„Ich kann euch nicht mehr sagen als das“, entgegnete der Bote, während wir der aufgehenden Sonne entgegen reitend die Stadt verließen. Wir hatten lediglich das Nötigste zusammengerafft und uns Hals über Kopf aus dem Staub gemacht. Wir verschwendeten kaum einen Gedanken an die Vasallen, die noch in der Stadt sein konnten und uns bei Tageslicht leicht hätten identifizieren können – unsere Gedanken waren bei dem Päckchen des Boten.
„Das ist die Klaue einer Keszz-Drohne. Und wo eine ist, sind die anderen nicht weit. Leuchtet doch ein, oder?“, forderte ich atemlos, als wir die letzten Häuser Wurts hinter uns ließen und die Straße in Richtung Goldenstein entlang jagten.
„Nochmal“, rief er, um sich gegen die laut klappernden Hufen seines Pferdes durchzusetzen. „Das ist alles, was ich weiß. Ich bin ein einfacher Bote. Der König hat mir das Päckchen in die Hand gedrückt, mir die Botschaft übermittelt und mich dann auf den Weg geschickt. Woher seine Hoheit es hat oder ob es schon Kampfhandlungen gab, übersteigt meine Kompetenz.“
„Schon gut“, knurrte ich und konzentrierte mich wieder darauf, mit den Pferden schrittzuhalten. Mich beschlich das Gefühl, den Menschen war der Ernst der Lage nicht klar.
„Hier vorne kommt meine Abzweigung, da biege ich nach Osten ab“, rief der Bote irgendwann, was die Menschen dazu veranlasste, ihre Pferde zu zügeln.
„Ihr kommt nicht mit nach Goldenstein?“, fragte Zuak.
„Nein. Ihr glaubt doch nicht, dass ihr die Einzigen seid, die Befehle des Königs empfangen?“ Er lachte kurz auf, was unter der Kapuze seiner Robe dumpf hervordrang.
„Ruft er etwa weitere Truppen zusammen?“, hakte ich nach, kurzzeitig Hoffnung schöpfend, und blieb stehen. Doch der Bote winkte nur kurz, meine Neugier ignorierend, und bog dann wortlos und ohne weiteres Aufheben ab. Ich blickte ihm hinterher, während er sein Pferd antrieb und sich schnell von uns entfernte.
„Wäre ja auch zu schön gewesen“, murmelte ich und ballte unwillkürlich meine Hand zur Faust.
„Warten wir doch erst einmal ab, vielleicht ist es ja nur falscher Alarm und-?“
Plötzlich senkte sich ein roter Schleier vor meinen Augen. Ich ließ Yosanna nicht aussprechen.
„NEIN!“, brüllte ich sie an. Ich bemerkte kaum, wie die anderen beiden erschrocken herumfuhren, die Pferde scheuten. „Verdammt nochmal, versteht ihr denn nicht?! Die Keszz sind hier! Sie haben einen Weg gefunden! Ihr dürft nicht einen Augenblick zögern! Ihr müsst euch zusammenrotten und ihnen alles entgegenwerfen, was ihr habt. Besser heute als morgen! Wenn ihr sie gewähren lasst, dann seid ihr bereits verloren.“ So plötzlich, wie es gekommen war, verschwand das Rot und die Farben normalisierten sich. Scham übermannte mich beim Anblick der erschrockenen Gesichter meiner Freunde.
„Ihr... ihr dürft nicht dieselben Fehler machen, wie wir. Ihr müsst überleben“, flüsterte ich kleinlaut und wandte mich ab. Den Blick auf den Boden gehaftet eilte ich voraus. Wie konnten sie alle nur so ruhig bleiben? ‚Warten wir doch erst einmal ab‘? Mir kam es vor, als rasten sie mit einer führerlosen Kutsche auf einen Abgrund zu und alles, was ihnen dazu einfiel, war, sich über den harten Sitz zu beschweren.
„Grom? Grom, warte!“, rief jemand hinter mir. Wie aus einem Traum erwachend, drehte ich mich blinzelnd um und sah Lazar auf mich zu galoppieren. Er zügelte sein Pferd und fiel neben mir ein.
„Es tut mir leid, ich hätte euch nicht so anschreien sollen“, seufzte ich schuldbewusst.
„Nein, nein. Du hast schon recht mit dem, was du sagst. Es ist nur... diese Bedrohung durch die Keszz ist abstrakt. Wir haben nicht die Erfahrung, die ihr gemacht habt. Für den König sind die eine ebenso große Gefahr wie ein Nebenbuhler, der auf seinen Thron will. Verstehst du? Nichts als ein weiterer Spieler auf dem Feld.“
„Nein. Das verstehe ich eben nicht“, blaffte ich ihn an. „Es geht doch hier nicht um Macht oder Einfluss. Es geht ums Überleben eurer Rasse!“
Lazar schwieg. Irritiert hob ich meinen Kopf und schaute ihn an. Viel mehr als sein Schweigen irritierte mich aber sein wissendes Lächeln.
„Und genau das ist es“, beschwor er mich, „was der König jetzt hören muss.“
Er begann, mir seinen Plan zu erklären.
Als ich zum zweiten Mal in meinem Leben Goldenstein betrat, verlor der König kaum Zeit. Sie berief einen Großkonvent ein, der alle Minister und die wichtigsten Fürsten an den Hof beorderte. Der große Thronsaal war voller Menschen, die in feinste Stoffe gekleidet und behangen mit den glänzendsten Edelmetallen waren. Sie alle starrten zu mir herauf, jedes einzelne Augenpaar hing gebannt an meinen Lippen.
Ich beendete eben den ersten Teil meiner Geschichte. Einer Geschichte, die von der Begegnung eines Volks friedliebender, grobschlächtiger Riesen mit den heimtückischen Keszz erzählt. Wie dieses Volk – Zor’a, Gol’dar, Un’ro und all die anderen, die den ersten Überfall überlebt hatten – unterworfen wurden und in den Schlund dieses riesigen Wurms geführt worden waren.
Ich legte eine kurze Pause ein, um meinen Worten Wirkung zu verleihen. Mein Blick wanderte in dem großen Thronsaal umher, in Gesichter, die mich teils ungläubig, teils schockiert anstarrten. Gesichter von gestandenen Kriegsherren, denen anzusehen war, wie mulmig ihnen zu Mute war, von Gefolgsleuten und unabhängigen Fürsten, die sich offenbar nur wünschten, schnell aus diesem Alptraum zu erwachen. Und doch spielte es keine Rolle, ob der versammelte Stab des Königs mir glaubte oder nicht.
