ich tropfenweise das Gefühl in meine Gliedmaßen zurückkehren, während sich das Tier aufrappelte und langsam auf uns zu schleppte. Seine schwarzen Augen waren auf mich fixiert, darin spiegelte sich tödliche Entschlossenheit. Selbst wenn es das Letzte war, was es tat, es würde uns zu unseren Ahnen befördern.
Da – meine Finger ballten sich zu einer Faust! Eine Woge der Erleichterung rollte durch mich, die jedoch gnadenlos an den immer noch tauben Beinen brach. Nur noch einen oder zwei Augenblicke und das Wesen würde seine spitzen Zähne in uns schlagen, was unseren Tod bedeuten würde. Ein verzweifelter Blick zu Morg sagte mir, dass er nicht rechtzeitig bei Bewusstsein sein würde. Das Tier machte einen letzten taumelnden, unbeholfenen Satz und stürzte sich auf uns. Meine Welt verschwamm.
Sie nahm wieder Konturen an, als mich der Razsh’ek aus der nebulösen Umklammerung der Ohnmacht riss. Wie nach einer schallenden Ohrfeige durchströmte heißes Blut meine Adern. Verwirrt blickte ich mich um.
Die Silhouette des Tiers zeichnete sich unverändert riesig und bedrohlich vor dem verblassenden Abendrot ab, doch zu seiner linken lagen nun Mina und Hiskam im Staub – beide wanden sich vor Schmerzen, schienen jedoch nicht lebensgefährlich verletzt, ihre blutigen Schwerter waren weit davongeflogen. Von der anderen Seite stürmte in diesem Moment Isengrim mit erhobener Lanze heran und trieb sie tief in die Flanke des Geschöpfs. Ein gequältes Fauchen entfuhr ihm. Mit beeindruckender Geschwindigkeit brachte es seinen gefederten Schwanz herum und schlug nach Isengrim, die sich nur im letzten Augenblick durch einen Sprung in Sicherheit bringen konnte. Dünnes Pfeifen durchschnitt plötzlich die Luft, als ein kompaktes Geschoss zwischen den Bäumen hervor flog, die Flughaut des Tiers durchschlug und krachend eine Schuppenplatte zerschmetterte. Zorniges Gebrüll ließ die Luft erzittern.
In diesem Moment bemerkte ich Morg, der wieder bei Bewusstsein war. Dunkelviolette Runen zeichneten sich leuchtend auf seinem Gesicht ab, das Auge von einem dunkelrot, beinahe schwarzen Schatten überdeckt. Wie lebendige Tentakeln waberten sie in seinen Augenwinkeln.
"Schnapp dir das Ding!", rief ich ihm zu und leitete alle verbleibende Kraft, die ich noch in mir hatte, zu ihm.
Jeglichen Schmerz zur Seite wischend, sprang er tobend auf und stürzte sich auf die Bestie. Mit seiner gewaltigen Faust hieb er auf ihren Kopf ein, wehrte so die schnappenden Reißzähne ab. Ihr langer Schädel wurde brutal zur Seite geschleudert, was den Weg zu ihrem Hals und den empfindlicheren Körperstellen öffnete. Mit einem Satz katapultierte sich Morg in die Luft, bekam ihren schlanken, fast schon eleganten Hals zu fassen und klammerte sich daran fest wie an einem Baumstamm. Man könnte meinen, er würde er dem Ungetüm eine Umarmung geben wollen – eine Umarmung, die ihren Ursprung nicht in Liebe, sondern in todbringender Absicht hatte. Er brachte die muskulösen Arme herum, umschloss den dünnen Hals vollständig – und presste, so fest er konnte.
Das Wesen erkannte die Gefahr. Morg hatte seine Schwachstelle gefunden, es befand sich in akuter Lebensgefahr. Ein dünner, röchelnder Seufzer war das einzige Geräusch, das die versperrte Luftröhre zustande brachte, als es in den finalen Todeskampf eintrat. Verzweifelt und panisch wurden seine Bewegungen, als seine Lunge und Muskeln zunehmend nach Luft schreien mussten. Es schlug wild und unkoordiniert aus, versuchte, sich in die Luft zu erheben, und fiel wieder zu Boden. Es wälzte sich zuckend und ausschlagend umher. Doch Morg hielt den Hals fest umklammert, das Auge zusammengekniffen. Seine Arme spannten sich zu dicken Muskelbergen, pulsierende Adern traten wie Taue unter der Haut hervor. Wie von Sinnen hieb er seine Reißzähne in die dicke Schuppenhaut des Wesens.
Das Geschöpf bot eine beeindruckende, letzte Gegenwehr auf, bäumte sich Mal um Mal auf. Doch irgendwann wurden die Bewegungen des Tiers fahriger und kraftloser, kostete jeder unkoordinierte Prankenhieb mehr und mehr Kraft, bis es schließlich im Staub zusammenbrach. Selbst als der letzte, rasselnde Seufzer durch den langen Hals gedrungen war, klammerte Morg sich noch stoisch fest.
Behutsam begann ich damit, seinen Razsh’ek zu Boden zu ringen. In diesem Zustand war es nicht auszuschließen, dass er sich direkt das nächste Opfer stürzte, ob Freund oder Feind.
"Es ist tot. Du hast es geschafft!" Ich suchte seinen Blick, drängte in unseren Körper zurück. Die Runen waren bereits ein Stück verblasst, als er seine Hauer aus der Haut zurückzog und den Griff zögerlich lockerte.
"Geschafft?", rumpelte er mit seltsam verzerrter Stimme.
"Ja, geschafft. Du hast uns allen das Leben gerettet." Ich versuchte, ihn anzulächeln. Meiner Erfahrung nach funktionierten positive Emotionen immer am besten, um ihn zur Besinnung zu bringen.
