Wieder einmal befanden wir uns auf der Straße. Obwohl Zuak uns lang und breit erklärte, wo wir seinen Meister vermutlich finden würden, und ausgiebige Geschichten erzählte, die er als Geselle in den Diensten seines Meisters erlebt hatte, blieb er doch im Detail überraschend vage. Ich hatte das Gefühl, ein immenses Mysterium umgab Zuak, sein Schaffen und seine Vergangenheit. Bis heute hatte ich nicht in Erfahrung bringen können, warum er von den Menschen verstoßen worden war.
„Kannst du mir nicht zumindest seinen Namen sagen?“, forschte ich.
„Ja, natürlich, warum denn nicht?“, erwiderte Zuak gutgelaunt vom Rücken seines Pferds, das behutsam den unebenen Feldweg entlang trottete. „Du wirst ihn ja ohnehin bald kennenlernen, warum sollte ich dir da nicht Rede und Antwort stehen? Du kannst mich alles fragen, was du möchtest!“ Er kicherte leise.
Abwartend sah ich auf ihn herab, sein langer, grauer Bart wippte leicht im Rhythmus des Pferds. „Also?“, seufzte ich irgendwann.
„Hmm?“
„Der Name?“
„Oh, habe ich ihn dir gar nicht genannt? Ich Schussel! Lazar ist sein Name.“ So war es jedes Mal – jeder Fetzen an Information ein zähes Ringen.
„Entschuldige bitte, ich bin wahrscheinlich ein wenig abgelenkt. Es ist nur...“ Er schaute nachdenklich zum Horizont, wo sich dunkle Wolkenberge begannen, aufzutürmen. „Ich bin nervös, ich gebe es zu.“
„Wie lange ist es her, dass ihr euch zum letzten Mal gesehen habt?“
„Zehn Jahre? Vielleicht auch zwanzig. Ich versuche, nicht so oft daran zu denken.“
„Warum?“
„Ach. Olle Kamellen“, winkte er heiter ab. „Sagen wir einfach, wir hatten unterschiedliche Ansichten und sind dann getrennter Wege gegangen, ja?“
„Wie du meinst.“ Ich starrte eine Zeit lang auf unsere Füße, die sich stoisch und unbeirrbar voreinander setzten. „Und du bist sicher, er weiß eine Lösung?“, fragte ich irgendwann, wohl zum hundertsten Mal.
Und wohl zum hundertsten Mal antwortete Zuak: „Er ist der einzige Mensch, der mir in den Sinn kommt, bei dem die entfernte Möglichkeit besteht, ja. Er ist der einzige Strohhalm, nach dem ich greifen kann. Ob ich sicher bin, fragst du?“ Er lachte leise. „Nein, alles andere als das. Aber ich will mir nicht vorwerfen, irgendetwas unversucht gelassen zu haben.“
Wir setzten unseren Weg und den Rest der Reise überwiegend schweigend fort. Jeder von uns schien seinen eigenen, trüben Gedanken nachzuhängen. Außer Morg, der sein übliches unbekümmertes, einfaches Selbst war. Manchmal beneidete ich ihn.
Nach einigen Tagen unterwegs gelangten wir schließlich in eine mittelgroße Stadt namens Wurt, Lazars Wohnort.
„Also, denk daran“, sagte Zuak, „Ich reite vor, kontaktiere die Stadtwache mit dem Schreiben vom König und wir treffen uns dann am Abend am Stadttor, in Ordnung? Solange wartet ihr hier und haltet euch so gut es geht verborgen. Nicht, dass die uns für eine Bedrohung halten. Und im Gegensatz zu sonst, als wir mit der Lintbrut unterwegs waren, wollen wir dieses Mal möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen, nicht wahr?“
Ich nickte mein Einverständnis und wir schlugen uns abseits in ein kleines Wäldchen.
„Hast du nicht gesagt, dieser Lazar ist ein Aussiedler wie du?“, fragte ich Zuak, als wir spät in der Nacht durch die verlassenen Gassen der Stadt streiften. Vereinzelte Einwohner blieben noch wie angewurzelt stehen, sobald sie uns erblickten, huschten dann aber zumeist ohne weiteres Spektakel davon. Womöglich trauten sie oftmals ihren eigenen Augen kaum. Die Ankunft in Wurt war also bei weitem nicht das volksfestähnliche Ereignis, wie es noch mit der Lintbrut gewesen war.
