Mein Liebster,
dies wird der letzte Brief sein, den ich dir schreibe. Mina und die anderen sagen, ich muss allmählich abschließen und einen Schlussstrich ziehen. Wahrscheinlich haben sie recht – auf den Tag genau zehn Jahre ist es heute her, dass du aus meinem Leben verschwunden bist.
Es schmerzt mich, aber dein Gesicht beginnt, in meiner Erinnerung zu verblassen. Deine Berührungen auf meiner Haut sind inzwischen nicht viel mehr als ein vages Prickeln. Der Geschmack deiner Lippen auf meinen ist schon längst verflogen.
Und doch... Diesen Moment, in dem du dich ein letztes Mal umgedreht und mir einen deiner langen Blicke zugeworfen hast, bevor der groteske Wurm dich verschlang, werde ich nie vergessen. Im Herzen wirst du immer bei mir sein... und manches Mal auch in lebhaften, allzu realistischen Träumen. Dann wache ich auf, taste in der Dunkelheit umher und spüre nur ein leeres Bett. In solchen Momenten überkommt mich die Trauer wie eine tosende Welle. Zum Glück werden diese Träume seltener.
Deswegen also dieser eine, letzte Brief. Ohnehin habe ich keine aktuelle Adresse von dir, weswegen auch dieses Papier, wie all die anderem vor ihm, in der Schublade verschwinden wird. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob du noch lebst, ob ihr es überhaupt nachhause geschafft habt! Das ist, wenn ich ehrlich bin, das Schlimmste daran – diese Ungewissheit. Wenn ich wüsste, dass Morg und du euren Stamm in eine prosperierende (das heißt: ‚Sich gut entwickelnde‘) Zukunft geführt und ihr euch eine fähige (hoffentlich hässliche) Frau genommen hättet, fiele mir das hier wesentlich leichter.
So muss ich nun einfach hoffen, dass alles gutgegangen ist.
Die Lintbrut hat sich vor einigen Wochen offiziell aufgelöst. Es hat sich ja schon lange angedeutet, aber nun ist es tatsächlich passiert. Und weißt du was? Es geht mir gut damit! Verdammt, wir haben alle mehr Geld verdient, als wir in fünf Leben werden ausgeben können!
Genau das ist ja ohnehin immer unser Ziel gewesen. Nein, nicht das Geldverdienen (na ja, vielleicht ein bisschen), aber uns selbst abzuschaffen. Es ist ein gutes Zeichen, wenn wir nichts mehr zu tun haben. Denn das bedeutet, all die Ungetüme, die die Königin damals in unsere Welt geschleppt hat und die seit ihrem Tod führungslos durchs Land strichen und die Bevölkerung terrorisierten, sind zur Strecke gebracht. Weißt du noch, wie wir uns damals, nachdem wir den Lintwurm erledigt haben und die ganze Monsterhatz an Fahrt aufgenommen hat, gewundert haben, warum Aufträge wöchentlich mehr wurden? Meine Theorie dazu: Das waren die Versuche Zuaks und der Königin, Übergänge in unsere Welt zu erschaffen. Doch sie haben nichts Stabiles auf die Reihe bekommen – gerade einmal nur so viel, dass vereinzelte Kreaturen übertraten. Nun, und da Zuak mit euch gegangen ist... An dieser Stelle übrigens KEINE Grüße.
Nein, wir haben unseren Auftrag erfüllt. Zur Blütezeit hatte die Lintbrut auch eher Ähnlichkeiten mit einer Söldnerarmee, so groß war sie geworden – mit allen Begleiterscheinungen. Nein, ich bin mir sicher, es ist gut, dass dieses Kapitel beendet ist.
Mina hat sich seitdem hier in Goldenstein niedergelassen, sie wohnt nur ein paar Straßen weiter. Sagt, sie will sich zur Ruhe setzen, aber das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Nun, seitdem ein fanatischer Vasall der Dämmerung ihr die Hüfte zertrümmert hat, ist sie allerdings wirklich gealtert. Sie hat alle Angebote Valerias, einen hohen Posten in ihrem Stab anzunehmen, ausgeschlagen. Wer weiß, was in ihr vorgeht?
