Die Anhänger Gol’dars befreiten sich nur langsam und mühselig aus ihrer noch lange nachklingenden Umklammerung. Über Tage waren wir mit Gesprächen, Beschwichtigungen und Appellen beschäftigt, bis wir sicher waren, alle auf derselben Seite zu stehen. Gegen den Willen von Un’ro, den wir zu unserer rechten Hand ernannt hatten, ließen wir auch Gol’dar eine feierliche Bestattung zukommen. Als die Flammen hoch in den Nachthimmel loderten, die ihren und Schat’uns Körper verzehrten, sprach ich davon, dass sie die letzten Opfer sein sollten, die unter der Knechtschaft der Keszz ihren Tod gefunden hatten. Von diesem Moment an, so beschwor ich meinen Stamm, wären wir frei und Herren über unseren eigenen Willen. Die Zeremonie ging in Würde zu Ende, zwei der wichtigsten Mitglieder unseres Stammes angemessen.
Es waren schwierige Tage, voller Verwirrung, Ziellosigkeit und Selbstzweifel. Wir schienen endgültig mit unseren Herrschern gebrochen zu haben, was allenthalben ein diffuses Gefühl der Melancholie und Leere hinterließ. Ich schob es auf die Lücke, die die verstummte Stimme der Keszz in unseren Köpfen hinterließ. Ich litt mit meinem Stamm, grübelte über die herannahende Konfrontation und zerbrach mir den Kopf, ob wir darauf vorbereitet waren. Insbesondere der Verlust unser beiden Ältesten, Schat’un und Gol’dar schmerzte in Anbetracht dieser gewaltigen Herausforderung.
Lediglich Morg schien sein unbekümmertes Selbst zu sein und ließ sich allabendlich von Razzhiv den geschundenen Körper pflegen. Er genoss das Leben, den Ruhm und die Fürsorge. Oft genug ging dies selbstredend in Intimität über, an welchem Punkt ich mich dann zurückzog und die beiden allein ließ.
„Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagte Zuak am vierten Tag nach unserem Sieg zu mir. „Bei meiner Abreise waren bereits die ersten Armeen eingetroffen. Inzwischen dürfte das gesamte Heer des Königs versammelt sein. Ihr solltet allmählich Vorbereitungen für die Abreise treffen.“
„Ich weiß“, seufzte ich und ließ meinen Blick über unser kleines, provisorisches Dorf gleiten, in dem gerade alle Spuren der alten Zeit, wie Altare, Runenschriften und Fetische, so gut wie verschwunden waren. Ein Hauch von Normalität war dabei, Einzug zu erhalten. Hin und wieder hatte ich sogar jemanden lachen gehört!
„Du weißt, dass all das nicht von Dauer ist, wenn wir die Keszz nicht besiegen?“, stellte er fest. Ich schaute in sein runzliges Gesicht, aus dem mich unter buschigen, ergrauten Augenbrauen freundliche Augen betrachteten.
„Wenn du einer von uns, ein Oger wärst... du würdest einen hervorragenden Seher abgeben“, lachte ich.
„Gebrauchen könnten wir einen“, brummte Morg.
„Ihr ehrt mich“, schmunzelte Zuak und deutete eine Verbeugung an. „Doch das, äh, gäbe schon ein kurioses Bild ab, nicht? Ein Mensch, der euch etwas von den Sagen und Mythen eurer, hm, eigenen Welt erzählt?“
„Nun, vielleicht nicht unbedingt das, aber-“
„Mein Freund“, unterbrach er mich einfühlsam. „Verschwende keinen Gedanken daran, glaube mir. Außerdem glaube ich, dass ihr genug talentierte Köpfe in euren eigenen Reihen habt.“ Sein Blick huschte wie zufällig zu Zor’a, die gerade an uns vorüberging, ohne uns einen Blick zuzuwerfen.
„Was... sie?“, flüsterte ich.
Zuak zwinkerte mir zu, ohne seinen Gedankengang näher zu erläutern. „Nun, das ist vielleicht eine Überlegung für einen anderen Tag. Jetzt geht es darum, eure, ähm, Verpflichtungen gegenüber dem König zu erfüllen. Ihr müsst zu den Waffen rufen!“
Ich überlegte einen Moment und nickte schließlich. „Du hast recht. Wir werden erst endgültig frei sein, wenn die Keszz nicht mehr sind.“ Ich beobachtete jemanden dabei, wie er die eingestürzte Wand seiner Hütte erneuerte, während seine Gefährtin in einem dampfenden Kessel rührte. Beide lächelten sich für einen kurzen Moment hoffnungsvoll an.
„Morgen früh brechen wir auf.“
Als wir kurz nach Sonnenaufgang in Richtung Goldenstein aufbrachen, waren wir eine äußerst beeindruckende Erscheinung: An die hundert Ogerinnen und Oger, bewaffnet mit kruden Knüppeln und nur leicht bepackt, brachen aus dem Unterholz auf die Straße.
Ich warf einen Blick über die Schulter, auf unser nun vereinsamtes Dorf. Zeltplanen wurden sanft vom Wind angehoben, ein letztes Kochfeuer war dabei, zu verlöschen. Nur die leeren Hütten blieben als Zeugen zurück, wie die Kinder von Tÿl sich aus den Fängen ihrer Tyrannen befreit haben. Würden wir je wieder hierher zurückkehren? Wenn ja, wie sähe die Welt dann aus?
Unsere Fußtritte brachten den Boden zum Erzittern, als wir in einer Kolonne die Straße entlangmarschierten. Halb mitleidig, halb belustigt schaute ich den wenigen Menschen hinterher, denen wir begegneten und die, nach kurzem, ungläubigen Innehalten, panisch Reißaus nahmen. Ich musste gestehen, so befremdlich es sich anfangs anfühlte, diese Schar anzuführen, desto stolzer wurde ich mit der Zeit. Weniger ob meiner eigenen Leistungen, sondern vielmehr wegen meiner Mitstreiter. Ja, wir sahen wild, chaotisch und furchteinflößend aus, aber nicht ein einzelner von uns scherte aus und stellte etwas Dummes an, wie das Vieh eines Bauern zu verspeisen oder schlimmeres. Ich wollte es nicht Disziplin nennen, was wir an den Tag legten, aber es kam dem verdammt nahe.
Zwei Tage später erreichten wir Goldenstein und errichteten, mit gebührendem Abstand von der Stadt und den um sie herum aus dem Boden gesprossenen Zelten, unser Lager auf einer kleinen Anhöhe.
„Das sind ’ne Menge mehr Soldaten als noch bei unserer Abreise“, stellte Morg fest und ließ seinen Blick über die endlos scheinende Zeltstadt schweifen, die sich zu unseren Füßen über die gesamte Ebene rund um die Hauptstadt erstreckte. Es mussten tausende Zelte sein! Unzählige Feuerstellen glommen wie Sterne in der Nacht.
„Sehr viel mehr“, stimmte ich zu. „Weißt du, mich überkommt das Gefühl, als könnte all das wirklich funktionieren. Mit den Menschen an unserer Seite haben wir eine echte Chance gegen die Ungeheuer.“
Von unten erklang eine helle Glocke, deren Bimmeln leise zu uns herauf driftete. Erste Gestalten erschienen vor Zelten, weitere gesellten sich dazu, zeigten in unsere Richtung. Geschrei mischte sich unter das Klingeln der Glocke.
„Hoffen wir mal, dass sie auch wirklich an unserer Seite stehen“, brummte Morg, als eine Schar Reiter das Stadttor passierte und auf uns zukam. Nervöses Raunen ging durch die Reihen der Oger.
„Hört zu!“, rief ich an meine Leute gewandt. „Das hier sind unsere Verbündeten. Lasst die Waffen stecken und verhaltet euch ruhig. Die sind mindestens genauso nervös wie wir. Bei so vielen Ogern auf einem Haufen wird jeder nervös“, lachte ich, was auf die anderen übersprang. Ich hoffte nur, dass der König es sich nicht zwischenzeitlich anders überlegt hatte.
Als die kleine Gruppe an Reitern schließlich die Anhöhe erklommen und vor uns zum Stehen gekommen war, konnte ich auch Gesichter erkennen. Außer Minas erkannte ich aber keins von ihnen. Ich nickte ihr freudig zu und wartete dann ab, was die drei anderen Männer zu sagen hatten.