„Nein, ich sagte ‚etwas in der Art‘. Er ist untergetaucht, hat seine Identität gewechselt. Vermutlich gibt er sich in diesen Tagen als Schuhmacher oder einfacher Kaufmann oder etwas in der Richtung aus. Eine bürgerliche Fassade, um seine Vergangenheit zu verschleiern.“
„Aber du weißt es nicht genau?“
„Nein, selbstredend nicht. Welch eine dürftige Fassade das wäre, wenn ich davon Wind bekommen hätte“, amüsierte er sich.
„Aber dass er noch in der Stadt ist, dessen bist du dir doch sicher?“
„Was heißt schon ‚sicher‘?“, murmelte er und ließ unbeirrt seinen suchenden Blick umherschweifen.
Morg murmelte etwas Unverständliches, was wenig erfreut klang.
„Und wie denkst du nun, ihn zu finden?“, wollte auch ich wissen.
„Ja“, sagte er nur abgelenkt und fuhr mit seiner scheinbar zufälligen Suche fort. Verstehe einer diesen Menschen! Schließlich fügte ich mich in mein Schicksal und wartete einfach ab.
„Hier!“, zischte Zuak plötzlich und blieb abrupt stehen. Ich war derart in Gedanken versunken und auf den Boden fixiert, dass ich beinahe mit ihm kollidierte.
„Uff“, schnaufte ich und sah mich blinzelnd um. Wir waren in einer unscheinbaren, schmalen Seitengasse gelandet, die der blasse Mond kaum mit Helligkeit zu versorgen mochte. „Wie sind wir hier...? Was meinst du mit ‚hier‘?“
„Dies ist sein Haus“
Ich betrachtete die dunkle Fassade, die sich schmucklos und wenig einladend in eine unscheinbare Häuserzeile einfügte. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein mächtiger... was-auch-immer-er-war wohnte. „Bist du dir sicher?“
„Sicher. Siehst du dieses schwach leuchtende Symbol dort?“ Er deutete auf etwas.
Und tatsächlich erkannte ich in dem fahlen Mondlicht die Andeutung eines Zeichens, das neben der kleinen Eingangstür an die Fassade gezeichnet war. Es sah aus wie eine schlecht skizzierte Waffe mit drei Spitzen.
„Das ist ein Dreizack... im abergläubischen Volksmund auch das Szepter des Teufels genannt“, erläuterte er flüsternd. „Lazar hat immer behauptet, der Bund der Hexer erstreckt sich über das gesamte Königreich – und seine Mitglieder geben sich über dieses Zeichen untereinander zu erkennen.“
„Warte mal“, zischte ich ihn an und schaute mich hastig um. „Bund der Hexer? Wovon redest du?“ Ich packte ihn grob am Ärmel und zwang ihn, zu mir herauszusehen.
„Oh, ähm, habe ich das nicht erwähnt?“, stammelte Zuak mit unschuldiger Mine. „Lazar ist ein Hexenmeister.“ Er lächelte mich an, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
„Ein Hexen-was? Wie diese Jesmina in Etteln?“
„Nein, nein“, beteuerte er ruhig. „Die war eine ganz normale Frau, die für eine Hexe gehalten wurde. Lazar hingegen ist tatsächlich einer.“
Ich spürte Zorn in mir aufwallen, dass er eine derart wichtige Information nicht für nötig gehalten hatte, mit uns zu teilen.
„Jetzt schau doch nicht so“, lachte Zuak gutmütig. „Das ist alles nur Schau – es gibt keine Magie, keine Flüche, keine Verwünschungen. Hexenmeister ist nur so ein Titel. Man könnte auch Scharlatan zu ihm sagen.“
„So wie die Leute es zu dir sagen, meinst du?“, forderte ich ihn grimmig heraus.