Meine Augen kamen auf der Frau auf dem Thron zur Ruhe. Valerius II., die meinen Blick ernst, aber neutral, erwiderte, sowie ihre beiden engsten Minister, die mir als Marschall Tomasz, oberster Heeresminister, und Ignaz von Went, Außenminister, vorgestellt worden waren. Diese drei, so hatte Lazar mir unmissverständlich eingebläut, trafen die Entscheidungen. Oder eher: Der König traf die Entscheidungen, schloss sich dabei zumeist aber den Empfehlungen der anderen beiden an. Und eben diesen dreien war kaum anzusehen, ob sie mir glaubten oder nicht und welche Wirkung meine Worte bei ihnen hinterließen.
„Da waren wir also, die einst stolzen Kinder von Tÿl, gebrochen und jeden Kampfgeistes beraubt.“ Meine Stimme hallte tief durch den mit dicken Teppichen und ausladenden Kronleuchtern verzierten Saal.
„Wir alle hatten einen Verlust zu beklagen, hatten Kinder, Eltern oder Angehörige beim Angriff verloren. Und wir erkannten, dass wir einem übermächtigen Gegner gegenüberstanden, dem wir nichts entgegenzusetzen vermochten. Als wir auf der anderen Seite des Wurms wieder ans Tageslicht traten, bemerkte dies kaum jemand von uns, da die Trauer und der geraubte Lebensmut unsere Köpfe zu Boden zog.
Als ich irgendwann meinen Kopf hob, erblickte ich eine Welt, die mir derart fremd war, dass ich kurz dachte, ich müsste träumen. Grotesk wachsende Bäume und Pflanzen, sumpfige, nach Verderben riechende Landschaften, und ein Himmel, der dunkelpurpurn leuchtete und niemals wirklich hell zu werden schien. Und am Horizont erhoben sich wuchernde, skurril verwinkelte Bauten weit in die Höhe. Sie sahen aus, wie das Innere eines Bienenstocks – ihr nennt es Waben, wenn ich mich nicht täusche. Es waren die Behausungen der Keszz! Gigantische Wohnstätten, die sich wie Geschwüre aus dem Boden erhoben. Es mussten hunderte, tausende gewesen sein, von denen wohl jede einzelne wiederum mehreren tausenden Keszz Unterschlupf bot. Ein Schauer läuft mir jetzt noch über den Rücken, wenn ich daran denke, wie viele dieser Kreaturen es geben muss! Die Keszz sind ein Schwarm, eine Horde... eine Flut! Nichts kannsich ihnen in den Weg stellen.“
Ich schluckte schwer und fühlte die Erinnerungen an Emotionen rütteln, die ich in diesem Moment nicht gebrauchen konnte. Also fuhr ich fort.
„Wir wurden unter freiem Himmel wie Vieh mit anderen Stämmen zusammengepfercht. Wir waren alle Oger, stammten alle von derselben Welt, und doch waren wir uns fremd. Wir pflegen keinen Kontakt untereinander, sprechen noch nicht einmal dieselbe Sprache. Doch in ihre Gesichter stand dasselbe Schicksal geschrieben und das schweißte uns zusammen.
Die Keszz begannen damit, uns zu züchtigen und zu foltern. Sie wollten jeden verbleibenden Rest Aufmüpfigkeit aus uns heraustreiben. Es war erschreckend systematisch, denn jeder von uns wurde für einige Zeit herausgezogen und von den anderen getrennt, dann verprügelt, gequält und geschunden. Meine Erinnerungen an diese Zeit verschwimmen, ich weiß nicht, wie lange das so ging. Es konnten Tage, Wochen oder Monate gewesen sein. Doch als sie schließlich fertig waren, blieb von uns nichts anderes übrig als ein wimmernder Haufen ängstlicher und folgsamer Fleischhüllen.“ Morg wimmerte leise. Dass sie an uns beiden besonders viel Freude hatten, war mir noch schmerzlich bewusst.
„Doch lasst mich Euch sagen, Hoheit, diese Folter diente keinem sadistischen Selbstzweck. Auch wenn die Scheusale sicherlich ihre Freude daran gehabt haben, uns mit ihren scharfen Klauen gerade so zuzurichten, dass wir maximalen Schmerz, aber keine langfristigen Schäden davontrugen. Nein, sie brauchten uns intakt für... für das, was danach folgte. Sie hatten uns gebrochen, nun war es an der Zeit, uns nach ihrem Willen zu formen.
Dass etwas anders war, bemerkte ich zuerst an einer Oger eines anderen Stammes. Sie wurde aus unserem Pferch geholt und abgeführt; für eine weitere Folter, wie ich in dem Moment dachte. Doch es dauerte länger als sonst, bis sie wiederkam. Als sich schließlich das Gatter öffnete und sie hineingestoßen wurde, sah sie verändert aus. Es war äußerlich kaum zu erkennen, bis auf seltsame Zeichen, die auf ihren Körper und ihr Gesicht gemalt waren. Doch während wir alle uns nach einer derartigen Prozedur schutz- und trostsuchend schnell zu den unsrigen flüchteten, blieb sie dieses Mal wie verloren stehen. Ihre hängenden Schultern und der gesenkte Kopf machten auf mich den Eindruck, als wäre sie sich nicht mehr sicher, wer sie selbst überhaupt war. Ein kleiner Junge, wahrscheinlich ihr Sohn, rannte zu ihr und umklammerte verzweifelt ihr Bein. Doch sie hob kurz ihren Kopf, sah ihn verständnislos an und schob ihn schließlich von sich weg, ohne eine Gefühlsregung. Ihre Augen werde ich nie vergessen: glasig, leblos, matt. Während uns die körperliche Folter hörig gemacht hatten, waren wir doch stets noch wir selbst geblieben. Aber das hier? Das war etwas anderes. Sie hatten ihr etwas geraubt.