„Wer-von-euch-ist-der-den-sie-Grom-nennen?“, fragte ein drahtiger Mann mit harten Gesichtszügen in übertrieben langsamer Aussprache. Wahrscheinlich hatte er wenig Zuversicht in meine Sprachkenntnisse.
„Ähm, ja, das bin ich.“ Ich trat einen Schritt vor und nickte ihm zu.
„Häuptling der Kinder von Tÿl“, ergänzte Morg.
Seine blauen Augen musterten mich durchdringend und, obwohl er zu mir aufschaute, fühlte ich mich kleiner als er. Eine Aura der Autorität strahlte von ihm ab. Schließlich stieg er unvermittelt von seinem Pferd ab und machte drei forsche Schritte auf mich zu. Dort blieb er stehen und streckte ruckartig die rechte Hand aus.
„Oberst von Banthal“, sagte er mit ruhiger, fester Stimme ohne die Spur eines Lächelns.
„Freut mich, Oberst“, erwiderte ich und ergriff seine Hand behutsam.
„Ihr seid Grom“, sagte er halb fragend, halb feststellend, blickte mir dabei in die Augen. „Und Ihr Morg“, wandte er sich meinem Bruder zu, was wir beide mit synchronem Nicken quittierten.
„Gut. Es freut mich, dass ihr endlich hier seid. Wir haben wenig gute Nachrichten aus dem Osten erhalten, die uns zum Handeln zwingen. Dazu aber später mehr. Auf Befehl des Königs untersteht ihr ab sofort meinem Kommando. Ich zeige euch nun euer Quartier.“ Er schaute sich abwägend in der Gruppe um. „Könnte ein bisschen eng werden, aber ihr werdet euch schon arrangieren. Oh, außerdem haben wir eine sehr fleißige Technika, die Tag und Nacht gearbeitet hat, um für euch Ausrüstung herzustellen.“ Damit schwang er sich wieder auf sein Pferd und wendete es.
„Mitkommen“, schnalzte er und trieb es zu lockerem Trab an.
Von Banthal wies uns eine überschaubare Ecke der provisorischen Zeltstadt zu, in der wir uns niederlassen konnten. Es war nicht sonderlich komfortabel, doch wir hatten alles, was wir brauchten. Ich versuchte, den aufkommenden Unmut über die beengten Verhältnisse zu entschärfen, indem ich die Kurzfristigkeit dieses Arrangements betonte.
„Sieh mal einer an! Die Nachricht, dass die Riesen da sind, verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Lager“, lachte plötzlich jemand hinter mir.
„Die Stimme kenne ich doch“, rief ich und wirbelte herum. Es war Hidda, die die Hände in die Hüfte gestemmt hatte und sich anerkennend umsah. Ich konnte nicht anders als sie hochzuheben und in die Arme zu schließen. Sie erwiderte quiekend meine Umarmung, in der sie, beinahe wie ein Kind, fast vollständig verschwand.
„Es tut so gut, dich zu sehen“, strahlte ich, während ich sie behutsam auf dem Boden absetzte.
„Hallo Hidda“, brummte auch Morg fröhlich.
„Na, ihr? Habt ihr euch schon gut eingerichtet?“
„Sehr gut, wirklich. Ich muss schon sagen, was ihr innerhalb kürzester Zeit in der Lage seid, aus dem Hut zu zaubern...“, murmelte ich und ließ meinen Blick beifällig über die unzähligen Zeltdächer gleiten.
„Stattlicher Anblick, nicht? Aber ihr steht dem Ganzen ja in nichts nach. Allein bei eurem Anblick werden die Keszz doch schon die Flucht ergreifen.“ Sie zwinkerte mir zu. „Hört mal, das Wort macht die Runde, dass wir bereits morgen früh aufbrechen werden. Heeresminister Tomasz wird euch sicherlich noch heute unterrichten. Was ich noch besprechen wollte-“
„Du bist die Technika, von der der Oberst gesprochen hat, richtig?“, nahm ich ihren Gedanken vorweg.
„Oh, hat er?“, errötete sie leicht. „Nun, ich musste an unsere gemeinsame Zeit mit der Lintbrut zurückdenken und hatte den Eindruck, dieser Kriegshammer hat dir doch gute Dienste geleistet?“
Morg deutete auf die monströse Waffe, die an eine sich bedenklich krümmende Zeltstange lehnte. „Ist super“, grinste er.
„Wusste ich doch“, erwiderte sie ebenso. „Also habe ich begonnen, für euch alle welche herzustellen.“
„Für uns alle?“, starrte ich sie ungläubig an. „Wir sind einhundertunddrei Oger! Wie hast du das in der kurzen Zeit geschafft? Wo hattest du all das Material her?“
„Nein, leider... habe ich nicht für jeden eine Waffe“, entgegnete sie. „Ich wusste ja überhaupt nicht, wie viele ihr sein würdet! Also habe ich etwa fünfzig komplette Ausrüstungen, bestehend aus Waffe und Rüstung, herstellen lassen. Die Schmieden der Stadt arbeiten noch die ganze Nacht, aber wir werden nicht für alle-“
„Hidda?“, unterbrach ich sie lachend.
„Ja?“
„Das ist eine unglaubliche Leistung! Jedes einzelne Stück, auch nur eine einzige Waffe, hilft ungemein! Wir danken dir, von Herzen.“
„Nun... ähm, meinst du?“ Sie knetete die Hände. „Also schön.“
Sie wurde von dem Geräusch trampelnder Hufe unterbrochen. Ein Reiter näherte sich schnell, wahrscheinlich ein Bote.
„Ich suche den Anführer der Oger“, quiekte er eingeschüchtert. Er hatte alle Mühe, sein scheuendes Pferd zu beruhigen.
„Das sind wir“, antwortete Morg und stierte den Reiter an.
„Der König hat eine Besprechung einberufen und Eure Anwesenheit verlangt.“ Er deutete in Richtung der Stadt und ließ durchblicken, dass keine Verzögerung gestattet sei. Ohne ein weiteres Wort, sicherlich froh, von uns monströsen Ungetümen fortzukommen, machte er kehrt und verschwand zwischen den Zelten.
„Nun, so ruft denn die Pflicht“, seufzte Hidda und schaute ein wenig verträumt zu mir auf. „Die Hoffnung auf eine ruhige Nacht am Lagerfeuer, wie damals, war wohl vergebens.“ Mein Herz setzte einen Schlag aus.
„Wir werden sicherlich noch einige Nächte unterwegs haben“, haspelte ich. „Darf ich dich aber um einen weiteren Gefallen bitten?“
„Natürlich. Jeden.“
„Un’ro!“, brüllte Morg über seine Schulter.
„Niemand außer Morg und mir spricht eure Sprache“, fuhr ich an Hidda gewandt fort. „Ich brauche jemanden, an den sich meine Leute in meiner Abwesenheit wenden können. Und da ich weiß, dass du unsere Lektionen sehr schnell begriffen hast...“
Un’ro trat zu uns.
„K’al Zu“, grüßte Hidda und nickte in seine Richtung.
„K’al To“, erwiderte der überrascht.
„Dann hätten wir das ja geklärt“, grinste ich zufrieden.
Ich bahnte mir einen Weg zwischen den von staunenden Menschen bewohnten Zelten hindurch und betrat wie selbstverständlich die Stadt durch das große Tor. Niemand versuchte, mich aufzuhalten.
In Goldenstein selbst herrschte, ähnlich wie vor den Stadtmauern, geschäftiges Treiben. Überall auf den Straßen wimmelte es vor Soldaten, von denen die meisten wohl nicht im Dienst, sondern auf der Suche nach einer Möglichkeit waren, ihre Taler in Rausch umzuwandeln. Das vor der Stadt kampierende Heer hatte innerhalb kürzester Zeit die Einwohnerzahl der Stadt um ein Viertel erhöht. Das stellte sicherlich enorme Herausforderungen an die Nahrungsversorgung und sonstige Infrastruktur.
Unser Weg führte uns weiter zur Feste des Königs, die ein wenig entrückt, beinahe unberührt vom Trubel um sie herum friedlich da lag. Ein Vogel zwitscherte friedlich in einem kahlen Baum, ein Bediensteter grub ein Blumenbeet um und bereitete es auf den Frühling vor, eine Magd klopfte einen Teppich aus – kaum etwas deutete daraufhin, dass im Inneren die Vorbereitungen für einen voraussichtlich blutigen Feldzug auf Hochtouren liefen.