Doch Zuak ließ meine Provokation überraschend kalt. „Ja, genau so.“
Ich brauchte eine Zeit, um zu begreifen. „Das heißt also, dass du auch ein...?“
Er zwinkerte mir unbekümmert zu und wendete sich erneut dem Haus zu, ohne meine Frage zu beantworten.
„Lass‘ uns nicht mit solchen Details Zeit verschwenden, hm? Wir haben schließlich wenig davon.“ Der alte Mann mit dem rauschenden Bart und der weit ins Gesicht gezogenen Kapuze streckte die Brust hervor und nahm eine aufrechte Haltung an. Es sah aus, als sammle er sich für eine lange vermiedene Konfrontation.
„Lass uns anklopfen“, murmelte er und trat auf die Tür zu.
Trotz mehrmaligen Klopfens blieb es still in dem Haus. Nichts regte sich hinter den düsteren Fenstern, die wie die leeren Augenhöhlen eines Schädels auf die Straße gerichtet waren. Zuak schaute ratlos auf seine Knöchel, die an der Holztür ruhten und nicht die erwünschte Wirkung hatten.
„Wenn er gewollt hätte, dass wir draußen bleiben...“, flüsterte ich und drängte ihn sanft zur Seite. Mit einem leichten Stoß drückte ich die Tür auf. Etwas zersplitterte hölzern. „...dann hätte er keine Einladung an die Hauswand malen dürfen, meinst du nicht?“
Er drehte sich perplex zu mir um, nickte dann aber grinsend. Ohne weiteres Aufhebens trat er über die Schwelle in den dunklen Flur hinein.
Mit einem mühsamen Ächzen folgte ich ihm, tief gebückt. „Menschen und ihre Häuser...“
Zuak hatte irgendwo eine kleine Öllampe gefunden, die schummriges Licht spendete und viel zu stark rußte. Die Dielen knarzten bedenklich unter meinem Gewicht, während wir Raum für Raum absuchten und doch niemanden vorfanden. Das Haus war verlassen und das nicht erst seit kurzem. „Es sieht so aus, als wäre schon lange niemand mehr hier gewesen“, seufzte er laut.
„Ich nehme nicht an, euer Hexen-Kodex sieht etwas vor, wie man Anderen eine Nachricht hinterlässt? Abwesenheitsmitteilung, Nachsendeadresse, soetwas?“ Was hatte ich auch erwartet? Dass dieses Unterfangen ohne Probleme vonstattenging?
„Sehr witzig. Wir müssen nur einen Hinwei-“
Er war mitten in seinen Ausführungen, da durchfuhr ein spitzer Schmerz meinen Oberschenkel. „Au!“, entfuhr es mir und ich versuchte, mich hektisch umzudrehen. Innerlich verfluchte ich diese winzigen Häuser mit den engen Fluren, in denen das schier unmöglich war. Ein erneuter Schmerz, wie der Stich einer Ruza-Wespe. „Was ist denn hier los?“
„Raaar!“, brüllte Morg, der wohl auch einen Stich abbekommen hatte. Ich spürte den Zorn in ihm aufwallen.
„Was ist denn mit euch?“, rief Zuak panisch und kam zurückgeeilt.
„Ich kann nichts sehen, da ist etwas hinter uns, das – au!“ Ich fühlte mich, als würde ich in einem dieser Pranger feststecken, die wir des Öfteren auf den öffentlichen Plätzen der Städte gesehen hatten, und jemand würde mich schikanieren, ohne dass ich mich wehren konnte. Das übernahm nun Morg.
„Morg... böse!“, donnerte er, kurz bevor er in die Raserei verfiel. Er übernahm die Kontrolle und holte mit einem weiten Hieb aus. Holzsplitter und Lehmbrocken flogen umher, als er die Wand zwischen Flur und Wohnstube in Dutzende Teile zerschmetterte. Ein zweiter Hieb brachte sie vollständig zum Einsturz und gab Morg so mehr Raum, sich zu bewegen.
„Was ist denn los?“, kreischte Zuak über den Lärm hinweg.
„Halt Abstand!“, rief ich ihm noch zu, bevor Morg es schaffte, sich umzudrehen.