So holten sie einen nach dem anderen ab, unterzogen ihn oder sie der Prozedur und brachten eine seelenlose Hülle zurück.“
Die Luft war beinahe zum Schneiden, derart angespannt war die Stimmung im Raum. Jemand räusperte sich betroffen, was unendlich laut in dem Saal klang. Ein anderer musste sich setzen. Fahle Gesichter starrten mich an. Der König schaute zu seinen beiden Ministern herüber.
„Und ihr?“, fragte Tomasz schließlich, dessen militärischer Ton kaum Mitgefühl transportierte. Empfand er überhaupt welches?
„Nun...“ Ich befürchtete, dass dies die Schwachstelle meiner Erzählung sein würde. „Es tut mir leid, Minister, aber ich habe keine Erinnerung an die Prozedur selbst. Wir wurden abgeholt, ja, aber danach reißt meiner Erinnerung ab.“
„Meine auch“, gab auch Morg zu.
Der Minister zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe, was mich zur Fortsetzung der Geschichte veranlasste.
„Ich kann euch nicht sagen, was sie mit uns gemacht haben. Aber ich kann euch davon berichten, wie es sich angefühlt hat. Von diesem Moment an, als auch der letzte von uns dieser Prozedur unterzogen worden war, waren wir nur noch willenlose Sklaven. Anstatt unserer eigenen Gedanken hörten wir die Stimme der Keszz in unseren Köpfen. Wir dachten, was sie dachten; wir wollten ihnen dienen, ihnen jeden Wunsch erfüllen. Unser Stamm, unserer Familien waren uns egal, was zählte, war das Kollektiv.
Wenn ich jetzt versuche, mich zu erinnern, fühlt es sich an wie ein Traum, an den man sich nach dem Aufwachen verzweifelt versucht, zu erinnern. Wir wurden zunächst als Arbeiter eingesetzt: Behausungen bauen, Straßen anlegen, Nahrung beschaffen. Es war eine harte Schufterei, die aber jeder von uns gerne getan hat. Wir versuchten, uns gegenseitig zu überbieten, wer mehr und härter arbeitete als alle anderen, so erpicht waren wir auf die Gunst unserer Häscher. Was Selbstverständlich sinnlos war, für die waren wir keine Lebewesen. Doch wir machten genau so weiter, schufteten uns zu Tode, um der Stimme in unseren Köpfen zu gefallen. Sogar an den Abenden nach den kaum enden scheinenden Tagen, in der Zeit, in der die Stimme endlich verstummte, wussten wir nichts anderes mit uns anzufangen, als unsere Herrscher in bizarren Ritualen anzubeten. Niemand wusste, woher wir diese Rituale kannten, doch es war, als hätten wir sie schon immer abgehalten. Ich versuche mich an Gesichter zu erinnern, an Gespräche mit Freunden... doch da ist nichts. Nur dunkle, anonyme Schatten.
Irgendwann müssen die Keszz wohl unser Potenzial erkannt und es im Arbeitseinsatz als für verschwendet beurteilt haben. Noch viel besser eigneten wir uns nämlich als Krieger. Ihr müsst wissen: Auch wenn wir in euren Augen wie die geborenen Kampfmaschinen wirken, waren wir früher friedlich. Die wenigsten von uns hatten je eine Waffe in der Hand gehabt, und wenn dann nur zum Jagen. Doch auch diesen Umstand hatten die Kreaturen einkalkuliert. Sie machten uns ein Geschenk – ein Geschenk, das aus den einst friedliebenden Riesen blutrünstige Bestien machte.“
„Razsh’ek“, flüsterte Morg.
Ich nickte zustimmend und versuchte, alle Anwesenden gleichzeitig anzusehen.
„Wir nennen es Razsh’ek. Der Blutrausch, die Raserei. Er macht uns zu Kriegsmaschinen, setzt Kräfte frei, von denen wir selbst nicht wussten, dass wir sie hatten. Er lässt uns, ohne müde zu werden, selbst wenn wir schon von Pfeilen durchbohrt und von Wunden übersät sind, bis zum letzten Atemzug weitermachen.“
Unruhiges, besorgtes Gemurmel breitete sich im Saal aus. Einige Wachen ließen Hände auf Schwerknäufen ruhen.
„Und was tatet ihr mit dieser neu erlangten Fähigkeit?“, wollte Tomasz wissen und lehnte sich in seinem knarzenden Holzstuhl interessiert nach vorne. Es schien, als wäre er ganz besonders fasziniert von diesem Teil meiner Geschichte.
„Wir gehorchten und erfüllten unseren Zweck. Von da an standen wir Oger in der ersten Reihe bei jeder Schlacht. Wir eroberten eine Welt nach der anderen, Kreaturen, Stämme, ganze Zivilisationen gingen vor uns auf die Knie. Wir waren die geborenen Kämpfer, gingen auf in unserer Blutlust. Es war, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Einige Stämme gingen dazu über, sich nur noch von den Leibern ihrer Opfer zu ernähren. Andere glitten in dunkle Kulte ab, opferten ihre Eigenen, schnitten sich Gliedmaßen zur Ehrerbietung ab. Wir hatten unsere Identität verloren. Endgültig.“ Ich spürte, wie meine Stimme zu einem Flüstern verkommen war. Wie die Erinnerung mir die Kehle zuschnürte.
„Mein Beileid, Grom. Morg.“ Außenminister Ignaz erhob sich und ging betreten einige Schritte auf uns zu. Er rang mitfühlend seine Hände und schaute uns betroffen an.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Tomasz dem König einen schwer zu deutenden Blick zuwarf.
„Niemand von uns kann nachfühlen, wie es euch ergehen muss“, fuhr er fort. „Die Seele eines ganzen Volkes... einfach so ausgelöscht. Aber bitte, wenn ihr mögt, eins interessiert mich noch: Wieso seid ihr beide hier?“
Ich verstand nicht.