Unter den argwöhnischen Augen der Wachen eilte ich die Treppe hinauf und wurde von einem Bediensteten in einen Nebenraum geführt, in dem um einen ausufernden Tisch bereits mehrere Menschen versammelt waren. Gedämpfte Unterhaltungen füllten den Raum, die nur kurzzeitig unterbrochen wurden, als ich mich durch die für meine Verhältnisse niedrige Tür zwängte. Köpfe drehten sich neugierig zu uns um, Gemurmel kam auf. Einige der Gesichter erkannte ich von der Audienz mit dem König wieder, in der ich dem versammelten Hofstab die Gefahr, die durch die Keszz ausging, klarzumachen versucht hatte. Einige von ihnen nickten, andere drehten sich betont desinteressiert von uns weg. Am Tisch entdeckte ich den Oberst sowie Minister Tomasz über etwas brüten.
Plötzlich tippte mich jemand von hinten an. „Na, Großer?“
„Mina!“, flüsterte ich erfreut. „Wenigstens ein freundliches Gesicht.“
Sie hatte sich ordentlich herausgeputzt, ihre schwarzen Lederstiefel glänzten beinahe im Kerzenlicht, der lange Mantel wies nicht ein einziges Staubkorn auf und die schräge über ihre Brust verlaufende Knopfreihe war frisch poliert. Sie musste meinen anerkennenden Blick bemerkt haben und lachte leise auf.
„Sag‘ nichts, mit so sauberer Kleidung fühle ich mich auch nicht wohl!“, erwiderte sie verschwörerisch. „Aber, nun ja, der Anlass erfordert es, nicht wahr? Viele wichtige Köpfe hier: Alle Gefolgsleute des Königs, sowie die obere Führungsriege des Heers. Und einige weniger bedeutende Köpfe... Sonderberater wie ich.“ Sie zwinkerte mir zu.
„Ich bin froh, dass du hier bist. Worum geht es denn überhaupt?“, versuchte ich, den Sinn dieses Treffens zu ergründen.
Sie hakte sich bei mir unter, was einigermaßen kurios aussehen musste, da sie ihre Hand in die Höhe strecken musste, und drängelte sich zu dem großen Tisch hindurch.
„Schau mal! Das ist Karandia, kennst du ja“, flüsterte sie und zeigte auf den bemalten Tisch. Es war eine Landkarte, wie ich nun sah. „Diese kleinen Figuren, die da herumstehen, sind Truppen des Königs. Regimenter. So hat sie immer den Überblick, was so geschieht im Königreich. Von hier aus steuert sie die militärischen Geschicke.“
„Kommt sie denn nicht mit, wenn wir uns aufmachen?“, fragte ich einigermaßen erstaunt.
Mina zuckte mit den Schultern. „Glaube ich kaum. Aber das wird sie uns noch früh genug mitteilen. Wie dem auch sei, schau mal, dort im Osten. Hinter der dicken Linie, der Grenze, liegt Domillium. Dorthin wird es gehen.“
Ich überflog die Karte, entdeckte Flüsse und Berge, sowie Orte, die ich kannte: Von Augul, wo wir das erste Mal den Menschen begegnet waren, über Tandula, dem Nest des Lintwurms, Etteln mit der unterirdischen Geode, sowie Wurt, wo Lazar mein magisches Talent entdeckte.
„Welch eine Reise“, entfuhr es mir.
„Nicht wahr?“, stimmte Mina zu. „Sowohl das, was hinter, als auch das, was noch vor uns liegt.“
Sie zeichnete mit dem Finger den Weg nach Osten nach, der durch eine krakelige Linie, wahrscheinlich eine Straße, beschrieben wurde. Die Linie endete abrupt in einem kleinen Punkt, der mit Harthaupt bezeichnet war. Dort teilte eine senkrechte, noch dickeren Linie die Karte. Jenseits dieser Linie, der Grenze, wurden die Details der Karte gröber; lediglich größere Städte und markante Orientierungspunkte waren noch dargestellt – und über alles zog sich ein großer Schriftzug: Domillium.
„Was weißt du über dieses Land?“, wollte ich von ihr wissen.
„Um ehrlich zu sein, nicht viel.“ Sie lehnte sich zu mir herüber und senkte ihre Stimme noch weiter. „Nur das, was uns die Offiziellen so weismachen wollen.“
Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu und deutete dann mit ihrem Kopf in Richtung der Anwesenden Herrscher und Minister.
„Nein, da musst du Hidda fragen, die kennt sich in diesen Dingen besser aus. Alles was ich weiß, ist, dass es schwierige Unterredungen werden könnten.“
Just in diesem Moment klopfte einer der Kammerdiener dumpf mit einem langen, schweren Holzstab auf den Boden. Alle Gespräche verstummten zugleich.
„Der König“, verkündete der Diener laut und klar, kurz bevor die Tür aufschwang und Valerius hinein rauschte. Sie trug eine verhältnismäßig simple Garnitur aus schlichter, feiner Wolle, lediglich hier und dort mit glitzernden Details verziert. Es war offensichtlich, dass dies kein Staatsakt, sondern Arbeit war. Ohne sich die Zeit zu nehmen, die Verbeugungen ihrer Subjekte zu quittieren, umrundete sie den ausufernden Tisch und richtete das Wort an uns.
„Die Mobilmachung ist so gut wie abgeschlossen. Bis auf Randstadt, die eine Entschuldigung haben, sowie Zuus und Cajlen, die aus erfindlichen Gründen ein wenig länger brauchen, sind wir komplett. Wir haben nun knappe elftausend Mann versammelt.“ Zustimmendes Gemurmel unter den Anwesenden. „Das bedeutet: Wir marschieren! Aufbruch bei Sonnenaufgang, erhöhtes Marschtempo. Ich plane, in spätestens zwei Wochen an der Grenze zu sein.“
Zwei Wochen? Dann wurde mir klar, dass der größte Anteil der Soldaten sicherlich kein eigenes Pferd hatte und sich der gesamte Tross also im Schritttempo durchs Königreich winden musste.
„Tomasz übernimmt die genaue Koordination. Wendet euch an ihn, wenn ihr Fragen habt. Ich habe Vorkehrungen entlang unserer Route treffen lassen sowie Harthaupt instruiert, uns entsprechend willkommen zu heißen. Dort werde ich dann Kontakt zu... unserem Nachbarland aufnehmen.“
Hat sie hier etwa eine kurze Pause gemacht? Ich war mir nicht sicher.
„Hoffen wir, dass sie den Ernst der Lage ähnlich einschätzen wie wir und unsere Hilfe zu würdigen wissen.“
Sie ließ ihren Blick durch die Versammlung wandern und verweilte, so schien, es einen Moment länger auf mir.
„Ich werde an dieser Stelle wohl nicht mehr betonen müssen, welch einem Gegner wir uns gegenübersehen. Es steht hierbei mehr als je zuvor auf dem Spiel. Es geht um alles – unser Leben, unsere Spezies, unsere Welt! Wir haben nur diese eine Chance und wir müssen sie nutzen.“ Sie atmete tief durch. „Nun denn! Für Gott und Vaterland.“
„Für Gott und König!“, raunten die anderen. Damit war die Unterredung beendet und der König verließ, unter Stabklopfen des Kammerdieners, den Raum.
„Ich komme später noch bei dir vorbei, geh‘ schon mal!“, scheuchte Mina mich fort und steuerte auf einen Mann zu, den ich nicht kannte.
Als ich mir den langen Weg durch die Stadt und angrenzende Zeltbehausungen gebahnt hatte, traute ich meinen Augen kaum. Hidda stand inmitten einer Traube aus sie wie Türme überragenden Ogern und gestikulierte wild. Un’ro stand daneben und versuchte, ihre Anweisungen in verbindliche Befehle zu übersetzen. Gerade war sie dabei, Jat’ru eine Rüstung anzulegen, die der meinen nicht unähnlich war, wenn auch bei weitem nicht sorgfältig verarbeitet. Ich musste lachen, als ich seinen Gesichtsausdruck sah, und fühlte mich an den Tag zurückversetzt, als mir Hiskam und Rualab meine allererste, damals noch sehr provisorische Rüstung anlegten. Ein Gefühl von Beklommenheit und Enge, doch gleichzeitig auch Sicherheit, dass allein das Gewicht der massiven Eisenplatten vermittelte.