„Nanu?“, hörte ich ihn noch verdutzt murmeln, bevor auch ich es sah: Die Quelle unseres Schmerzes war eine junge Frau! Sie trug eine weite, dunkle Robe und hatte mit beiden Händen einen kurzen Dolch umklammert, an dem ein wenig Blut klebte. Unser Blut! Morg war derart überrascht, dass er in seiner Bewegung innehielt und sie mit schiefgelegtem Kopf ansah.
Seine Verunsicherung nutzte die Frau für eine erneute Attacke und stürzte sich mit einem Gesichtsausdruck, der Angst und Wut vereinte, auf uns, den Dolch über ihren Kopf in die Höhe gereckt. „Stiiiirb, Dämon!“, kreischte sie.
Doch bevor sie uns mit ihren kurzen Armen auch nur entfernt gefährlich werden konnte, wischte Morg sie mit seiner immensen Pranke in einer fast beiläufigen Handbewegung zur Seite. Die Frau flog durch die Luft, verlor ihre Waffe und prallte mit voller Wucht in einen Schrank, der unter dem Aufschlag zusammenbrach und sie unter seinen Einzelteilen begrub. Ein leises Stöhnen, ein letztes hölzernes Knarzen, dann kehrte wieder Ruhe in das Haus ein.
Zuak betrat auf Zehenspitzen die Wohnstube, in deren Wand nun ein riesiges Loch klaffte, und hob die Klinge auf. „Wer war das? Und warum... wartet mal! Ich kenne diese Waffe! Das ist Lazars Ritualdolch, ohne Zweifel!“
„Ja, uns geht’s gut, danke der Nachfrage“, murmelte ich, während ich den Schaden begutachtete, den die Frau angerichtet hatte. Die Stiche waren nicht sonderlich tief eingedrungen, in ein paar Tagen würde davon nichts mehr zu sehen sein.
„Also sie hat Lazars Dolch... aber lass mich raten: Sie ist nicht Lazar?“
„Äh? Nein, ist sie nicht“, sagte er, während er mühsam seinen Blick von der Waffe löste und auf den Haufen aus Brettern und Splittern richtete, aus dem lediglich zwei Beine hervorschauten. „Ich hoffe, du hast sie nicht umgebracht.“
„Sie hat angefangen!“, beschwerte sich Morg beleidigt.
„Ja, da muss ich ihm rechtgeben“, stimmte ich zu. „Tut mir leid. Aber schauen wir erstmal, dieser Schrank dort sollte ihren Aufprall ja abgefedert haben.“
Zuak schnaubte belustigt, während ich mich mühsam durch Rest von Mauerwerk zu der Frau vorarbeitete. Behutsam entfernte ich die zersplitterten Überreste des Schranks und legte schließlich den Körper darunter frei.
„Siehst du? Atmet noch.“ Morg strahlte vor Stolz.
„Ja. Ein Glück. Hoffentlich liegt sie nicht im Koma. Sie ist wahrscheinlich die Einzige, die uns etwas zu Lazars Verbleib sagen kann.“ Zuak betrachtete sie nachdenklich. „Noch so jung... und so...“, murmelte er gedankenverloren, bevor ihm bewusst wurde, dass er laut aussprach.
„Fahr fort! Hübsch, wolltest du sagen?“, grinste ich ihn an.
„Ach, sei ruhig!“ Seine geröteten Wangen bildeten einen markanten Kontrast zu dem weißen Bart. „Hilf mir mal lieber! Ich hole Wasser und ihr legt sie dort auf das Sofa.“ Damit eilte er davon und begann irgendwo, polternd Schränke zu durchsuchen.
Wir hoben die Frau, so behutsam es eben in dem niedrigen Raum ging, auf und betteten sie auf das einzige Polstermöbel, das nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war. Leichte Staubwolken stieben daraus hervor.
Wie sie so dalag, sah sie friedlich aus, als würde sie schlummern. Und ich konnte Zuaks Verunsicherung verstehen, sie war sicherlich überdurchschnittlich attraktiv. Die feuerroten Haare rahmten ihr bleiches, ebenmäßiges Gesicht kontrastreich ein, die feinen Gesichtszüge gaben ihr etwas Adeliges. Beinahe bereute ich es, dass wir ihr die klaffende Wunde auf der Stirn zugefügt hatten, aus der nach wie vor dickes Blut quoll. Die würde sicherlich eine Narbe hinterlassen.