„Wieso stehst du hier vor uns, Grom, und erzählst uns all das, wo doch der Blutrausch dein Handeln diktiert?“
„Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich mir nicht diese Frage stelle, Minister. Es ist, als wäre die Stimme in unseren Köpfen bei Ankunft in dieser Welt verstummt. Sind die Keszz zu weit weg? Ist die Verbindung gekappt gekappt worden? Oder war es schlicht Zufall? Was auch immer der Grund, für uns beide war es wie ein Erwachen. Eine Stille, in der wir endlich wieder unsere Gedanken hören können.“
„Und die anderen? Dein Stamm?“
„Die befinden sich in einem Zustand der Lethargie“, seufzte ich. „Warum Morg und ich uns eher aufrappeln konnten, weiß ich nicht. Doch ich weiß dies: Wenn ich es kann, können es die anderen auch.“
Ich wendete mich an alle: „Wir können die Keszz bezwingen! Wenn ihr Menschen zusammenhaltet, ihnen als ein Volk die Stirn bietet, dann besteht Hoffnung. Das hier“, ich zeigte auf den riesigen Streithammer, den wir auf den Rücken geschnallt hatten, „soetwas haben die Keszz nicht. Sie mögen die Zahlen auf ihrer Seite haben, doch ihr habt die Technologie! Lasst unser Schicksal eure Mahnung sein.“
Ich sah vereinzelt Köpfe nicken, doch vielen Anwesenden schien die Dramatik der Situation nicht bewusst zu sein.
„Als ihr das letzte Mal hier wart, gab ich euch einen Auftrag“, hallte die klare Stimme Valerius‘ durch den Saal. „Können wir auf die Unterstützung deines Stamms zählen?“
„Ja, Hoheit“, log ich. Ich spürte Zuaks Blicke sich in meinen Rücken bohren. „Wenn wir begreifen, dass sich diese Welt nicht kampflos ergibt, dann wird auch mein Volk neue Hoffnung schöpfen. Wir werden diese Allianz honorieren.“
Stille breitete sich in dem Saal aus wie die Ringe eines ruhenden Sees, in den man einen Stein wirft. Valerius schaute mich unverändert grübelnd an, Tomasz und Ignaz von Went steckten ihre Köpfe zusammen und tauschten eilig geflüsterte Worte aus. Kurz bevor das Schweigen unerträglich und die versammelte Menge unruhig wurde, erhob sich der König. Alle wandten sich ihr zu und erwarteten mit angehaltenem Atem ihr Urteil.
„Was wir soeben gehört haben, sollte uns allen zu denken geben.“ Sie erhob sich vom Thron und richtete sich mit tiefer Stimme an ihre Untergebenen. „Es sollte uns eine Mahnung sein, dass nichts von dem, was wir haben, als selbstverständlich angesehen werden sollte. Morg und Grom, der Kinder von Tÿl, euer Bericht hat mich erschüttert. Mein Mitgefühl und das des ganzen Königreiches gelten euch und euren Familien.“
Die Versammlung lauschte gebannt ihren Befehlen.
„Der Konvent ist beendet. Kehrt zurück in eure Grafschaften und Fürstentümer und bereitet eure Gefolgsleute vor. Bereitet euch selbst vor. Schon bald werde ich zu den Waffen rufen lassen.“
Weiterhin herrschte Totenstille im Saal, die nur vom leisen Rascheln entschlossen nickender Köpfe durchbrochen wurde.
„Die Versammlung ist beendet.“
Hatte ich das also richtig verstanden? Der König rief das Heer zusammen? Ich konnte mein Glück kaum fassen. Es bestand tatsächlich Hoffnung!
„Tomasz, Ignaz, mit mir“, befahl sie und steuerte unverzüglich eine unscheinbare Tür hinter dem Thron an. Ein wenig verloren blieben Morg und ich zurück, während sich auch alle anderen Edelleute und Herrscher daran machten, den Saal zu verlassen. Über das eiserne Schweigen hinweg waren die schlurfenden Schritte und raschelnden Kleider laut zu hören.
„Grom, deine Geschichte, die... das ist...“, hörte ich eine dünne Stimme hinter mir. Ich drehte mich überrascht um und entdeckte Hidda, die mit feuchten Augen dastand und zu mir aufblickte. Ihre Stimme versagte.
„Ja, ich weiß. Deswegen bin ich hier: Dass dir nicht dasselbe Schicksal widerfährt.“ Ich lächelte sie dünn an. „Dir und deinem Volk“, schob ich schnell nach.
„Ich schwöre dir“, flüsterte sie und trat einen Schritt auf ich zu. „Ich werde nicht eher ruhen, bis wir nicht einen Weg gefunden haben, dich und deinen Stamm von diesem Razsh’ek zu befreien. Hörst du? Ich schwöre es!“ Ihre Unterlippe zitterte vor Entschlossenheit.
„Ich... danke dir“, murmelte ich.
„Wir alle schwören es“, sagte jemand anderes.
Ich schaute auf und sah Hiskam, der mit dem Rest der Lintbrut unbemerkt dazugestoßen war. Mina nickte wild und Isengrim zeigte ein breites Grinsen.
„Lasst uns diesen Arschlöchern einen würdigen Empfang bereiten“, knurrte Rualab.
„Bis dahin, ähm, ist es aber noch ein steiniger Weg.“ Zuak war mit Yosanna und Lazar ebenfalls dazugekommen. „Im wahrsten Sinne des Wortes. Dieses Ding... diese Klaue einer Drohne, ich habe mich schon einmal umgehört: Die hat einen weiten Weg hinter sich, hat ihren Ursprung wohl in Domillium.“
Mina pfiff leise durch die Zähne hindurch. „Domillium? Bist du sicher?“
„Domillium?“, fragte Morg verwirrt.
„Ich habe euch doch mal eine Karte von Karandia gezeigt, erinnert ihr euch?“ Ich nickte. „Domillium ist das Königreich, das im Osten an unser Land angrenzt.“
„Und sagen wir mal so: Valerius ist nicht gut auf dessen König zu sprechen“, ergänzte Hidda.
„Man könnte auch sagen, sie sind sich spinnefeind“, seufzte Isengrim.
Der Saal hatte sich inzwischen bis auf zwei verbleibende Grüppchen leise diskutierender Männer geleert. Er wirkte mit einem Mal einschüchternd und kalt.
„Was soll das heißen?“, wollte ich wissen.
„Nun, ähm, wenn dieses Bein... diese Klaue tatsächlich von dort kommt, dann haben die Keszz sicherlich auch ihren Eingang in unsere Welt irgendwo dort gefunden“, vermutete Hidda.
„Das heißt, wir müssen mit der gesamten Armee durch ganz Domillium marschieren?“, stöhnte Mina.
„Ist das ein Problem?“, wollte ich wissen.
„Kann man wohl sagen“, fluchte Rualab.