„Ich kann mich kaum bewegen, so schwer ist dieses Scheißding!“, maulte Jat’ru in unserer Sprache und ruderte umständlich mit den Armen.
„Was sagt er?“, rief Hidda. „Was heißt das? Schei-ß-din-g?“
„Schlecht... bewegen“, versuchte Un’ro möglichst diplomatisch mit seinen radebrechenden Sprachkenntnissen zu übersetzen. „Uhh, ‚gehen‘?“
„Er kann nicht gehen?“, hakte sie nach.
„So ähnlich“, sprang ich bei. „Er hat einen leicht unflätigen Ausdruck gebraucht.“
Morg entfuhr ein Kichern.
„Jat’ru, stell dich nicht so an! Meine erste Rüstung war um einiges schlechter und sie hat mir einige Male das Leben gerettet“, wies ich ihn zurecht.
„Ist ja gut“, maulte der und ergab sich seinem Schicksal.
„Wie sagt man?“
Er versuchte eine Verbeugung in Hiddas Richtung. „Danke.“
„Gern geschehen“, erwiderte sie mit kuriosem Akzent.
Die Versammlung scharte sich um Jat’ru und begutachtete dessen neueste Errungenschaft. Das gab Hidda die Gelegenheit, sich davonzustehlen.
„Puh“, seufzte sie. „Deine Leute sind...“
„Wie kleine Kinder?“, bot ich an.
„Ich wollte sagen, ein Stück Arbeit. Aber ich lasse das mal unkommentiert so stehen.“ Sie strahlte mich keck an.
„Und du hast tatsächlich all diese Rüstungen und Waffen geschmiedet?“, sah ich mich staunend um. Die eine Hälfte Oger war mit zugegeben eilig zusammengezimmerten, aber dennoch hochwertigen Rüstungen ausgestattet, die andere Hälfte trug ebensolche Waffen, wie Hämmer und Äxte.
„Jawoll. Jeder Schmied in der Stadt hasst mich jetzt, weil sie so gut wie jede Nacht seit eurer Abreise durcharbeiten mussten.“ Sie zuckte unschuldig mit den Schultern.
„Unglaublich.“
„Ist ja gut, du hast dich doch schon bedankt“, unterbrach sie mich lachend.
„Ich sehe, ihr habt euch schon gefunden und auch schon alles Wesentliche besprochen“, lobte Mina, die mit einem Mal zu uns trat. Wie immer hatte ich sie kaum kommen hören.
„Ja. Was ihr hier auf die Beine gestellt habt...“, fing ich erneut an, schloss meinen Mund aber nach einem vorwurfsvollen Blick Hiddas.
„Ihr? Du machst mir Spaß“, seufzte Mina. „Meine liebe Technika hier hat meinen direkten Befehl missachtet. War der Meinung, dass vernünftige Ausrüstung für euch absolute Priorität hat.“
Sie warf Hidda einen vorwurfsvollen Blick zu, dessen dünne Lachfalten aber seine Glaubwürdigkeit untergrub. Und so sah Hidda auch nur halbwegs schuldbewusst aus.
„Wie auch immer“, fuhr sie fort, „es freut mich, dass ihre harte Arbeit fruchtet. Nun muss ich sie euch aber wirklich entführen – du hast schließlich auch eine Brut, um die du dich auch kümmern musst.“
„Ihr kommt alle mit?“, mischte sich Morg ein.
„Worauf du dich verlassen kannst!“, rief Mina. „Wir reiten allerdings vorne beim König mit. Ich werde ein Mal am Tag bei euch vorbeischauen, ob der alte Jest euch auch gut behandel.“
„Wer?“ – „Huh?“
„Na der Oberst. Jest von Banthal? Ich kenne ihn gut. Er kann ein ganz schön mürrischer Griesgram sein, aber im Inneren ist er ein feiner Kerl. Hat wenig Vorurteile und ist meistens gerecht. Seid nur nicht allzu aufsässig, das kann er nicht leiden.“
Morg und ich nickten.
„Also dann, Fräulein. Schwing die Hufe, wir sehen uns gleich in unserem Lager“, schloss sie an Hidda gewandt und huschte geschickt zwischen den Zelten hindurch, bis sie nicht mehr zu sehen war.
„Du hast die Frau gehört“, seufzte Hidda. „Das Fräulein muss gehen. Macht’s gut, wir sehen uns sicherlich unterwegs!“ Sie winkte kurz und verschwand dann auch.
Der gesamte Treck setzte sich, wie vom König befohlen, am nächsten Morgen schwerfällig in Bewegung. Ich befand mich mit meinen Untergebenen, wie ich, als ihr Anführer, sie ja begreifen musste, irgendwo in der Mitte dieses gewaltigen Wurms an Kriegern, der sich über mehrere tausend Schritt Länge ausdehnte. In den ersten Tagen bewegten wir uns noch auf gut ausgebauten, breiten Straßen, sodass bis zu vier Menschen – das entspricht zwei Ogern – nebeneinander gehen konnten. Doch je weiter wir uns von Goldenstein entfernten, desto schmaler und unebener wurden sie.
Es war ein spannendes Schauspiel für die Bewohner der Dörfer und Städte, die wir passierten. Horden von Menschen säumten die Straßen, schauten aus Fenstern und Balkonen, verteilten Essen und Getränke, jubelten und winkten. Der Höhepunkt waren aber, neben dem König, selbstverständlich diese wilden Riesen, wir, die inmitten des Trosses mitmarschierten. Für meine Krieger war es ein nicht weniger beeindruckendes Schauspiel, hatten doch die wenigsten von ihnen je eine der Menschenstädte von Nahem gesehen. Allmählich verstanden sie, so hoffte ich, warum diese kleinen, gebrechlichen Geschöpfe mit ihrer unendlichen Neugierde und Schöpfungskraft unsere einzige Chance auf Freiheit waren.
„Wie viele von diesen Städten gibt es?“, fragte Razzhiv mit kindlicher Neugier, die neben Morg ging. Die beiden versuchten, es sich vor den anderen nicht anmerken zu lassen, doch aus der anfänglichen Turtelei hatte sich eine tiefe Zuneigung entwickelt. So sehr ich Razzhiv mochte und es den beiden gönnte, hoffte ich doch, dass Morg seine Prioritäten richtig setzte.
„Sehr viele. Alle gehören zum selben Stamm, dessen Häuptling der König ist. Aber es gibt nochmal... Unterhäuptlinge, die sich Bürgermeister nennen“, erklärte er der staunenden Kriegerin.
„Ganz schön kompliziert. Und das funktioniert alles?“
„Das ist die Stärke der Menschen“, mischte ich mich ein. „Sie glauben an etwas – den König, das Reich oder ihren Gott – und sind bereit, mit anderen, ihnen völlig unbekannten Menschen dafür zu arbeiten. Gleichzeitig bleiben sie aber, im Gegensatz zu den Keszz, eigenständige Individuen.“
Razzhiv grunzte anerkennend, was eine gewisse Skepsis aber nicht verbergen konnte.
In diesem Moment erspähte ich einen Reiter, der von vorne an der Kolonne vorbei auf uns zu geritten kam. Es war der Oberst und er sah aus, als hatte er Morg und mich fest im Blick.
„Oger!“, rief er mit fester Stimme über das Stapfen der Soldaten und leise Klirren ihrer Ausrüstung hinweg.
„Oberst?“, nickte ich ihm erwartungsvoll zu.
Er reihte sich neben uns ein, was Razzhiv veranlasste, sich in einer der hinteren Reihen zurückfallen zu lassen.
„Wir müssen über militärische Taktiken sprechen. Ihr als Teil eines größeren Verbunds solltet Bescheid wissen, wie ihr euch in bestimmten Situationen zu verhalten habt und insbesondere in unserer Art, Krieg zu führen, geübt sein. Ein Heer ist immer nur so stark wie sein schwächstes Glied.“
„Glied“, kicherte Morg, der wahrscheinlich nur die Hälfte verstanden hatte.
