Valerius ließ ihren Blick auf uns allen ruhen und nickte nachdenklich. „Zunächst einmal: gut gemacht. Ihr alle habt dem Reich einen großen Dienst erwiesen. Es sind schwierige Zeiten, da ist Hoffnung und Stabilität kaum mit Gold aufzuwiegen. Die Menschen müssen wissen, dass wir sie in diesen Zeiten nicht allein lassen, dass sie sich auf die Krone vollständig verlassen können.“ Der König begann, in Gedanken versunken im Raum umher zu wandern. Ihre purpurne Robe wehte dabei leicht wallend hinter ihr her. „Und ihr rechnet damit, dass es schlimmer wird, ja?“
„Ja, Hoheit. Alles deutet darauf hin.“
„Bedeutet das, es gibt noch mehr derartige Geoden?“
Mina sah unschlüssig zu Hidda herüber, die zaghaft das Wort ergriff.
„Hoheit.“ Sie räusperte sich, um sich ihrer brüchigen Stimme zu entledigen. „Wir wissen einfach zu wenig. Wir wissen nicht, ob diese Geoden allein als Tore in unsere Welt taugen. Gesetzt den Fall, dann ja: Dann muss es davon noch mehr geben, denn es ist beinahe ausgeschlossen, dass alle Kreaturen, denen wir begegnet sind, von dort stammen. Aber wie viele es sind und wo sie sich befinden...?“ Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
„Verstehe. Danke für deine offenen Worte“, erwiderte der König. Sie dachte einen Moment nach und kam dann offenbar zu einem Entschluss. „Nun gut, so wie ich das sehe, werden wir in Zukunft noch sehr großen Bedarf an euren Diensten haben.“ Sie schaute Mina an und zeigte erneut ihr distanziertes Lächeln.
***
Es waren einige Monate vergangen und der aufkeimende Frühling hatte derart weit im Süden, wie wir uns befanden, schon beinahe sommerliche Züge angenommen. Die Tage wurden länger und die Abende wärmer, sodass es uns inzwischen kaum noch etwas ausmachte – ja, wir genossen es regelrecht! – bei einem gemütlich knisternden Lagerfeuer unter freiem Himmel den Tag ausklingen zu lassen.
Rualab hatte ein lange brachliegendes Talent wieder aufleben lassen und sich ein kleines Musikinstrument zugelegt, das er Klampfe nannte. An einem dieser Abende, an dem er harmonisch die Saiten zupfend ein atmosphärisches Lied anstimmte, starrte ich in den klaren Sternenhimmel, ohne zu wissen, wie lange schon. Morg schnarchte bereits leise und friedlich an meiner Seite.
„Manche behaupten, jeder einzelner Punkt wäre eine eigene Welt, genau wie unsere“, raunte Zuak, der sich wohl irgendwann neben mir niedergelassen haben musste und ebenso in die finstere Unendlichkeit starrte. Überrascht blinzelte ich ihn an. Sein halblanger, grauer Bart, die tiefen Falten rund um seine Augen und die weit ins Gesicht gezogene Kapuze gaben ihm eine weise Ausstrahlung.
„Du meinst, meine Welt ist einer von diesen leuchtenden Punkten?“ Mein Blick wanderte wieder empor, ungläubig nach einem Anhaltspunkt suchend, anhand dem ich meine Welt erkennen könnte.
„Ach“, kicherte er. „Du darfst nicht alles glauben, was irgendein sogenannter Gelehrter vor sich her plaudert. Weißt du, wir Menschen vereinen zwei Eigenschaften in uns, wobei sich vortrefflich streiten lässt, ob das etwas Gutes oder Schlechtes ist: Intelligenz und Neugierde. Wir sind von einem unstillbaren Wissensdrang getrieben, der unserer Gesellschaft um Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte voraus ist.“
„Was meinst du damit?“
„Lass es mich in einer Frage formulieren: Wonach richten sich die Menschen in ihrem Alltag? Wenn sie eine Entscheidung treffen müssen? Woher wissen sie, ob etwas geboten oder verboten ist? Was denkst du?“ Seine Augen funkelten schelmisch im Schein des Feuers.
„Äh. Das bestimmt der König. Er formuliert die Gesetze“, mutmaßte ich.