„Wie auch immer“, mischte sich Lazar ein. „Das ist nichts, was wir lösen können. Eins nach dem anderen. Zunächst hängt ohnehin alles davon ab, ob Valerius an Bord ist oder nicht. Sie entscheidet, wie diese ganze Kampagne laufen wird: Wie viele Truppen zur Verfügung stehen, wann wir aufbrechen werden und so weiter.“
„Aber sie hat doch gesagt... Sie klang so...!“ Ich merkte, wie mir mein Optimismus entglitt, gleich einem Krug Wasser, der ein Loch im Boden hatte. „Ihr meint also, wir brechen nicht unverzüglich auf, richtig?“
Yosanna brach in schallendes Gelächter aus, in das Hiskam ohne Zögern einstimmte.
„Wie ich schon sagte“, erklärte Lazar, „die Keszz sind nur eines der vielen Probleme auf der langen Liste des Königs. Hab‘ Vertrauen! Sie wird die Dringlichkeit schon erkennen.“ Er lächelte mich ermutigend an. „Die Zeit sollten wir alle nutzen, um uns auf das, was uns bevorsteht, bestmöglich vorzubereiten. Ausrüstung, Taktiken, Aufklärung! Jede noch so kleine Schludrigkeit, die wir jetzt begehen, kann uns später teuer zu stehen kommen.“
„Tut mir leid, Opa, aber wer bist du nochmal?“ Muonn starrte ihn feindselig an.
Ein lauter Seufzer entfuhr mir. Nein, Lazar hatte wohl recht. Es würde tatsächlich noch ein steiniger Weg werden.
Valerius entschied sich am nächsten Tag dafür, jeden einzelnen ihrer Gefolgsmänner aus dem Königreich samt Armeen einzuberufen und gen Osten zu marschieren. Meine Freude darüber wurde ein wenig gedämpft, als ich erfuhr, dass mindestens zwei Wochen vergehen würden, bis der Befehl jeden noch so entlegenen Winkel des Königreichs erreicht, die Gefolgsleute ihre Armeen mobilisiert und sie schließlich den langen Marsch nach Goldenstein hinter sich gebracht haben würden.
Als ich Lazar gegenüber meinen Unmut zum Ausdruck brachte, hatte er aber einen triftigen Einwand.
„Du hast recht, das sind zwei Wochen, in denen die Keszz sich ungehindert ausbreiten können. Aber sieh es so: Besser, wir nehmen uns jetzt diese Zeit, um uns ordentlich zu organisieren, als uns Hals über Kopf gegen einen Feind zu werfen, über den wir nichts wissen.“
Wir saßen vor den Toren Goldensteins, inmitten eines kleinen Zeltlagers, das der König begonnen hatte, für die Armee herrichten zu lassen. Noch waren die meisten davon leer, würden sich aber schnell füllen, je mehr Gefolgsleute mit ihren Soldaten eintrafen.
„Abgesehen davon“, flüsterte er und ging sicher, dass wir allein waren. „Das gibt uns die Möglichkeit, ein wenig deine... verborgenen Talente zu erforschen, nicht wahr? Ich habe in den bereits intensiv recherchiert und denke, dass ich da auf etwas gestoßen bin.“
„Ach, Meister, denk Ihr wirklich? Ich bin mir nach wie vor unsicher, was das alles zu bedeuten hat.“
„Und hast du dir auch schon Gedanken gemacht“, ignorierte er meinen Einwand, „wie du deine Leute für diesen Feldzug gewinnen willst?“
„Nein, das ist auch noch-“
„Wie du sie zum Einen überhaupt überredest, sich den Menschen anzuschließen, und zum Zweiten verhinderst, dass sie wieder unter die Kontrolle der Königin fallen?“, überrollte er mich mit seinen zugegebenermaßen sehr berechtigten Fragen.
Ich schwieg und schüttelte den Kopf.
„Du erwartest wohl hoffentlich nicht, dass wir Menschen diesen Krieg für dich führen?“
Seine Fragen stachen wie Nadeln. Erneut konnte ich nur den Kopf schütteln.
Versöhnlich fuhr er fort: „Siehst du? Denkst du nicht, du solltest bei diesem riesigen Berg an Problemen, vor dem du stehst, jedes dir zur Verfügung stehende Mittel nutzen? Ein Zaubertrick hier, der der Gunst deiner Leute einen Schubs in die richtige Richtung gibt, ein Kunststück dort, das deine Gegner im entscheidenden Augenblick einen Moment zögern lässt, ist es das nicht wert? Glaub mir, wir werden jeden noch so kleinen Vorteil gut gebrauchen können.“
„Ja doch, in Ordnung! Ihr habt ja recht!“, gab ich widerstrebend zu. „Es ist nur... alles so viel auf einmal. Ich habe das Gefühl, Morg und ich werden jeden Tag in irgendeinen anderen Topf geworfen und mit einem riesigen Löffel wild umgerührt. Jeder will etwas anderes von uns, im Mindesten aber die Rettung der Welt – oder besser gesagt: der Welten.“
Lazar kicherte. „Es ist manchmal nicht leicht, all die Erwartungen zu erfüllen, die an uns gestellt werden, nicht wahr? Weißt du, was mein Meister – Gott hab‘ ihn selig – mal zu mir gesagt hat?“
Ich sah ihn erwartungsvoll an.
„Wie verspeist man einen Elefanten?“
„Wie verspeist man-? Verstehe ich nicht. Was ist ein Elefant?“ Mir war nicht klar, worauf er hinauswollte.
„Oh, richtig. Ein exotisches Biest, das größte Landlebewesen, das es auf der Welt gibt.“
„Aha. Nun... keine Ahnung! Wie verspeist man so etwas?“
„In kleinen Scheibchen.“ Lazar gluckste fröhlich vor sich hin, diese Redewendung offenbar köstlich amüsant findend. „Verstehst du? Wir können nicht alle Probleme auf einmal lösen. Nur eins nach dem anderen, in kleinen Happen.“
Auch wenn mir nicht ganz klar war, wie man ein Lebewesen in Scheiben schneiden sollte, wurde mir klar, was er meinte. Schließlich nickte ich entschlossen.