Hiskam bleibt seinem Motto treu: In jeder Stadt ein Mädchen. Wie viele Kinder von ihm schon durchs Land toben, möchte ich nicht wissen. Er ist womöglich auch der Einzige von uns, der es schafft, dass sein Geld nur für eine Lebzeit reicht – wenn überhaupt. Du kannst dir das missbilligende Kopfschütteln sicherlich vorstellen, das ich beim Schreiben dieser Zeilen an den Tag lege. Hin und wieder ist er in der Stadt, dann lassen er, Mina und ich ein wenig die alten Zeiten aufleben.
Von Isengrim habe ich lange nichts gehört, zumindest persönlich. Dem Vernehmen nach hat sie es inzwischen zu einem hohen Offiziersgrad in Valerias Armee gebracht. Auch hier keine Überraschung.
Und Yosanna? Nun, die bleibt verschwunden. Sie hat es ja ohnehin nicht lange mit uns ausgehalten. Einzelgänger tun sich eben schwer in einer Gruppe, die über Disziplin funktioniert. Ich erinnere mich noch an ihre letzten Worte: ‚Der Weg ist da, man muss nur die Tür öffnen.‘ Sie hat es wahrscheinlich nie verwunden, dass von all den Phänomenen, deren Zeuge sie war – den Übergängen zwischen den Welten, deiner Beherrschung von Magie, der Manipulation der Lebensessenz von Lebewesen – nichts übergeblieben ist. Oder besser gesagt: Dass sie es nicht geschafft hat, davon etwas zu entschlüsseln und für sich zu nutzen, um damit bei der Hexergilde, oder wie immer die sich auch nennen, Eindruck zu schinden.
Ich muss gerade lachen bei dem Gedanken, was für eine ungleiche Truppe wir waren. Welch eine Zeit!
Im Königreich ist es ansonsten einigermaßen ruhig, das erste Mal seit Jahren. Domillium gibt es jetzt nicht mehr, die letzten Nester des Widerstands irgendwo in den hintersten Winkeln des Landes, wurden vor ein paar Monaten erobert.
Wer hätte gedacht, dass Valerias Groll die Begegnung mit den Keszz überdauern würde? Auch eine Lektion an dich an dieser Stelle: Unterschätze nie die Rachegelüste einer Frau! Wobei man auch sagen muss: Es ist nicht so, als hätte sie keinen Versuch zur Diplomatie unternommen. Wenn man es denn so nennen will, als sie Sullain vor die Wahl stellte, Unterwerfung oder Tod. Wie du ja aus meinen früheren Briefen weißt, deutet einiges darauf hin, dass er nicht die Unterwerfung gewählt hat. Sein Name ist seitdem ein rotes Tuch. Wer ihn in der Öffentlichkeit erwähnt, muss mit Pranger rechnen.
Weißt du, Isengrim hat mir einmal von diesem Gerücht erzählt, als sie einen Glühwein zu viel intus hatte. Dass dieses Ablenkungsmanöver bei Unholm damals, das kurioserweise die wenigsten Truppen von Sullain überlebt haben – ganz im Gegensatz zu denen Valerias – ein doppeltes Spiel ihrer Hoheit gewesen ist. Dass es einen geheimen Befehl an die Offiziere gab, Sullains Truppen allein zu lassen und in Folge derart von den Keszz dezimieren zu lassen, um im Falle eines Sieges die militärische Übermacht zu haben.
Danach hat Isengrim gesagt, sie müsste mich nun töten, weil ich davon wüsste. Ich sage dir, für einen Moment war ich mir nicht sicher, ob sie das nicht ernst meinte!
Diese verdammte Politik. Wie naiv ich war, zu denken, dass wir eine Lektion aus all dem Leid und dem Tod gelernt hätten. Nun ja, immerhin herrschtEinheit. Frieden? Das steht wohl auf einem anderen Blatt.
Aber ich möchte nicht allzu negativ werden, schließlich sollst du uns in guter Erinnerung behalten. Deswegen habe ich mir das Beste bis zum Schluss aufbewahrt.
Grom’a wächst zu einer richtigen Frau heran. Aber lass es sie nicht wissen, wie ich über sie rede! Wenn ich sie als Frau – oder noch schlimmer, als Dame – bezeichne, dann rastet sie aus. Sie kommt da eher nach dir.