„Natürlich, Oberst“, beeilte ich mich. „Sicherlich ist unsere Art ganz anders zu der euren.“
„So?“, richtete er sich auf und schaute mich mit seinen durchdringenden, blauen Augen aufrichtig interessiert an. „Erzählt! Wie ich verstanden habe, habt ihr außerdem einige Jahre unter der Knute dieser... Keszz gekämpft? Auch dieses Wissen ist für mich von unschätzbarem Wert.“
„Wieso das?“, wollte ich wissen.
„Nun“, schmunzelte er. „Es gibt da ein Sprichwort bei uns: Wenn du dich selbst kennst und den Feind, brauchst du den Ausgang einer Schlacht nicht zu befürchten.“
Ich nickte nachdenklich. „Natürlich. Und wenn ich mich selbst kenne, den Feind aber nicht, dann kann ich mir über den Ausgang einer Schlacht nicht mehr so sicher sein.“
„Exakt. Und wenn man weder sich selbst, noch den Feind kennt, wirst du jede Schlacht verlieren. Deswegen müsst ihr unsere Taktiken verinnerlichen, sowie wir eure Art zu kämpfen.“
So begannen die Lehrstunden. Wir verbrachten die folgenden Tage meist mit einem Untergebenen des Oberst, einem Leutnant oder Unteroffizier, und lernten über Zangenbewegungen, Flanken und Stoßrichtungen, wann sich welche Taktik bewährt hatte und wie sie jeweils in der Schlacht mit Fahnen- oder Trompetensignalen befohlen wurden. Es war eine Menge zu verarbeiten, insbesondere da wir darauf beschränkt waren, diese Konzepte theoretisch zu verinnerlichen. Für praktische Übungen blieb, außer in den kurzen Abendstunden, kaum Zeit aufgrund des Marschtempos. Ich versuchte, das mir vermittelte Wissen möglichst einfach an meine Krieger weiterzugeben; denn bereits nach der ersten Einheit wurde mir klar, dass es nicht leicht werden würde, einen Oger zu einem disziplinierten Teil einer militärischen Einheit zu erziehen. Kurzerhand unterteilte ich unsere Gruppe in kleinere Züge, ernannte Un’ro, Razzhiv und Tamonn zu deren Anführern und setzte auf die Hoffnung. Hoffnung und tägliche Übung bis in die späten Nachtstunden hinein.
„Finde ich hier diese Riesen, von denen alle sprechen?“, überraschte uns Lazar eines Abends, der mit einem Mal aus der Dunkelheit heraus in den begrenzten Schein des kleinen Lagerfeuers trat.
„Guten Abend, Meister!“, grüßte ich ihn und bot ihm einen Platz an.
Er nahm dankend an und betrachtete eine Weile die schnaufenden, dunklen Umrisse der Oger, die in der Dunkelheit Manöver übten. „Wirklich beeindruckend... wenn ich anhand der Geräuschulisse urteilen darf“, kicherte er.
„Ach,“ seufzte ich. „Wir sind weit davon entfernt, ein echtes Heer zu sein. Das schafft man nicht innerhalb weniger Tage. Aber wenn es uns auch nur einen kleinen Vorteil gegenüber den Keszz gibt, tun wir, was wir können.“
„Ich denke, ihr macht das großartig.“ Er nickte mir aufmunternd zu.
„Danke. Und es tut mir leid! Ich wollte schon seit Tagen mit Euch gesprochen haben – mich für das hier bedanken.“ Ich hob meine Hand und ließ den Conjurator an meinem Handgelenk im Schein des Feuers funkeln.
„Papperlapapp!“, winkte er ab. „Es scheint ja, als hätte es euch geholfen.“
„In der Tat“, lachte ich auf. Ich fasste kurz die Ereignisse zusammen, die zu der Machtprobe mit Gol’dar geführt und wie Zuak mir in der letzten Sekunde das Armband überreicht hatte. „Wie Ihr seht, ist dieses unscheinbare Ding nicht einen Augenblick zu früh fertig geworden.“
Als ich den Schluss meiner Geschichte erzählte, war Lazar seltsam hellhörig geworden und hatte mich mit einer tiefen Falte auf seiner Stirn an angeschaut. „Ja“, murmelte er und zwirbelte seinen grauen Bart. „Da hast du wohl recht. Nicht einen Moment zu früh...“
„Ist alles in Ordnung?“, wollte ich von ihm wissen. Er sah seltsam abwesend aus.
„Wie? Oh, ja, mein Junge.“ Er versuchte ein Lächeln. „Keine Sorge. Es gibt da nur etwas, das ich nochmal prüfen muss. Alles in bester Ordnung.“
„Wie Ihr meint“, antwortete ich, nicht gänzlich überzeugt.
„So, du hast es also geschafft, dein Talent heraus zu kitzeln.“ Er lehnte sich ein Stück weit vor. „Aber wie sehr beherrschst du es tatsächlich?“
Die Frage erwischte mich unvorbereitet. Ich hatte, um ehrlich zu sein, seit dem Kampf kaum noch einen Gedanken daran verschwendet. Es gab einfach zu viele andere, wichtigere Dinge.
„Ich weiß es nicht“, musste ich schließlich zugeben. „Beim ersten Mal war es, wie damals im Kampf mit dem Lintwurm, eine reine Abwehrreaktion. Ein Instinkt, ein Impuls.“
Das Bild zog an meinem inneren Auge vorbei: Morg bewusstlos; Gol’dar, die auf uns zukam; Dunkelheit, Bewusstlosigkeit; dann: Gol’dar, fortgeschleudert, die Kleidung versengt.
„Doch beim zweiten Mal... da war es irgendwie anders. Ich, hm, spürte diesen Stein hier.“ Ich tippte leicht auf die Fassung mit dem geschliffenen Edelstein. „Irgendwie schien er mich zu umhüllen – ach, ich kann es schwer beschreiben!“
Erneut nickte Lazar gutmütig. „Keine Sorge, deswegen bin ich ja schließlich hier. Wir haben noch etwa... eine Woche, bevor wir die Grenze erreichen. Sicherlich nicht genug Zeit, dich zu einem Großmeister zu machen, aber... Dir ist doch bewusst, dass dieses Talent, deine Magie, einen genau so wichtigen Platz im Kampf gegen die Keszz einnehmen wird wie der ganze Rest?“ Er machte eine ausladende Bewegung und schloss damit die in der Dunkelheit schnaufenden Oger ein.
„Nun, ähm, wenn Ihr es so formuliert...?“
„Genau so formuliere ich es. Also los, erzähl‘ mir mehr davon, wie der Stein mit dir gesprochen hat!“ Er schaute mich ernst und konzentriert an.
So kamen zu den täglichen Übungen in militärischer Taktik auch noch Lehrstunden in Magie unter Lazars Aufsicht hinzu. Es fühlte sich an, als machte ich zwei Schritte voran, und, je nach Tagesform, ein bis drei Schritte zurück. Manches Mal wollte ich platzen vor Stolz, anderes Mal einfach nur frustriert alles hinschmeißen. Hatte ich an einem Tag einen ansehnlichen Feuerball erschaffen, wollte mir am nächsten Tag nur ein müder Funken gelingen, der aus meinen Fingerkuppen sprühte. Doch Lazar war ein nachsichtiger und geduldiger Lehrer, der nie die Geduld verlor.
Es waren lange Tage mit noch längeren Nächten, was mir aber kaum etwas ausmachte. Ich wollte vorbereitet sein, wenn ich das nächste Mal in diese seltsam facettierten Augen unserer Erzfeinde starrte.
Am Abend vor unserer Ankunft in Harthaupt, der Grenzstadt zu Domillium, trafen Un’ro, Morg und ich uns mit unseren Freunden, um uns auf die bevorstehenden Tage einzustimmen. Mina hatte ein ganzes Schwein herangeschafft, das über dem Feuer gebraten werden sollte.
„Und was gibt es nach der Vorspeise?“, murrte Morg, als er die vielen hungrigen Mäuler zählte, die um das große Feuer herum saßen.
Hiskam lachte laut auf. „Das habe ich mich sowieso gefragt: Wie schafft ihr es, mehr als hundert gefräßige Oger zu ernähren?“
„Wir sind nicht...“ – „... gefräßig!“, widersprachen wir, was uns aber niemand so recht zu glauben schien.