„Ihr habt recht. Von alleine wird sich überhaupt nichts auflösen. Der erste Happen sollte also mein... Talent sein, sagt Ihr? So sei es. Was haben also Eure Recherchen ergeben?“
„Nun, ich hatte vor der Audienz beim König noch die Möglichkeit, den örtlichen Hexenzirkel zu kontaktieren. Du weißt schon, die mit den unscheinbaren Markierungen an den Häusern? Jedenfalls, der Vorteil daran, in der Hauptstadt zu sein, ist das umfangreich verfügbare Bücherwerk über jedes erdenkliche Thema. Und Magie“, lehnte er sich verschwörerisch flüsternd zu mir, „mein Freund, ich sage dir, die steht bei meiner Sippe ganz weit oben im Kurs.“
Er lachte und klopfte sich auf die Oberschenkel.
„Also los!“, sprang er gutgelaunt auf. „Komm mit, das erste Scheibchen ist größer, als du denkst! Ich hoffe, du hast ein frisch geschärftes Messer dabei.“
Den Rest des Tages verbrachte ich mit Lazar in einer großen, verlassenen Scheune, in die er bereits früher am Tag allerlei Gerätschaften, Bücher und Utensilien gebracht hatte.
„Und das alles habt Ihr Euch bei Eurem Zirkel ausgeliehen?“, staunte ich.
„Wie? Ach so. Ja ja, so in der Richtung“, murmelte er ausweichend, während er mir eine Art Riemen um den Arm band.
So begann der erste Versuch.
Viele gescheiterte Versuche später, die Sonne schon längst untergegangen, saß ich frustriert im Schein einer hellen Öllampe und hielt mir meinen dröhnenden Kopf fest. Der rührte nicht so sehr von den Versuchen selbst her, sondern viel mehr von der Anstrengung und Konzentration.
„Konzentrier‘ dich doch!“, rief er, wieder und immer wieder.
„Wie denn? Auf was denn?“, war stets meine hilflose Antwort.
„Ich weiß es nicht! Du bist der Magier!“, kam es frustriert zurück. Hände wurden in die Luft geworfen, Haar wurde gerauft. Es lief nicht so, wie es Lazar sich ausgemalt hatte.
Nun saß er mit hängenden Schultern da und ließ seinen müden Blick durch die Scheune wandern. Überall lagen Gerätschaften herum, der Boden war mit aufgeschlagenen Büchern und Schriftrollen übersät, die Wände mit fremdartigen Symbolen bemalt. Nichts davon hatte etwas gebracht.
Ich massierte meine juckende Hand, deren Haut bereits bedenklich gerötet war von irgendeiner Tinktur, mit der Lazar sie eingerieben hatte. Ein schwerer Seufzer entfuhr mir.
„Es tut mir leid, Meister. Wahrscheinlich bin ich ein hoffnungsloser Fall. Vielleicht ist das Ganze eine Sackgasse?“
Er schaute mich an und wollte gerade zum Widerspruch ansetzen, doch ich unterbrach ihn.
„Nein, bitte. Ich danke Euch für Eure Mühen, aber wie Ihr schon sagtet: Die Zeit rennt uns davon. Was ist, wenn diese Begabung Monate oder Jahre braucht, um von mir bewusst gesteuert zu werden? So viel Zeit haben wir nicht.“ Ich stand auf und streifte mir eine irre Metallkonstruktion vom Kopf, die einer ausladenden Krone glich.
„Bist du fertig?“, gebot mir der Meister Einhalt. Er sah mich mit seinen stahlgrauen Augen durchdringend an. „Mein Junge“, erhob auch er sich, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann, in der kleinen Scheune auf und ab zu gehen. „Glaubst du, Mystizismus ist eine Wissenschaft, die eindeutige, und vor allem schnelle Ergebnisse liefert?“
Er sah aus wie Zor’a, unsere Älteste, wenn sie uns Vorträge gehalten hatte – Herablassung gepaart mit Gutmütigkeit und einem Schuss Belustigung.
„Jemand wie ich braucht Jahre, um sich in eine bestimmte Materie einzuarbeiten. Nur um dann oft genug festzustellen, dass genau dieser Weg eine derartige Sackgasse ist, von der du sprichst. Weißt du überhaupt, wie frustrierend das ist?“ Er blieb stehen und stierte mich an, seine Stimme war zunehmend lauter geworden. „Glaubst du, irgendeine meiner Kolleginnen oder der vielen Gesellen macht das nur aus Langeweile? Natürlich wollen wir Ergebnisse erzielen! Und das ist nun einmal nichts anderes als harte Arbeit!“ Er hielt inne, als er wohl seine eigene Rage bemerkte, in die er sich zunehmend redete. Er atmete tief durch und begann wieder, auf und ab zu gehen.
„Aber du hast nicht unrecht. Wir haben keine Jahre, sondern höchstens Tage. Und dieser ganze Plunder war schon der mit dem größten Potenzial.“
Im Vorbeigehen versetzte er einer Holzkiste einen Fußtritt, die dadurch umfiel und sich viele kleine Schnitzereien aus Knochen über den Boden verteilten.
„Also dann... ähm...“ Ich war ein wenig verloren und wusste nicht genau, was mir Lazar nun zu verstehen geben wollte.
„Genau“, stimmte er mir zu und blieb stehen. „Hier geht es mehr als um meine persönliche Eitelkeit. Wir holen uns Hilfe.“
„Das war eigentlich nicht, was ich-“
„Und so schwer es mir fällt, aber ich kenne nur eine Person, die uns wirklich weiterhelfen kann.“ Entschlossen warf er sich seinen Mantel über und knöpfte ihn zu. „Warte hier.“ Damit rauschte er aus der Tür und ließ Morg und mich in der chaotischen Scheune zurück.
„Schon in Ordnung, hab‘ sowieso nichts Besseres vor“, brummte ich in den leeren Raum hinein und ließ mich wieder auf den Boden sinken.
Eine Weile schwiegen wir vor uns hin, bis Morg schließlich die Stille durchbrach. „Wie sollen wir die anderen eigentlich überreden?“
„Auch das ist ein Moment, den ich nicht herbeisehne. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich hatte gehofft, durch diese ganze... Sache hier, würde sich ein Weg ergeben. Verstehst du? Wenn wir uns vor unsere Leute hinstellen, einen magischen Trick vorführen und sagen könnten: ‚Schaut her, wir sind mächtig geworden, wir haben eine Chance gegen die Keszz!‘ Ich dachte, dann würden genug von ihnen überzeugt sein. Aber so...?“ Ratlos wanderte mein Blick über all den nutzlosen Krempel, den Lazar in die Scheune geschleppt hat.