„Ja, richtig. Und wie viele der Menschen, die du bisher getroffen hast, können diese Gesetze lesen?“
Ich zuckte ratlos mit den Schultern.
„Einer von zehn, wenn man großzügig rechnet. Von diesem Haufen hier“, fuhr er flüsternd fort und deutete auf die anderen, die in teils angeregte Diskussionen verstrickt waren, „rechne ich das höchstens Hidda zu, Mina vielleicht ein bisschen. Die anderen?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, mit Gesetzen kommen die meisten erst in Kontakt, wenn sie auf der Anklagebank sitzen.“
„Aber wie-?“
„Die Kirche. Der durchschnittliche Dorfbewohner geht mindestens drei Mal in der Woche in die Kirche und hört sich die Predigt vom Priester an. Und der wiederum zitiert aus einem Buch, das über eintausend Jahre alt ist. Verstehst du? Wir Menschen schauen in den Himmel, heilen Krankheiten, forschen und studieren... und leben gleichzeitig nach Gesetzen, die ein Millennium alt sind.“
Nachdenklich blickte ich wieder nach oben. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht, doch es klang einleuchtend. „Ist das auch der Grund, warum du dich zurückgezogen hast? In deine kleine Hütte im Wald?“
Ich hörte ihn raschelnd nicken. „Ja...“ Es klang, als hätte er einen Nebensatz verschluckt, in dem er noch weitere Erläuterungen hinzufügen wollte. Abwartend schaute ich ihn an, erntete aber nur ein dünnes Lächeln, dessen Lippen verschlossen blieben.
„Da sind wir Oger anders“, wollte ich ihm eine Erkenntnis über unsere Gesellschaft als Gegenleistung für seine Geschichte anbieten. „Wir leben in kleinen Stämmen, haben kaum Kontakt untereinander. Zwar bilden sich, soweit ich weiß, hier und da unterschiedliche Vorstellungen und Überzeugungen heraus, die jedoch alle ähnliche Züge haben: Es gibt einen Urvater des jeweiligen Stammes, bei uns ist es Tÿl. Wir streben unser Leben lang danach, ihm Ehre zu bereiten.“
„Siehst du, ihr seid uns nicht ganz unähnlich“, urteilte Zuak freudig.
„Das mag sein. Aber wir haben keine Bücher, keine Schrift – bis auf einige Runen, die aber eher einem Bild ähneln als tatsächlicher Schrift. Und so werden Geschichten über Tÿl von unseren Schamanen und Ältesten von Generation zu Generation als Erzählung weitergereicht. Wenn jemand etwas anstellt, zum Beispiel ein Verbrechen begeht, liegt die Macht bei dem Dorfältesten, im Sinne von Tÿl Recht zu sprechen.“
„Hmm, verstehe“, seufzte er und lehnte sich ein wenig zurück. „Das Problem des Individualismus.“
„Indi-?“
„Wenn Gesellschaften aus einzelnen, selbstständigen Wesen bestehen. Es wird immer Ungerechtigkeit herrschen; immer das eine Individuum geben, das die höchste Macht auf sich vereint. Und zwangsläufig alle anderen unterdrückt.“
Ich dachte darüber nach. Er hatte nicht unrecht, auch wenn ich seine These sehr überspitzt formuliert empfand. „Aber was ist die Lösung für dieses Dilemma?“, wunderte ich mich schließlich.
Zuak zeigte erneut dieses dünne Lächeln, das mehr Rätsel aufgab, als Antworten lieferte. Sein Blick schweifte zu den anderen, von denen sich einige bereits schlafen gelegt hatten. „Das ist die Frage, nicht wahr?“ Von dort wanderte er, beinahe sehnsüchtig, weiter in den finsteren Himmel empor. „Fürwahr, das ist die Frage.“
Damit war unsere Unterhaltung für den Tag beendet und bald verstarb auch das Feuer zu einem kleinen, schwach glimmenden Haufen. Ich hingegen lag noch lange wach, auf der vergeblichen Suche nach einem Anhaltspunkt, welcher von diesen hellen Punkten meine Welt sein konnte.