„Außerdem“, ergänzte ich, „ist unser Speiseplan ziemlich pflanzenhaltig. Auch wenn unsere Erscheinung vielleicht anderes vermuten lässt.“
Das rief bei Hiskam einen erneuten Lachanfall hervor. „Ein Oger... der an einer Baumrinde lutscht! Herrlich!“ Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Zugegeben, eure Welt ist in der Hinsicht ein bisschen mager ausgestattet. Wenn ich an unsere Pflanzen denke. Von einer einzigen Blutfrucht – so würde man sie in eurer Sprache nennen – kann sich einer von uns ein ganzes Jahr lang ernähren!“
„Oder Hen-mugh“, seufzte Morg verträumt.
„Oh ja. Ähm, Speck-Kraut. Köstlich“, erläuterte ich für die anderen.
„Ja, schade. Das muss dann wohl warten, bis wir mal in eurer Welt zu Besuch sind, wa?“, erwiderte Rualab mit angewidertem Gesichtsausdruck. „Heute gibt es Span-fer-kel. Wenn ihr das nicht mögt, bleibt mehr für uns!“
„Das wollte ich überhaupt nicht-“
„Lasst euch von dem Holzkopf nicht ins Bockshorn jagen“, unterbrach mich Isengrim von der anderen Seite des Feuers, wo sie langsam an dem Holzstamm drehte, auf den das in dem Flammen brutzelnde Ferkel aufgespießt war. „Vermisst ihr eure Heimat?“
„Ja. Natürlich“, gab Morg leise zu.
„Wie viel auch immer davon übrig ist – von dem, was unsere Heimat ausmachte.“
„Was meinst du damit?“, wollte Mina wissen.
„Nun... es ist schon so lange her! Die Keszz haben uns unserer Welt entrissen, haben uns eingetrichtert, wir hätten keine mehr, dass wir heimatlos seien, und nur sie unserem Leben noch einen Sinn gäben. Es ist Jahre her, viele Erinnerungen sind längst verblasst – wie die Luft riecht, der Regen schmeckt, das Licht aussieht. An all das kann ich mich kaum noch erinnern. Stattdessen herrschen andere Erinnerungen vor: Tod und Zerstörung, Leid und Trauer. Wie sehr kann man einen solchen Ort schon vermissen?“
„Das heißt, wenn ihr eine einzige Chance bekommen würdet und im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung treffen müsstet: Würdet ihr zurückgehen?“, mischte sich Hidda ein.
„Ja“, rief Morg augenblicklich.
„Nein“, antwortete ich im selben Moment.
Überrascht schauten wir uns an.
„Du würdest hier bleiben?“, flüsterte er.
„Ich... ich...“ Mehr brachte ich nicht hervor. Warum genau hatte ich Nein gesagt? Peinliches Schweigen breitete sich schwer aus.
„Nun, äh, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ihr, hm, diese Entscheidung jemals treffen werden müsst“, ertönte Zuaks Stimme aus dem Dunklen, der gerade mit Lazar und Yosanna dazugekommen war.
„Ach, schau an, die Gelehrten halten es für angebracht, auch endlich aufzutauchen“, kommentierte Rualab.
„Jetzt, da die ganze Arbeit gemacht ist“, ergänzte Hiskam. Ich war froh um die Ablenkung.
„Ja, äh, entschuldigt bitte. Wir mussten noch etwas erledigen.“
„Du meinst, du musstest noch etwas erledigen. So wie ungefähr jeden verdammten Tag, seitdem wir aus Goldenstein aufgebrochen sind“, wies Yosanna ihn zurecht.
„Meister, könnt Ihr nicht... also, darf sie so mit mir reden?“
„Schluss jetzt!“, donnerte Mina mit autoritärer Stimme. Alle verstummten und starrten sie an. „Ich habe euch heute Abend nicht eingeladen, um Trübsal zu blasen“, ihr Blick streifte Morg und mich, „oder euer ständiges Gezanke ertragen zu müssen!“ Das ging an Zuak und Yosanna. „Hinsetzten.“
Wir alle gehorchten und erwarteten ihre Rede. Sie erhob sich und ließ sich Zeit, ihre Kleidung zu richten, währenddessen das Spanferkel leise über dem Feuer brutzelte.
„Früher, als ich noch Soldat bei der Armee war“, begann sie schließlich, „war es üblich, am Vorabend einer Schlacht sich etwas zu gönnen, sich abzulenken und vor allem zusammen eine gute Zeit zu verbringen. Ich gebe zu, ich habe das nie verstanden: Wenn die Vorgesetzten vom Kampf für die Gerechtigkeit oder der Ehre oder sonst einen hanebüchenen Unsinn erzählt haben, für das man gemeinsam kämpfte.“ Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Ich habe denen das nie abgekauft; wusste immer, dass Recht oder Unrecht gerade so ausgelegt wurde, um den Herrschenden in den Kram zu passen. Doch dieses Mal ist es anders.“ Sie machte eine Pause und schaute uns an.
„Denn dieses Mal ist es nicht irgendein sterblicher Herrscher, der sich an ein Stück Land klammert oder seine Ehre beschmutzt sieht. Nein, was ich im letzten Jahr erlebt und gehört habe, bringt mich zu der Überzeugung, dass wir für nichts anderes kämpfen als das Überleben unserer Spezies. Und nicht nur unserer Spezies, sondern unzähliger Spezies in unzähligen anderen Welten. Ich gebe zu, ich bin nicht klug genug, um all das zu begreifen: Zahllose Welten, die irgendwie miteinander verbunden sind, Magie und Gedankenkontrolle. Aber wisst ihr? Das muss ich auch nicht. Es reicht aus, zu begreifen, was es bedeutet, wenn wir scheitern: Leid, Tod, Sklaverei. Wir werden, genau wie die Oger, in das Kollektiv integriert werden und dabei helfen, weitere Welten für unsere Herrscher zu erobern.“
Wir alle nickten schwermütig.
„Wenn ihr mich fragt, stelle ich mir meine Zukunft anders vor! Ich will saufen, fressen und ficken, wie und wann ich es für richtig halte!“
Rualab und Hiskam grölten zustimmend.
„Und wir haben genau eine einzige Chance, dieses Recht zu verteidigen. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen, aber irgendwann werden wir diesen Scheusalen auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen. Dann, in diesem Moment, will ich, dass ihr all eure kleinen Problemchen und Eitelkeiten vergesst; eure Vergangenheit ausblendet, was ihr alles falsch gemacht habt, oder wen ihr nicht leiden könnt. Ich will, dass ihr euch auf eine einzige Sache konzentriert: Die Zukunft. Darauf, dass sie überhaupt lebenswert sein wird! Dass der freie Geist triumphiert. Und ihr und eure Kinder die Wahl habt, euch daneben zu benehmen, wenn ihr das wollt!“
Wir alle fielen mit Jubel und Applaus in ihre Ansprache ein. Sie hatte recht! Es spielte überhaupt keine Rolle, ob Morg in unsere Welt zurückkehren wollte, ich aber nicht. Das Entscheidende war, dass wir überhaupt die Wahl hatten, das eine oder andere zu tun.
„Und jetzt will ich, dass ihr euch besauft und die Menschlichkeit feiert! Oh, und die, ähem, Ogerigkeit natürlich auch!“ Damit griff sie neben sich und zog an einer Decke, unter der ein großes Fass Bier zum Vorschein kam.
Und das taten wir. Was auch sonst? Uns etwa ihrem Befehl widersetzen?
Es wurde eine lange Nacht und als wir am nächsten Morgen von einem Unteroffizier aus dem Schlaf gerissen wurden, ging es kaum einem von uns wirklich blendend. Ich öffnete schwerfällig meine verklebten Augen und schaute mich um. Das Bierfass lag in zerborstenen Einzelteilen um das noch schwach glimmende Lagerfeuer herum, aus den Knochenresten des Spanferkels hatte jemand eine Art groteske Skulptur zu bauen versucht. Ich entdeckte Yosanna, Rualab und Hiskam, die sich gemeinsam unter einem dicken Fell eingemummelt hatten und offenbar splitternackt waren. Ich wollte es auch gar nicht so genau wissen.
„Ähm, Herr, ähh, Oger?“, stotterte der Unteroffizier.
„Wie? Oh, bitte nochmal. Hab nicht zugehört.“
Morg schnarchte nach wie vor dröhnend.
„Oberst von Banthal hat Abmarsch in einer Stunde befohlen. Wir werden Harthaupt gegen Mittag erreichen.“
„Gut. Danke. Dann werde ich mal zu meiner Truppe zurückkehren. Du kümmerst dich darum, die anderen hier zu wecken, ja?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, hievte ich mich mit dröhnendem Schädel in die Höhe und schlich wackelig davon.