Und auch sonst: Sie ist jetzt schon, mit gerade einmal neun Jahren, fast so groß wie ich und doppelt so stark. Ihr Ogerblut lässt sich beim besten Willen nicht mehr verheimlichen. An Schulunterricht ist nicht zu denken, sie wird von der Gemeinschaft immer mehr ausgegrenzt. Leider kommt auch hier zunehmend ihre hitzköpfige Art durch. So wurde sie vor einigen Monaten von einer Gruppe älterer Kinder in die Ecke gedrängt, mit Steinen beworfen und als... etwas sehr Unschönes beleidigt. Eins der Kinder hat danach vier Wochen mit gebrochenem Arm gefehlt.
Seitdem unterrichte ich sie hier zuhause, was ihr ohnehin mehr bringt. Ein so blitzgescheites Mädchen ist mir selten untergekommen, das sage ich dir. Sie ist aufgeweckt, neugierig und besitzt einen unstillbaren Wissensdurst. Du wärst stolz auf sie!
Ich plane, aufgrund der oben genannten Umstände, mit ihr bald aufs Land zu ziehen. Irgendwohin, weit weg von großen Menschenansammlungen, die ihr mit Misstrauen und Aberglaube begegnen. Wo sie verbunden mit der Natur aufwachsen kann und nicht ständig ängstlich über ihre Schulter schauen muss.
Wenn ich ihr die Haare kämme und zu Zöpfen flechte, ganz ähnlich, wie du sie immer getragen hast, dann sehe ich manchmal die Traurigkeit in ihren grünen Augen funkeln. Hin und wieder fragt sie dann ganz leise nach dir und warum sie so anders ist als alle anderen. Dann erzähle ich ihr all die Heldengeschichten ihres Vaters, des großen Häuptlings der Kinder von Tÿl. Doch ich merke auch, dass ihr das nicht reicht. Sie will wissen, wo du bist. Bisher habe ich sie mit vagen Andeutungen abgespeist. Wenn ich ihr sage, dass du auf Reisen bist, dann antwortet sie, dass sie dir hinterher reisen möchte. Auf meinen Einwand, dass ich nicht wüsste, wo du bist, sagt sie, sie will dich suchen gehen. Es treibt mich zur Verzweiflung, ihr irgendwann das Herz brechen zu müssen, ihr sagen zu müssen, dass du nie wiederkommen wirst. Aber sie verdient es, die Wahrheit zu wissen. Ich muss nur genug Mut dafür aufbringen.
Ach, Grom. Wenn ich abends in meinem Sessel sitze und Grom’a beim Spielen zuschaue, dann denke ich oft daran, wie schön es wäre, dich hier zu haben. Ich male mir aus, wie es wäre, wenn wir zusammen unsere Tochter großziehen würden. Du würdest sie zu einer furchtlosen, selbstbewussten Frau heranziehen, und ich die nötige Prise Bildung und Gerissenheit beisteuern.
Irgendwann, in zwei, vielleicht aber auch erst in zehn Jahren, wird ihr Freiheitsdrang so groß werden, dass ich sie nicht mehr werde halten können. Ob früher oder später, irgendwann wird es soweit sein. Was für Spuren wird sie in dieser Welt hinterlassen? Wird sie es schaffen, sich unter den Menschen heimisch zu fühlen? Oder das Leben einer Ausgestoßenen führen? Ich habe Angst, Grom. Ich weiß, dass ich sie nicht für immer beschützen kann, dass sie irgendwann auf eigenen Füßen stehen muss. Und doch ist meine größte Befürchtung, dass sie nie eine Chance auf Glück haben könnte.
Wenn du doch bloß hier wärst! Dann hätte sie wenigstens eine weitere Bezugsperson. Du hast es geschworen, Grom. Du hast geschworen, wiederzukommen! Ich erinnere an dieser Stelle nochmal an den oben erwähnten, nicht zu unterschätzenden Groll einer Frau. Du siehst besser zu, dass du deinen Schwur auch einhältst.
Aber so sollte ein Brief nicht enden, der einen Schlussstrich darstellen soll, oder? Er sollte mit etwas enden, das wie ‚Ich bin über dich hinweg‘ oder ‚Bleib, wo du bist, dies ist nicht mehr dein Zuhause‘ klingt. Aber das kann ich nicht, denn beides wäre gelogen.
So bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sagen: Du wirst immer in unseren Herzen sein. Jeden Abend werde ich meinen Blick auf den Horizont richten und hoffen, deine Silhouette zu erblicken. Wo immer du auch bist, du wirst hier bei uns bis in alle Ewigkeit ein Zuhause haben.
In Liebe,
Deine Hidda.
P.S.: Grom’a, wenn du das hier liest: Schäm‘ dich!