Am nächsten Tag erreichten wir eine große Kreisstadt, Neu-Isingg, die für den Süden des Königreichs eine herausragende Bedeutung als Macht- und Handelszentrum hatte. Nach Wochen, in denen wir ausschließlich auf dem Land und in der Wildnis unterwegs waren, höchstens einmal ein Dorf betreten hatten, überwältigte mich die Zivilisation beinahe. Die Straßen wimmelten vor Menschen und wieder einmal wurde mir meine Andersartigkeit aufgrund der vielen Blicke und auf mich zeigenden Finger schmerzlich bewusst.
„Ihr sucht euch am besten ein Zimmer im Kleinen Eck da drüben“, sagte Mina und deutete auf ein Gasthaus, an dem wir gerade vorbeigingen. „Ich werde mich beim Bürgermeister vorstellen und schauen, was er für uns hat.“ Sie drückte Marius die Zügel ihres Pferdes sowie ihre Tasche in die Hand und eilte davon.
Wir bogen in die Seitenstraße ein, gaben unsere Pferde in dem kleinen angrenzenden Stall ab, während Isengrim Zimmer für die Menschen buchte. Morg und ich würden wie immer bei den Pferden nächtigen, wenn es der Wirt erlaubte.
„Die haben richtige Matratzen hier“, schwärmte sie, als sie aus der Tür trat. „Mit Strohfüllung! Ich werde schlafen wie ein Säugling heute Nacht!“ Ein seliges Lächeln hatte sich auf ihrem Gesicht breitgemacht.
„Ich denke, ich werde nicht eine Minute schlafen heute Nacht“, erwiderte Rualab und schaute einer Frau hinterher, die mit skandalös kurzem Rock auf dem Gehweg an uns vorüber schlenderte. „Die Frauen hier sollen ja ganz besondere Talente...“, seine Stimme verlor sich.
Hidda verdrehte theatralisch die Augen. „Natürlich. Körperhygiene, richtiges Essen, Entspannung? Neeein, dem Manne sind die Freuden singulärer Natur.“
„Hä?“, grunzte er und kratzte sich am Kopf. „Wie auch immer, Bohnenstange. Was soll ich machen, wenn ich seit Wochen keine richtige Frau mehr gesehen habe?“ Er schaute sie frech herausfordernd an.
„Ach ja? Und du... du...!“. Sie rang mit einer schnippischen Retourkutsche, jedoch ließ sie in diesem Augenblick ihre Kreativität im Stich. Stattdessen entflammten sich ihre Wangen dunkelrot.
„Du hättest nur was sagen müssen“, sprang Isengrim bei, indem sie einen Arm um Hidda legte. „Dann hätte ich dir einen Spiegel besorgt.“
Hiskams prustender Lachanfall besiegelte Rualabs Niederlage, der seine Hände tief in den Taschen vergrub und etwas Unverständliches murmelte. Isengrim zwinkerte Hidda zu und gab ihr einen Klaps aufs Hinterteil.
„Können wir uns auf ein Bier als kleinsten gemeinsamen Nenner einigen?“, fragte Zuak um Deeskalation bemüht.
„Mensch, Scharlatan, ich hasse es, das zuzugeben, aber du hast recht! Die Humidität dieses Milieus ist derer unerquicklich arid!“ Isengrim putzte sich mit einer pikierten Armbewegung Staub vom Ärmel, wo keiner war.
„Weiber...“, stöhnte Muonn. „Weniger schwatzen, mehr trinken!“
Alle stimmten lachend zu.
Als Mina schließlich irgendwann wieder bei uns war, säumten bereits unzählige leere Krüge den großen Tisch, der an einem übelriechenden, kleinen Bach, jedoch ruhig und abseits gelegen war. Die Stimmung war ausgelassen, fast schon euphorisch, was nicht zuletzt dem Fehlen des Inhalts der Krüge zuzuschreiben war. Jacken waren geöffnet, Ärmel hochgekrempelt, Hosenbeine aufgerollt. Rualab hatte den Fehler gemacht, in einen Trinkwettbewerb mit Morg einzutreten.
„Ich habe es dir gesagt“, grinste ich ihn an, der es nur noch mühsam schaffte, seinen Kopf von der Tischplatte zu heben und mich müde und schielend ansah. „Das, was ihr Starkbier nennt, geben wir unseren Jüngsten zu trinken. Du solltest mal einen Wurzelbrand probieren!“
„Beißwasser!“, überbot Morg meinen Vorschlag mit Begeisterung.