Langsam löste er die Umklammerung und starrte erst auf seine Hände, dann zu mir herüber. Mit einem Mal strömte Gefühl in Arme und Beine zurück – und mit ihnen die Schmerzen, die von den Wunden des Kampfes herrührten. Ein kindlich-friedliches Grinsen löste die Runen ab.
"Was zum Teufel war das?!", fluchte Mina, während ich mich von dem leblosen Geschöpf löste. Muonn, Hidda, Rualab und Marius waren zwischen den Bäumen hervorgekommen und zu uns gestoßen.
"Das... nun, war auf jeden Fall keine Säbelklaue", schnaufte ich und humpelte zu ihr. Unsere Wunden bluteten stark, sollten aber nicht lebensbedrohlich sein. Ich hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen.
"Was du nicht sagst!", schrie sie mich mit unvermittelt hervorbrechendem Zorn an und schlug meine Hand fort. Ich zuckte zusammen. Ihr halblanges Haar klebte blutverschmiert am Kopf, die schwere Lederrüstung hing an einigen Stellen in Fetzen. Sie schloss die Augen, atmete ein Mal tief durch und und ließ sich schließlich von Isengrim aufhelfen. Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerzen, als sie auf die Beine kam.
"Entschuldige. Geht es allen gut?" Sie warf allen einen prüfenden Blick zu und erntete zustimmendes Raunen. "Euch auch?" Blieb der schließlich an mir hängen, insbesondere auf unserem blutüberströmten Körper.
"Was, das? Ja, schon gut“, erwiderte ich.
"Und wie... hast du das gemacht?", richtete sich Hidda an mich. Sie hielt eine kompliziert aussehende Waffe in der Hand, die an eine Armbrust erinnerte.
Verwirrt schaute ich sie an. "Was gemacht? Morg hatte die ganze Arbeit."
Doch sie schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, ich habe sehr gute Augen, konnte von meiner Position alles sehen. Als sich das Ungeheuer auf euch gestürzt hat, war er ohnmächtig. Und du...?"
Alle starrten mich wortlos an und nickten.
"Ääh. Was? Ich, ähm, weiß nicht genau..." Ich versuchte, meine Erinnerungen zu erforschen, doch die waren ausgelöscht von der Ohnmacht.
"Wir alle haben es gesehen, Grom. Das Vieh war kurz davor, euch die Köpfe abzubeißen, und ihr habt nur regungslos dagelegen. Doch auf einmal kam da dieser... Blitz aus deiner Hand."
Ungläubig starrte ich in die Runde. "Ein Blitz? Ihr wollte mich doch aufziehen!" Doch niemand lachte. Ich blickte auf meine Hand. "Ein Blitz?"
Doch meine Hand lieferte keine Antworten.
"Sei's drum, das ist eine Frage für ein anderes Mal. Nun will ich aber wissen: was ist dieses Ding da?", unterbrach Mina das Schweigen und zeigte auf den Kadaver.
"Kein Ylrag", antwortete Morg einsilbig.
"Ja ja, so weit waren wir ja schon", erwiderte sie.
Alle starrten ratlos auf den riesigen Berg grauer, knotiger Haut und scharfen Klauen.
"Ein Lintwurm", schlug Hidda schließlich vor. Ihre warme, helle Stimme bot einen scharfen Kontrast zu dem Schlachtfeld, das sich uns darbot.
Muonn schnaubte. "Was für ein Seemannsgarn... Lintwurm! Mach' dich nicht lächerlich. Drachen gibt es nicht."
"Warum? Nur weil er kein Feuer gespien hat? Guck' doch mal hin, die Beschreibung passt ansonsten sehr gut", erwiderte sie ruhig. "Grom, du sagst, du hast sowas auch noch nie gesehen? Also habt ihr es... äh, nicht mitgebracht aus eurer Welt?"
Wir schüttelten die Köpfe.
"Aber wenn es nicht aus eurer und auch nicht aus unserer Welt kommt... was heißt das?", lachte Hiskam nervös.
"Das kann ich dir sagen. Dass wir von nun an eine verdammt gute Geschichte zu erzählen haben", rief Rualab.
Mina stimmte lachend zu. "Du hast recht. Von nun an sind wir waschechte Drachenjäger."
„Ich dachte, das ist ein Lintwurm?“, warf ich ein.
„Bitte, bitte! Dann eben Lintwurm-Jäger.“
„Lintbrut“, murmelte Hidda.
„Wie?“
„Dieses Geschöpf hat uns zusammengeschweißt. Von einem lose zusammengewürfelten Haufen zu Gefährten mit einer Aufgabe. Wenn man so will, hat es uns auf die Welt gebracht.“ Sie ließ ihre funkelnden, grünen Augen durch die Runde wandern. „Wir sind seine Brut.“
„Die Drachenjäger sind tot, lang lebe die Lintbrut!“, schrie Isengrim und reckte ihre Axt in die Höhe. Wir alle warfen uns vielsagende Blicke zu – Blicke, die voller Verheißung und Übermut waren.
„Lintbrut!“, fielen wir ein. Das Klirren von Waffen und donnernde Rufen durchbrach die einsetzende Nacht.
"Soll das etwa heißen", unterbrach Marius mit dünner Stimme, "dass wir zukünftig noch mehr solche Geschöpfe erlegen müssen?" Seine Mundwinkel waren fast bis zum Kinn heruntergezogen.
"Es heißt auf jeden Fall, dass es von nun an nicht langweiliger wird." Mina wischte ihre blutige Klinge an der Haut des Lintwurms ab. "Und, dass wir unseren Sold erhöhen sollten."