„Was meinst du mit ‚so‘?“, widersprach Morg. „Guck, was wir alles erreicht haben. Haben Monster zur Strecke gebracht. Zauberer aus den Händen von Verrückten befreit. Haben eine Allianz mit den Menschen aufgebaut.“
Ich hielt inne und schaute überrascht zu ihm herüber. So gut es eben ging.
„Wir sind mächtiger als je zuvor“, beendete er seinen Gedankengang und grinste mich an.
„Weißt du was? Du hast vollkommen recht! Wie konnte ich nur so blind sein? Wenn wir die Geschichte gut verpacken, dann werden die schon-“
Mit einem Mal flog die Scheunentür auf und schlug laut klappernd gegen die Wand. In der Tür stand eine Gestalt, die ich in der Dunkelheit nicht genau erkennen konnte. Sie blieb vor der Schwelle stehen und lugte skeptisch in den Raum hinein, bis sie schließlich die tiefe Kapuze aus dem Gesicht schob.
„Tut mir leid, ähm, muss ein Windstoß gewesen sein“.
Es war Zuak, der nun zögerlich den Raum betrat. Kurze Zeit später folgte hinter ihm Lazar, der mit tadelndem Blick die Tür, betont leise, schloss.
Ich beobachtete die beiden Männer, wie sie wortlos in der Scheune umhergingen und die gesammelten Kuriositäten begutachteten. Zuak murmelte hin und wieder vor sich hin, was ich oft genug nicht verstand, nickte hier mal anerkennend, zog dort überrascht die Augenbrauen nach oben, ein Mal lachte er leise auf, was Lazar mit einem missbilligenden Blick bedachte.
„Die Theorie der verbundenen Ströme?“, brummte Zuak in Lazars Richtung, der wiederum auf einen Gegenstand an der Wand deutete und wortlos den Kopf schüttelte.
„Puh“, ächzte er schließlich. „Ich verkünde sicher keine Neuigkeit, wenn ich sage, dass Ihr offenbar an alles, ähm, gedacht habt, Meister.“
„Natürlich, mein Junge, was denkst du denn? Ich habe dich auch nicht dazu geholt, um das Offensichtliche festzustellen. Ich brauche mehr Ideen... andere Ideen!“
Zuak blieb schließlich vor mir stehen und schaute mich mit dem Kinn in die Hand gestützt an. Sein langer Bart wallte beinahe silbern über die Hand, die Augen funkelten im Licht der Lampe. „Und Ihr seid Euch sicher, dass er...?“
Sein Blick glitt hinab zu meiner Hand.
„Ja, das sagte ich doch bereits“, stellte sich Lazar zu seinem ehemaligen Gesellen und begann ebenfalls damit, mich zu betrachten. „Der Conjurator von Heripol ist ein Begriff?“
„Natürlich.“ Er stutzte. „Jetzt sagt bloß...! Ihr habt den in Eurem Besitz?“
„So ist es. Ja glaubst du denn, dass ich dir alle Geheimnisse verrate? Dann hast du aber bei meinen Lektionen noch schlechter aufgepasst als ich ohnehin dachte.“ Amüsiert grinste Lazar in sich hinein.
„Wie dem auch sei. Die Test, ähm, -person zeigte starke Rückkopplungseffekte mit der rechten Hand, spontane pyromantische Reaktion, unwillkürlich.“
„Dauer?“, wollte Zuak wissen.
„Etwa zehn Sekunden.“
„Zehn? Unglaublich. Bleibende Effekte?“
„Nur am Mobiliar. Person unverletzt.“
Mein Kopf schnellte zwischen den beiden hin und her. „Uhm, hallo? Könntet ihr-?“
„Kontrolle über die Reaktion?“, ignorierte Zuak mich.
„Nein.“
„Äther- und Auramagnifikanz?“
„Null.“
„Hmmm“, machte Zuak und betrachtete mich noch eingehender.
„Könnt ihr bitte damit aufhören, über uns zu reden, als wären wir nicht im Raum?“, forderte ich.
„Hmmm“, stimmte Lazar zu – seinem ehemaligen Schüler, nicht mir.
„Und keine der üblichen Methoden schlägt an, sagt Ihr?“
„Nein, das erwähnte ich doch schon.“
Die beiden Männer verfielen in Schweigen, als sie ihren Gedanken nachhingen. Plötzlich hellte sich Zuaks Miene auf.
„Was wäre denn“, sinnierte er, „wenn der Sprungfaktor des Conjurators einfach zu hoch war? Der ist ja schließlich für Menschen gemacht, die nachweislich nicht sehr talentiert für Magie sind.“
„Du meinst, eine Überreaktion? Wie ein Pendel, das man zu stark anregt und sich dann über dessen Ausschlag wundert?“, horchte Lazar auf.
„Exakt. Wenn man es also schaffen würde, den Faktor, sagen wir, zu halbieren?“
„Dann würde es die Reaktion unter Umständen beherrschbar machen!“, schloss Lazar. „Dann müssten wir nur noch eine portable Version des Conjurators erdenken und das Testsubj... ähem, unsere beiden hier könnten überall und jederzeit auf ihr Talent zurückgreifen.“ Der Meister schaute seinen ehemaligen Schüler selbstzufrieden an.
„Soweit habe ich gar nicht gedacht... aber natürlich! Eine ausgezeichnete Idee.“
Zuak erwiderte den Blick, nicht minder zufrieden.
„Na Hauptsache, sie sind sich einig“, sagte Morg.
Am nächsten Morgen, nachdem die beiden Meister der Hexerei mich nach Hause geschickt hatten, um ungestört tüfteln zu können, stand ich erneut vor der einsamen, baufälligen Scheune und war zugeben recht aufgeregt. Hatten die beiden tatsächlich einen Weg gefunden, wie ich dieses neue Talent – ich mochte mich mit dem Wort ‚Magie‘ noch nicht so recht anfreunden – nutzbar machen konnte?
Ich hörte dumpfe Stimmen, die aufgeregt etwas diskutierten. Bevor ich überhaupt das Tor aufgestoßen hatte, schwante mir nichts Gutes.