Ich musste lachen. „Au wei, du hast recht. Das haut selbst den stärksten Oger aus den Schuhen!“
„Gnnhhh?“, murmelte Rualab nur und ein dünner Speichelfaden verband seinen Mundwinkel mit der Tischplatte.
„Zumindest muss er sich keine Gedanken mehr darüber machen, wie er eine dieser leichtbekleideten Dirnen herumbekommt“, beschrieb Hidda das Schauspiel.
Rualabs Blick schweifte fahrig zu ihr, bevor sein Kopf mit unendlicher Schwere und einem dumpfen Tump auf die Tischplatte zurücksank.
Ein unbeschreibliches Gefühl von Frieden überkam mich. Es war ein lauer Frühlingsabend, der sich zwar noch nicht gänzlich gegen die frostige Nacht durchzusetzen vermochte, jedoch die Vorahnung der Sommerzeit mit sich brachte.
„Was ich dich... schon immer ma‘ frag’n wollte“, lallte Marius mit hochrotem Kopf, der zwar nicht mitgespielt hatte, aber offenbar noch weniger vertrug als Rualab. Er nahm einen tiefen Schluck und stellte seinen Krug laut auf dem Tisch ab. „Wie macht ihr das eig’ntlich beim Kacken, eh?“
Alle am Tisch stöhnten laut auf. Hiskam kicherte.
„Äh, wie?“, fragte ich.
„Na, ihr beide... habt doch zusamm’n einen Arsch, oder?“, fuhr er fort. Er sah konzentriert aus, wie ein Schuljunge im Unterricht. Eine tiefe, senkrechte Falte stand auf seiner Stirn. „Wer übernimmt das?“ Er wedelte umständlich mit seiner Hand in Richtung meiner unteren Körperhälfte.
„Mal er, mal ich“, brummte Morg nüchtern.
Die anderen wandten sich peinlich berührt ab.
„S-so, so. Und wenn ihr mit ’nem Oger... äh, Weibchen zusammen seid, wie-?“
„So, jetzt ist aber Schluss!“, unterbrach Mina mit einem gespielt strengen Lachen. „Wenn du das herausfinden willst, schlage ich vor, du nächtigst heute Nacht bei den beiden und ihr redet weiter, ganz romantisch unter dem Sternenhimmel.“
Marius lief noch röter an und vergrub sich in seinem viel zu groß scheinenden Krug.
„Folgendes, hört mir kurz zu! Beim Bürgermeister war eine Nachricht für uns hinterlegt – vom König!“ Das erregte die Aufmerksamkeit am Tisch. „Sie hat von unseren Taten gehört, unsere Erfolge im Auge behalten.“ Ihr Blick blieb schließlich an mir haften. „Sie möchte uns treffen – und insbesondere unser, ähm, Aushängeschild kennenlernen.“
„Du meinst uns?“, wollte ich sichergehen.
„Ja, Dummerchen.“ Sie zwinkerte mir zu.
„Glückwunsch!“, gratulierte Zuak, aufrichtig erfreut.
„Wieso Glückwunsch?“ Ich verstand die Aufregung nicht.
„Na wenn der König euch persönlich kennenlernen will“, erläuterte Mina, „dann bedeutet das, dass sie euch nicht mehr als Bedrohung wahrnimmt. Sondern als Verbündete. Ihr habt es geschafft!“
Ich war völlig überrumpelt. Selbstverständlich war dies der Moment, auf den ich ursprünglich gehofft und nun beinahe ein ganzes Jahr lang hingearbeitet hatte. Dass er nun da war, einfach so, sich überraschend und ohne Ankündigung angeschlichen hatte, ließ mich perplex zurück. Ich schaute in die Gesichter meiner Gefährten, die mich aufrichtig glücklich anschauten, sich für mich freuten. Und doch fühlte ich einen scharfen Stich, der aus einer diffusen Enttäuschung herrührte. Ich konnte dieses Gefühl einfach nicht einordnen.
„Entschuldigt mich kurz“, murmelte ich und sprang hastig vom Tisch auf, um der rauen Böschung einige Schritte entlang zu folgen.
„Waaas?“, raunte Morg unsicher zu mir, überrascht über meine Reaktion.