„Ja, aber... aber... wie?“, rief mir der Unteroffizier noch hinterher.
„Man, seht ihr beschissen aus“, lachte Un’ro, als er uns sah. „Es sieht aus, als wäre ich zu früh abgehauen.“
„Du bist genau im richtigen Moment abgehauen“, knurrte Morg launisch und rieb sich die Schläfe.
„Seid ihr bereit zum Abmarsch?“, wollte ich von ihm wissen.
„So bereit wie nie zuvor“, bestätigte er eifrig.
Pünktlich, wie vom Oberst angeordnet, setzte sich der Tross in Bewegung. Wieder einmal war ich fasziniert, wie man eine Gruppe von tausenden Individuen derart diszipliniert und geordnet aufbrechen ließ.
Es war ein schöner und vor allem trockener Morgen, an dem die niedrigstehende Frühjahrssonne die klare Luft nur unwesentlich zu wärmen vermochte. Angenehme Kälte umhüllte meine noch immer pochenden Schläfen, was den Marsch erträglicher machte.
„Was uns wohl heute erwartet?“, sinnierte Un’ro, an niemand bestimmten gerichtet.
„Ich bin da so schlau wie du“, erwiderte ich. „Mich konsultiert man logischerweise auch nicht.“
Er nickte frustriert. „Sollten wir nicht Verbündete sein? Ist das zwischen den Menschen und uns nicht eine Allianz? Warum also haben wir kein Mitspracherecht? Warum werden wir irgendeinem niederen Oberst unterstellt und müssen Befehlen gehorchen?“
„Recht hat er“, stimmte Morg zu.
„Geduld, ihr beiden. Es geht nicht um Hierarchie, sondern darum, dass eine Schlachtordnung eingehalten werden kann. Wir kämpfen als Teil eines größeren Ganzen. Oder habt ihr beiden strategischen Superhirne einen Vorschlag für eine bessere Organisation?“
Murrendes Kopfschütteln gefolgt von einsichtigem Schweigen.
„Sieh mal, der Oberst!“, durchbrach Morg die Stille und zeigte auf eine kleine Schar Reiter, die auf uns zuhielt.
„Nun, vielleicht werden wir ja doch noch konsultiert“, grinste ich.
„Guten Morgen, Herr Oberst!“, rief ich den Herannahenden schon aus einiger Entfernung zu.
„Morgen. Grom, mitkommen. Wir nähern uns unserem Ziel und brauchen dich dafür.“ Seine harten Gesichtszüge ließen kaum Sympathie durchscheinen.
„Gerne doch“, nickte ich. „Un’ro, du hast das Kommando. Wir sehen uns später.“
Damit schloss ich mich dem Oberst an und wir begannen, uns an der Kolonne der Soldaten entlang in Richtung der Spitze vorzuarbeiten. Die Straße in diesem Winkel des Königreichs war nur mehr ein besserer Feldweg, eng und unbefestigt, was das Vorankommen erschwerte.
Am Ziel erblickte ich eine stark befestigte Stadt, hinter der sich der schnurgerade Weg zwischen kahlen Feldern entlang schlängelte und sich im dahinterliegenden Gebirge verlor. Am Horizont erhoben sich niedrige Berge, deren Spitzen in Weiß getaucht waren.
„Harthaupt“, seufzte Valerius, die ich kaum wiedererkannte. Sie hatte ihr königliches Gewand gegen einen praktischen Anzug und Kettenhemd getauscht. Mehrere kleine Metallplättchen, die wie Edelmetalle glänzten, gaben ihr den Anschein von Kampfbereitschaft, ohne unedel zu wirken. Sicherlich war ihr Anzug nur wenig für eine tatsächliche Schlacht geeignet. „Wie wenig ich diesen Anblick vermisst habe.“
„Hoheit, wie ein Bote berichtet, ist der Kö-“, begann ein Berater des Königs, korrigierte sich dann aber hastig. „Ähem, ist Sullain bereits gestern eingetroffen.“ Sie schoss einen missbilligenden Blick in seine Richtung ab. „Er hat sein Lager jenseits der Grenze aufgeschlagen.“
„Mit Heer?“, wollte sie knapp wissen.
„In Teilen. An die zweitausend Mann.“
Überrascht riss sie ihren Blick von den hohen Wehrmauern los und sah den Mann forschend an. Schließlich nickte sie und winkte kurz, woraufhin sich die kleine Gesandtschaft vom Rest der Truppe löste und wir uns in Richtung der Stadt auf den Weg machten. Auf halber Strecke erschienen zwei Berittene im Stadttor und ritten uns entgegen. Valerius machte keine Anstalten, ihr Tempo zu verlangsam.
„Hoheit! Willkommen in Harthaupt“, rief der Mann aus einiger Entfernung und versuchte eine leichte Verbeugung, während sein Pferd in entspanntem Galopp zum König aufschloss.
„Vogt“, nickte die kurz.
„Endlich seid ihr da. Diese Truppen auf der anderen Seite lassen mir schon seit Tagen keine ruhige Minute mehr. Ich habe den Pass so gut es ging verstärkt, aber einer solchen Übermacht stehen wir natürlich hilflos gegenüber.“
„Hat er etwas unternommen?“, wollte sie wissen.
„Nein. Hat dort sein Lager aufgeschlagen. Und eine weiße Fahne gehisst.“
„So? Eine weiße Fahne...“ Valerius schien eine Weile ins Grübeln zu verfallen. „Na dann wollen wir ihn nicht länger warten lassen, wie?“ Damit trieb sie ihr Pferd noch ein Stück weiter an.
Wir umrundeten Harthaupt und schwenkten auf den Gebirgspass. Einfache Wehranlagen sprossen in regelmäßigen Abständen entlang des Weges aus dem Boden, der sich den Hang hinauf schlängelte und sich irgendwo zwischen den Gipfeln in der Ferne verlor. Ich schloss zu Mina auf, die als Sonderberaterin auch Teil der Gesandtschaft war.
„Was hatte es mit all dem auf sich?“, flüsterte ich ihr so leise wie möglich zu.
„Was meinst du?“
„Dieser Sullain hat ein Heer hier? Eine weiße Fahne? Herrscht etwa Krieg zwischen uns und denen?“
Mina schüttelte den Kopf. „Eher ungesundes Misstrauen. Es... ist kompliziert. Der Herrscher von Domillium, Fürst Sullain, war mal-“
„Achtung!“, rief der Marschall von vorne und unterbrach sie. „Wir nähern uns der Grenze! Haltet Augen und Ohren offen!“
Wir erreichten eine kleine Kuppe, auf der zwei Schlagbäume errichtet waren. Sie blockierten den schmalen Pfad, jeder von ihnen mit einer Fahne versehen und zwei Soldaten, die Wache hielten. Das musste die Grenze zwischen den beiden Reichen sein.
„Recht unscheinbar, meiner Meinung nach“, murmelte ich an Morg gerichtet.
„Ich hätte auch eher diese Stadt da hinten genau hierhin gebaut“, stimmte er mir zu.
„Macht nicht viel her, oder?“, schmunzelte Mina. „Seht, da hinten! Das ist er...“ Sie fügte flüsternd hinzu: „Der Fürst, Sullain.“
Ich entdeckte eine kleine Gruppe von Reitern, von denen einer eine lange, senkrecht in die Luft gereckte Lanze mit einer Flagge trug, an dem auch ein kleiner, weißer Wimpel flatterte.
„Hundesohn“, fluchte Valerius kaum hörbar. „Nun gut. Marschall, würdet Ihr?“
Der gab einem Adjutanten ein Signal, einen ebenso weißen Wimpel zu hissen. Wir setzten unseren Weg fort und näherten uns der Grenze. Die beiden Grenzer fielen auf ein Knie, als sie ihren König entdeckten. Valerius gab den Befehl, den Schlagbaum zu öffnen, und so betraten wir das Niemandsland zwischen Karandia und Domillium. Kurz hinter dem Schlagbaum zügelte Valerius ihr Pferd und wartete auf die Gesandtschaft des Nachbarlandes. Ihr Pferd tänzelte ein wenig nervös, was sie aber ignorierte. Offenbar spürte das Tier die Anspannung seiner Reiterin.