„Es ist doch wie damals! Ich habe gehofft, ein wenig Abstand würde dir guttun. Aber stattdessen bist du nach wie vor ein Hitzkopf, ein Heißsporn! Machst immer noch deine Alleingänge. Ich meine... da vertrete ich mir für fünf Minuten die Beine, und was machst du?“
Ich entdeckte die beiden alten Männer, wie sie sich mit roten Köpfen über einen Tisch hinweg ankeiften. Wenn ich sie nicht gekannt hätte und nicht so viel von ihrer erfolgreichen Zusammenarbeit abgehangen hätte, wäre das ein durchaus ulkiger Anblick gewesen. Doch so bereitete es mir eher Sorgen.
„Ein wenig Abstand? Zwanzig Jahre sind wohl mehr als das! Verstoßen habt Ihr mich! Einfach, ähm, so.“ Zuak schnippte mit den Fingern. „Und das, obwohl ich kurz vorher das Sechste Buch für Euch entschlüsselt hatte.“ Wütend zog er an seinem grauen Bart.
„Oh ja, entschlüsselt hast du es“, rief Lazar und warf die Hände in die Luft. „Und dass du versucht hast, damit direkt einen Dämonen zu beschwören, hast du wohl schon vergessen?“
„Ach, bitte! Ihr konntet es einfach nicht ertragen, dass jemand, ähm, Euch ebenbürtig ist und Eure Autorität in Frage stellt.“ Zuak stemmte herausfordernd seine Hände in die Hüften.
„Wenn es ein schlechter Zeitpunkt ist, kommen wir später wieder?“, versuchte ich sanft dazwischen zu gehen. Beiden Männern entfuhr eine Art erschrockenes Quieken, was ihre Ähnlichkeit noch mehr betonte. Ich musste ein Grinsen unterdrücken.
„Mein Gott!“, rief Lazar, seine Erregtheit unmittelbar auf mich projizierend. „Was macht ihr denn schon hier? Wir haben doch morgen früh gesagt!“
„Es ist morgen früh“, protestierte ich. „Eher schon Vormittag, die Sonne steht schon hoch.“ Die beiden schauten blinzelnd durch die Tür, die hinter mir weit offen stand. „Habt ihr euch etwa die ganze Nacht gestritten?“
„Was? Gestritten? Nicht doch. Wir, ähm...“ Zuak schaute beschämt zu Boden.
„Natürlich nicht“, murmelte auch Lazar und rieb sich müde den Nacken.
Ich richtete mich vor ihnen zu voller Größe auf, was die hohe Scheune glücklicherweise erlaubte, und starrte frostig auf die beiden Streithähne hinab.
„Ihr beide“, legte ich meinen strengsten Ton an den Tag, „reißt euch jetzt mal zusammen. Wir haben keine Zeit und insbesondere Morg keine Geduld für eure kindischen Zickereien.“
„Also das ist...“ – „Welch eine Unverschämtheit!“
„Pscht. Jetzt rede ich!“, würgte ich ihre Einsprüche ab. „Ist euch denn nicht klar, was hier auf dem Spiel steht? Es geht nicht darum, wer von euch beiden recht hat oder wessen Methode besser ist. Am allerwenigsten geht es darum, was vor zwanzig Jahren vorgefallen ist!“
Die beiden sahen noch ein wenig schuldbewusster aus.
„Es geht hier um das nackte Überleben. Eures, unseres, das dieser gesamten Welt. Versteht ihr das nicht?“
„Ja, doch.“ – „Selbstredend.“
„Dann benehmt euch, arbeitete zusammen und löst dieses Problem. Ihr seid schließlich die hellsten Köpfe im Land. Wenn es jemand schafft, dann ihr!“
Die beiden schauten erst zu mir auf und dann sich gegenseitig an. Ich hatte das Gefühl, etwas schien wortlos zwischen ihnen abzulaufen. Vielleicht kein Frieden, aber immerhin ein Waffenstillstand.
„Oder soll ich Isengrim holen, damit sie auf euch aufpasst?“, wollte ich wissen.
„Nein, nein, das wird nicht nötig sein“, beeilte sich Lazar, mich zu beschwichtigen. „Du hast ja recht. Wir sind auch einige große Schritte vorangekommen...“
„Ja. Und dann überkam uns die, ähm, Müdigkeit und die Gemüter erhitzten sich und...“, stammelte Zuak.
„Verstehe ich doch. Dann ruht euch aus, gönnt euch ein paar Stunden Schlaf. Morg und ich werden die Zeit nutzen und zu unserem Stamm aufbrechen. Wir werden anfangen sie – wie sagt ihr? – weichzuklopfen, was sicherlich auch sehr viel Geduld erfordern wird. Sobald ihr fertig seid mit dem, woran ihr da auch immer bastelt, kommt ihr nach und wir geben ihnen den Rest, indem ich diese... Magie vorführe.“
Die beiden nickten ergeben.
„Vielleicht sollte ich, ähm, allein kommen?“, warf Zuak ein und sah fragend zu mir auf. „Ihr wisst schon, mich kennen sie ja schließlich. Wenn plötzlich ein fremder Mensch bei euch im Lager steht...?“ Er versucht, Lazar möglichst entwaffnend anzulächeln.
Der holte zunächst Luft, zweifellos um zu protestieren, hielt dann aber inne und nickte schließlich. „Ja, schon recht.“
„Das wollte ich hören“, lobte ich. Ich war durchaus stolz darauf, die menschliche Psyche derart gegeneinander ausgespielt zu haben. Dann sollte das bei meinen Stammesbrüdern und -schwestern doch ebenso klappen, richtig?
„Zuak, wir sehen uns dann dort. Einen Tag, um dieses Ding zu bauen, drei Tage für die Reise?“
Er nickte.
„Du kennst den Weg?“
„Ja doch!“, murrte er ungeduldig. „Ich bin kein kleines Kind mehr.“
Ich ließ meinen Blick auf ihm ruhen, der ihm unverwandt zu verstehen gab, was ich von dieser Aussage hielt.
„Komm, verschwinde jetzt! Wir haben zu tun!“, rief er und versuchte, mich aus der Tür zu schieben. Als diese hinter mir klappernd zufiel, waren meine Gedanken bereits bei meinem Stamm. Tÿl, wie sollte ich sie nur mit bloßen Worten überzeugen?