„Ach, ich weiß nicht“, erwiderte ich. „Irgendwie fühle ich mich seltsam. Eigentlich sollte mich die Nachricht doch freuen!“
„Aber du hast Angst, dass unser gemeinsames Abenteuer vorbei ist“, sagte jemand hinter mir. Ein wenig erschrocken fuhr ich herum; es war Hidda, die mir gefolgt war.
„Du hast mich verstanden?“
„Ach, nur ein paar Worte, die ich aufgeschnappt habe.“
Unwillkürlich entfuhr mir ein lautes Seufzen, beinahe so als presste mir ein zentnerschweres Gewicht die Luft aus den Lungen. Mein Blick wanderte zu dem stinkenden Rinnsal am Fuße des kleinen Hangs, beinahe so, wäre dort eine Antwort versteckt. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden und hinterließ nur noch einen silbernen Schein am Horizont.
„Meinst du? Also, dass ich Angst vor dem Ende habe?“, fragte ich in die Dunkelheit.
Sie kam herüber, stellte sich neben mich und hakte sich bei mir ein. „Ja. Denn uns allen geht es genauso. Hast du nicht die Traurigkeit bemerkt, die sich in unsere Gesichter geschlichen hat? Du – ich meine: Ihr – seid ein Teil von uns. Ohne euch sind wir nicht die Lintbrut.“
Morg entfuhr ein wehmütiges Wimmern. Und als ich in mich hineinhorchte, spürte ich, dass sie recht hatte. Schließlich nickte ich zögerlich, legte meine Hand vorsichtig um ihre Schultern, die beinahe darin verschwanden.
„Ja. Ich denke... du könntest recht haben.“ Ich ließ mich neben ihr auf die Knie sinken und versuchte, so gut es ging, mit ihr auf Augenhöhe zu kommen, was sicherlich urkomisch aussehen musste. Doch Hidda erwiderte fest und ernst meinen Blick.
„Ich habe das Gefühl...“, versuchte ich händeringend, meine Gedanken zu ordnen. „Ich habe das Gefühl, dass ihr der Stamm seid, den ich nie hatte.“
Über Hiddas Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln, als sie vorsichtig mit ihren winzigen Händen mein Gesicht umschloss und mir einen flüchtigen Kuss auf Lippen drückte. Überrascht zuckte ich zurück, doch sie zog ihre Hände nicht zurück. Ihre Augen schimmerten feucht in der Dunkelheit.
„Es ist mir eine Ehre, zu deinem Stamm zu gehören. Und was auch immer jetzt kommen mag, das wird sich nie änder“, flüsterte sie mit brüchiger Stimme, warf sich hastig an meine Brust und vergrub ihren Kopf zwischen Morgs und meinem Hals. Wir beide erwiderten ihre Umarmung vorsichtig, beinahe so, als würden wir einen zerbrechlichen Tonkrug halten.
Die Umarmung dauerte wahrscheinlich nur einige Augenblicke, ließ mich jedoch so verwirrt zurück, dass ich mich beinahe wie betäubt fühlte.
„... anderen zurück?“, hörte ich Hiddas Stimme leise zu mir durchdringen.
„Wie, was?“, stotterte ich und musste ein paar Mal blinzeln, um einen klaren Gedanken zu fassen.
Sie ließ ein helles Lachen ertönen. „Ob wir zu den anderen zurückgehen sollen?“ Sie schaute mich verschwörerisch an. „Nicht, dass noch Gerüchte aufkommen.“
„Äh, ja. Zu den anderen zurück“, nickte ich schnell. Mit weichen Knien erhob ich mich, zeitweise unsicher, ob sie nicht unter mir nachgeben würden. Was war nur los mit mir?
Wackelig trotteten Morg und ich ihr hinterher, wo wir bereits von den anderen laut johlend empfangen wurden. Wir bekamen beide einen frischen Krug zugeschoben und stießen mit allen an.
„Also, dann erzähl mal! Was schlägt der König vor?“, forderte ich Mina auf und versuchte, mich auf einen handfesten Plan zu konzentrieren.
Wir feierten die ganze Nacht hindurch, bis sich im Osten die erste Ahnung der Dämmerung in die Dunkelheit der Nacht schlich. Rualab erwachte irgendwann und stieg halbwegs ausgenüchtert erneut in das Gelage ein, während andere einschliefen oder von ihren Stühlen kippten. Und ich muss zugeben, irgendwann hatten sie auch Morg und mich so weit, dass wir vor dumpfer Schwere die Köpfe kaum noch heben konnten. Wahrscheinlich lag es daran, dass bei unseren Trinkspielen hauptsächlich er und ich gegeneinander spielten – oder eher gesagt, als letzte überblieben.