Gemächlich öffnete sich nun auch der gegenüberliegende Schlagbaum. Die vier Reiter trotteten hindurch und kamen nebeneinander entspannt auf uns zu. Es wurde mir schnell klar, wer von ihnen der Fürst von Domillium sein musste – ein hochgewachsener, in menschlichen Augen wohl attraktiver Mann mit ebenmäßigen Gesichtszügen und einem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht. Er hatte sich, im Gegenzug zu Valerius, sehr prunkvoll herausgeputzt, seine Garderobe zeugte von keinerlei praktischen Überlegungen: Weißer Fellkragen, samtene Handschuhe, feine Schuhe. Kurzum, nichts, was für einen Feldzug irgendwie von Nutzen wäre. Die anderen drei Reiter waren allesamt Frauen, die etwa in Valerius‘ Alter sein mussten und durchweg attraktiv waren, soweit ich das zu beurteilen vermochte.
Mein Blick huschte zu ihr. Ihr Gesicht sprach von mühsam beherrschter Wut, ihre Knöchel weiß vor Anspannung. Auch die anderen, der Marschall, der Oberst und sogar Mina waren nervös.
Fürst Sullain kam bis auf wenige Schritte heran und zügelte schließlich sein Pferd. Sein Blick umfasste uns für den Bruchteil eines Augenblicks. Als er Morg und mich streifte, weiteten sich seine Augen für einen kurzen Moment beinahe unmerklich. Der Mann sah sicherlich das erste Mal in seinem Leben einen von uns. Ein Schatten von Unsicherheit huschte über sein Gesicht und brachte die selbstsichere Fassade für einen Lidschlag ins Wanken. Doch er fing sich schnell, ließ sich all das kaum anmerken.
„Valeria, meine Teure!“, näselte er und machte eine Verbeugung, die selbst auf dem Pferd elegant aussah. Es hatte tatsächlich den Anschein, als wäre er erfreut, sie zu sehen.
Valeria?
Sie schnaufte wütend. „Spar‘ es dir, Sullain. Und sprich mich an, wie es sich gebührt, sonst ist dieses Treffen hier vorbei.“
Niemand von uns wagte auch nur zu atmen.
„Verzeihung, Hoheit“, bat er an, jedoch mit einem deutlich ironischen Unterton. „Ich weiß, wir haben unsere Differenzen, aber wie Ihr schon in eurer Botschaft erwähntet, ist dies die Zeit, darüber hinwegzusehen. Wer weiß, vielleicht ist es auch die Chance, unsere beiden Völker auf ein Neues-?“
„Begehe nicht den Denkfehler und halte dies für eine Allianz oder gar Freundschaft zwischen uns!“, zischte Valerius. „Wäre diese Bedrohung nicht, hätte ich dich bereits in dem Moment mit bloßen Händen erwürgt, als du über die Grenze getreten bist.“
Der Fürst ließ nicht durchblicken, ob ihn diese Feindseligkeit überraschte. Seine braunen Augen ruhten unverändert auf ihr, leichte Lachfalten in den Augenwinkeln.
„Wie Ihr wünscht, Hoheit. Ich wollte lediglich zum Ausdruck bringen: Meine Tür steht Euch immer offen. Meine Gefühle für Eu-“
„SCHWEIG!“, schrie sie ihn unbeherrscht an. Ihr Kopf war dunkelrot angelaufen, die Muskeln ihres Kiefers arbeiteten schwer. Für einen Moment befürchtete ich, sie würde sich aus ihrem Sattel heraus auf den Mann stürzen. Stattdessen schloss sie die Augen und atmete drei Mal tief durch. Ihre Gesichtsfarbe normalisierte sich wieder. Der überheblich-amüsierte Gesichtsausdruck des Fürsten vertiefte sich um eine weitere Nuance.
„Von nun an“, fuhr sie mühsam beherrscht fort, „wird sich jedes Wort, das wir miteinander wechseln, um Kampftaktiken und Lageberichte drehen. Wenn du auch nur noch ein einziges Mal über... Gefühle redest, dann schwöre ich...“ Sie schluckte mühsam den Rest der Drohung herunter.
„Wie Ihr wünscht, Hoheit“, säuselte Sullain und hob entwaffnend die Hände, ohne dass sich sein mildes Lächeln eintrübte. „General Dahla, wenn Ihr so frei wärt?“, fuhr er an die Frau neben ihm gewandt fort, deren enganliegende Uniform ein Stück zu modisch aussah, um zweckmäßig zu wirken. Ihre streng zu einem blonden Pferdeschwanz gebundenen Haare wippten, als sie ihm zunickte.
„Zu Befehl.“ Sie versuchte offensichtlich, die selbstsichere Haltung des Fürsten zu kopieren, schaffte es aber nicht gänzlich.
„Eure Hoheit“, fuhr sie an Valerius gewandt fort, „seitdem wir vor einigen Monaten das erste Exemplar dieser... Wesen gefunden haben, häufen sich die Sichtungen. Ihr Ursprung scheint im Süden zu liegen, einem wenig besiedelten Gebiet.“
„Ich kenne das Land gut, erspar dir die unnötigen Details“, forderte Valerius. Ihre Augen durchbohrten die Generalin mit frostigen Blicken.
„Natürlich. Ich vergaß, dass Ihr einst...“ Sie schluckte schwer, ihre Selbstsicherheit bröckelte zunehmend. „Deswegen waren Sichtungen, geschweige denn direkte Kontakte, bisher selten; doch vor etwa zwei Wochen haben wir den Kontakt mit Unholm verloren.“
„Kontakt verloren? Was soll das heißen?“, mischte sich der Marschall ein.
„Wir hören nichts mehr von dort. Haben Boten und Späher ausgesandt, doch niemand kehrt zurück. Wir befürchten das schlimmste.“
„Auf Euer Anraten, Hoheit, ist der Großteil meiner Armee bereits dorthin unterwegs“, erläuterte Sullain. „Wie ihr seht, befinde ich mich also in einer äußerst misslichen Lage. Eurer Armee – wie viele sind es, acht- oder neuntausend? – kann ich kaum etwas entgegensetzen, sollte dies eine äußerst geschickte Finte Eurerseits sein. Ich bin Euch, wie eh und je, hilflos ausgeliefert und poche auf Eure Aufrichtigkeit.“
„Was für ein Geschwafel“, murmelte Valerius. „Im Gegensatz zu dir, Fürst, habe ich immer mit offenen Karten gespielt. So auch dieses Mal. Die Bedrohung ist echt. Unser Verbündeter hier“, sie deutete in meine Richtung, „kann dir dazu viele, viele Geschichten erzählen. Und ich rate dir, sie dir zu Herzen zu nehmen. So schwer es mir fällt, müssen wir für den Moment unsere Differenzen beiseitelegen und zusammenarbeiten; sonst wird bald niemand mehr von uns über sein, der Differenzen haben könnte.“
Das erste Mal schien Sullain seine aufgesetzte Fassade abzulegen und aufrichtig den Ernst der Lage anzuerkennen. Er sah schlagartig älter, aber auch viel staatsmännischer aus. „Ich stimme zu. Und ich danke Euch, Valerius, dass Ihr uns zur Hilfe kommt. Mir ist bewusst, dass... dies nicht selbstverständlich ist.“ Er sagte das ohne Funkeln in den Augen oder Übermut in der Stimme.
Einen Moment herrschte Schweigen und Valerius schaute den Fürsten mit einer Mischung aus Trauer und Bewunderung an. So schnell wie er gekommen war, verschwand der Augenblick auch, und sie wandte ihren Blick in die Ferne, auf die beiden Hügelkuppen, durch die unser Weg schon bald führen würde.
Wortlos nickte sie schließlich und wandte ihr Pferd herum, darum bemüht, keinen Blickkontakt mit Sullain herzustellen. Die Unterredung war beendet.
Das karandianische Heer überquerte die Grenze etwa eine Stunde später und machte sich an den Aufstieg. Dunkle Wolken waren aufgezogen und brandeten an die Hänge wie aufgepeitschte Wellen an die raue Felsküste während eines Wintersturms. Von hier an würde es ungemütlich werden, das wurde mir bewusst – und zwar nicht nur in Bezug auf das Wetter. Ich zog mein Fell enger und die Kapuze weiter ins Gesicht, während der erste dicke Tropfen vom Himmel fiel.