Der Morgen war entsprechend geprägt von bleierner Trägheit der Glieder und trüber Benommenheit in den Köpfen. Wir vertrösteten den Bürgermeister von Immerhain auf irgendwann, schließlich hatte uns der König in die Hauptstadt beordert. Gegen Mittag schwangen sich die Menschen auf ihre Pferde, Morg und ich zogen die Lederriemen unserer Bundschuhe fest, und wir machten uns auf den Weg.
Die Stimmung sprühte auch sonst nicht gerade vor Vorfreude, denn unser Aufenthalt hier im Süden war kurz gewesen und wir sahen uns mit langen Tagen auf der Straße konfrontiert, die uns zunehmend in kältere Gefilde führen würde. Doch am schwersten wog bei allen die diffuse Befürchtung, dass nach der Audienz beim König nichts mehr so sein sollte wie bisher, dass die Lintbrut eine andere sein würde. Lediglich Muonn schien das kaum etwas auszumachen, was aber nicht bedeutete, dass er guter Dinge war.
Es waren schweigsame Tage, die sich monoton aneinanderreihten. Wir passierten ein Bauerndorf nach dem anderen, die für mich kaum voneinander zu unterscheiden waren. Auch die Landschaft veränderte sich so gut wie nicht, je weiter wir nach Norden kamen: Kahle Weinberge wurden zu brachliegenden Getreidefeldern, ansonsten war die Straße überall gleichermaßen schlammig. Außer an Tagen, an denen es in der Nacht zuvor geschneit hatte, dann waren die morastigen Furchen zu grotesken Formen erstarrt und mit einem weißen Überzug dekoriert. Schnee, so dachte ich, ist etwas, das ich nicht vermissen werde, sollten wir es je in unsere Welt zurückschaffen. Die nasse Kälte, die durch meine Schuhe drang, war beißender als Regen.
Schließlich erhob sich Goldenstein, die Hauptstadt des Königreichs, in der Ferne. Zugegebenermaßen war ich zunächst ein wenig enttäuscht. Inzwischen hatte ich die eine oder andere Erzählung davon gehört, hatte diesen typisch glasigen Gesichtsausdruck der Menschen bemerkt, wenn sie ins Schwärmen darüber gerieten, sogar wenn sie selbst noch niemals dort gewesen waren. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte: Goldene Burgen, Türme aus weißem Marmor, silberne Dächer? Doch es war einfach nur eine Stadt, eine ausladende, gewaltige Stadt zwar, mit hinter hohen Wehrmauern emporschießenden, spitzen Türmchen und gut gepflasterten Zufahrtsstraßen, doch am Ende blieb es das – ein Ort, an dem Menschen lebten und arbeiteten.
„Warte ab, bis du die erste Zugbrücke passiert hast“, kicherte Hiskam, der wohl meine Zweifel bemerkt hatte. Es war beinahe beängstigend, wie sehr meine Gefährten mich inzwischen kannten.
Erschrocken lächelte ich ihn an. „Nein, es ist nur...“
„Du hast mehr goldene Steine erwartet?“, vervollständigte er meinen Satz. „Wegen Golden-Stein?“
Ich zuckte nur ratlos mit der Schulter.
„Ist schon gut“, lacht er. „Was unsere Städtenamen angeht, neigen wir ein wenig zum – äh, wie sagt man? – Pathos!“
Ich wickelte mir das dicke Bärenfell enger, die Trophäe eines Auftrags in Vernken, wo dieses unnatürlich riesenwüchsige Ungetüm sein Unwesen getrieben hatte. Je näher wir der Stadt kamen, desto breiter wurde die Straße und desto höher wuchs die Wehrmauer empor. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich einer Art optischer Täuschung aufgesessen war: Goldenstein sah von Weitem wesentlich kleiner aus. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und maß die Mauer ab; sie musste mindestens zwanzig Schritt hoch sein.
Selbstverständlich hatten uns die Wachen bereits aus der Ferne ausgemacht und vorsorglich die Brücke geschlossen und Alarm geschlagen. Auf den Zinnen wimmelte es vor Aktivität, große Geschütze – Isengrim hatte sie Ballisten genannt – wurden knarzend herumgeschwenkt und auf uns gerichtet. Mehrere Fackeln erschienen und spiegelten sich in blankpolierten Klingen.
„Wer seid ihr?“, rief jemand von weit oben.
Mina trat einen Schritt vor und streckte selbstbewusst die Brust heraus. „Wir sind die Lintbrut. Der König schickt nach uns“, rief sie gegen die Mauer und den pfeifenden Wind an.
Vereinzeltes Gelächter war zu hören, das aber schnell verstummte, als die Soldaten bemerkten, dass dies die Wahrheit war.
Der Mann, der mit uns gesprochen hatte, verschwand hinter den Zinnen und gespannte Ruhe stellte sich ein. Nichts tat sich. Das Misstrauen, das mir gegenüber in der Luft lag, war förmlich zu greifen.
„In Ordnung“, erklang die Stimme schließlich von weit oben. „Ihr dürft eintreten. Minerva de Gys, Ihr haftet persönlich für Eure Truppe.“
„Minerva de...?“, murmelte ich verwirrt und sah mich zu den anderen um. Von wem sprach der Mann? Als mein Blick an Mina haften blieb, die trotz der Kälte rot angelaufen war und deren Kiefermuskulatur hektisch arbeitete, beantwortete dies aber meine Frage. Ohne jemandem in die Augen zu schauen, trieb sie ihr Pferd an und betrat die Zugbrücke, kaum dass die sich vollständig gesenkt hatte.
„Frag‘ besser nicht“, flüsterte mir Rualab im Vorbeireiten zu.
Um ehrlich zu sein, hatte ich auch keine Zeit, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn Hiskam hatte Recht behalten: Die Stadt war majestätisch. Prunkvolle Alleen, deren Bäume in die gepflasterte Straße eingelassen waren, wurden von massiven Steinhäusern umrahmt, deren kunstvoll verzierte Fassaden einander überboten. Es schien, als wäre es hier Mode, seinen Reichtum zur Schau zu stellen, indem man den Gehweg vor dem eigenen Haus mit Edelmetallen oder -steinen verzierte, und seinem Heim eine besonders extravagante Architektur verlieh. Mindestens ebenso faszinierend waren aber die Bürger der Stadt, die nun von neugierig bis angsterfüllt die Straßen säumten und uns anstarrten: Bunteste Kleider, ausladende Mode und hell glänzende Schmuckstücke waren hier an jedem Einzelnen zu erkennen. Ein krasser Kontrast zu der überwiegend braun-grauen Leinenkleidung der Landbevölkerung.
Wir folgten den Straßen und überquerten schließlich eine weitere, kompaktere Zugbrücke, gefolgt von dem, was Zuak damals einen Zwinger genannt hatte. Dies musste der Zugang zur Burg des Königs sein. Als uns die sich windenden, schleusenartigen Gänge wieder ausspuckten, fanden wir uns inmitten bunter, penibel gepflegter Grünanlagen wieder. Ein ausladender, mit weißen Platten gepflasterter Hauptweg führte auf ein breites Portal zu, von dem wiederum kleinere, mit Kies ausgelegte Seitenwege in Blumenbeete und kunstvoll verzierte Hecken führten. Hier und da erspähte ich modisch herausgeputzte Menschen, die durch den Garten lustwandelten.
„Und das, mein Freund“, raunte Zuak mir zu, „ist, was die Reichen und Mächtigen den ganzen Tag so machen.“ Ich verstand nicht. „Reden und durch Gärten spazieren.“ Er kicherte.
„Scheint ein angenehmes Leben zu sein“, erwiderte ich.
„Wer weiß. Auch wenn wir selbst inzwischen keine armen Schlucker mehr sind, besitzt jeder einzelne von diesen Menschen hier mehr Reichtum, als wir alle zusammen. Wie lebt so jemand? Ich kann es mir in meinen wildesten Träumen nicht vorstellen.“ Er schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Wie dem auch sei, wir sind gleich da. Also denkt daran: Vor dem König auf die Knie gehen, nur reden, wenn ihr angesprochen werdet, und wenn, dann nennt ihr sie ‚Eure Hoheit‘, klar? Nicht mit ihrem Namen, Valerius, ansprechen, nicht ‚du‘ oder ‚Herr‘.“
„Klar.“ – „Klar“, antworteten Morg und ich unisono.
„Und, ähm, immer daran denken: Sie ist der König; keine Königin.“, fügte Zuak noch nebulös hinzu.
„Was soll das denn-?“, wollte ich wissen, doch das sich öffnende Portal unterbrach mich. Unversehens standen wir in einem hohen, von spitzen Fenstern und großen Ölgemälden gesäumten Vestibül. Unzählige Kerzenständer warfen schummriges Licht auf die kunstvoll verschnörkelten Wände und Säulen.
„Willkommen. Seine Hoheit erwartet euch bereits“, kündigte eine sonore Stimme zu unserer Rechten an. Überrascht stellte ich fest, dass die Stimme zu einer Frau in einfacher, grauer Kleidung gehörte, die ich bisher nur an Männern gesehen hatte. „Hier entlang“, sagte sie ohne Umschweife und ging voraus.
Wir stiegen eine breite, mit dickem Teppich ausgelegte Treppe hinauf und gelangten über von Wandleuchtern erhellte Gänge in einen weiteren hohen Raum. Amüsiert stellte ich fest, dass dies das erste Haus eines Menschen ist, in dem ich aufrecht stehen konnte.
Kaum war mir der Gedanke durch den Kopf gegeistert, bemerkte ich meine Gefährten eiligst sich auf ein Knie herablassen. Erst jetzt sah ich eine Gestalt in einer unscheinbaren Ecke des Raums sitzen und an einem Brief schreiben.
„Auf dein Knie!“, zischte Mina zu mir, was ich schleunigst befolgte. War dies etwa der König, Herrscher über den gesamten Kontinent und alle Menschen? Möglichst unauffällig schielte ich herüber. Die Gestalt ließ sich kaum beirren und arbeitete seelenruhig an ihrem Schriftstück weiter. Ich bemerkte von meiner Position aus lediglich schmale Schultern und kurze, pechschwarze Haare. Die feinen Hände huschten geschickt mit dem Federkiel in der Hand über das Papier. Niemand regte sich, lediglich das leichte Kratzen des Schreibgeräts durchdrang die schwere Stille. Während die Minuten verstrichen, sah ich mich unsicher zu meinen Gefährten um, erntete jedoch nur strenges Kopfschütteln.
Was sollte das werden? Eine Art Machtprobe? Oder waren wir dem König einfach zu unwichtig? Sie hatte doch diese Audienz einberufen.
Ein hölzernes Knarzen verkündete, dass der König sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt hatte und einen prüfenden Blick auf das Geschriebene warf. Kurzerhand streute sie Sand auf das Papier, pustete es hinfort und rollte es der Länge nach zusammen. Einige Tropfen heißen Wachses und ein Abdruck des klobigen Siegelrings vervollständigten das Werk. Einen Moment lang drehte sie das Papier noch in ihren Händen und legte es schließlich auf einen großen Stapel mit weiteren Schriftrollen.
Mit einem hohen Seufzen erhob sich die Herrscherin von dem gepolsterten Stuhl und rollte mit den Schultern, beinahe so, als säße sie schon den ganzen Tag dort und müsse ihr Blut in Wallung bringen.
Schließlich drehte sie sich um und ich konnte das erste Mal einen Blick auf ihr Gesicht werfen. Der König war jung... und eine Frau!
Natürlich war sie eine Frau, schalt ich mich. Dieses Verwirrspiel – Valerius, die König genannt werden wollte, und nicht Königin – hatte meine Erwartungen... wen oder was genau hatte ich überhaupt erwartet?
Ich betrachtete ihre feinen Gesichtszüge und die kaum erkennbaren, sich unter der feinen Robe abzeichnenden Rundungen ihres Körpers. Auch wenn sie sich offensichtlich große Mühe gab, diese Tatsache zu verschleiern: Sie war eine Frau.
Die Andeutung eines Lächelns huschte über das Gesicht der Köni– des Königs. Mit erhabener, stolzer Haltung durchschritt sie den Raum und kam vor uns zu stehen. Mit leicht ineinander verschränkten Händen schaute sie zu mir auf. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr reißen.