„Hier, habe es abgekocht so gut es ging“, haspelte Zuak, als er mit einer dampfenden Schüssel Wasser zurückkam. Umgehend begann er, ihre Wunden zu versorgen.
„Und nun?“, wollte ich wissen.
„Es scheint“, flüsterte er, während er ihre Augenlider hob und die Pupillen begutachtete, „als wäre sie nur weggetreten. Wir müssen warten, bis sie zu sich kommt.“
„Hunger“, dröhnte Morg plötzlich, wenig auf seine Lautstärke bedacht.
„Na das passt ja“, seufzte ich. „Nun gut, wir gehen uns schnell den Bauch vollschlagen und lassen euch beide in Ruhe. Ist ohnehin besser, dass wir nicht da sind, wenn sie aufwacht, hm?“
Zuak nickte nur, während er beinahe zärtlich ihr Gesicht mit dem Lappen betupfte. Morg und ich sahen uns an und zuckten gleichzeitig mit den Schultern. Das bedeutete wohl, dass er unserem Plan zustimmte.
Einige Stunden später, es war tiefste Nacht und die Stadt lag verschlafen da, klopfte ich sachte an Lazars Tür an. Morg war damit beschäftigt, die Überreste eines Wolfs zwischen seinen Zähnen herauszupulen. Kurze Zeit später öffnete Zuak leise die Tür, steckte seinen Kopf heraus und sah sich schnell auf der Straße um.
„Sie ist wach“, flüsterte er. „Noch ein wenig benommen, aber soweit bei klarem Verstand. Ich habe ihr erklärt, wer ihr seid und was wir wollen. Aber“, er sah uns beide, insbesondere Morg, eindringlich an, „tut euer Bestes, sie nicht zu verängstigen. Ja?“
„Ja.“ – „Schon gut“, erwiderten wir unisono.
Wortlos winkte er uns herein.
„Grom, Morg... das ist Yosanna“, stellte er uns behutsam vor, als wir uns durch den engen Flur quetschten und durch die ramponierte Wand die Stube betraten. Die kleine Öllampe stand neben dem Sofa und warf tiefe Schatten auf das Gesicht der jungen Frau, was sie noch kränklicher aussehen ließ. Zuak hatte ihr einen dicken, provisorischen Verband um den Kopf gewickelt, sodass nun lediglich noch ein Auge ängstlich in meine Richtung starrte. Doch sie unternahm nichts, keinen Fluchtversuch oder ähnliches. Ich versuchte, mich möglichst klein zu machen, während ich mich neben dem Sofa niederließ, um weniger bedrohlich auszusehen.
„Hallo, Yosanna. Das tut mir leid“, raunte ich und tippte mir an den Kopf; an die Stelle, wo sie an ihrem Kopf die Wunde trug.
Ein hohes Wimmern entsprang ihrer Kehle. Sie schluckte einmal trocken und versuchte es dann erneut: „Es ist also wahr. Du kommst aus einer anderen Welt?“
„Wie kommst du darauf, was hat mich verraten?“, versuchte ich einen Scherz, der aber außer Morg niemanden zum Lachen brachte. „Ähm, ja, eine andere Welt.“
„Dann hat der alte Holzkopf es also tatsächlich geschafft.“ Ihre Stimme war dünn, kaum zu hören.
„Geschafft?“ Ich schaute zu Zuak, ob er wüsste, wovon sie sprach, doch der schüttelte ebenso ratlos den Kopf. „Was hat er geschafft?“
„Die Pforte!“, hauchte sie. „Er hat sie... geöffnet.“ Das war alles, was sie hervorbrachte, bevor ihre Augen zufielen und ihr Kopf ermattet auf das Kissen zurücksank.
„Was-?“, wollte ich wissen, doch Zuak unterbrach mich.
„Lass sie ruhen. Keine Sorge, wir haben noch genug Zeit, sie auszuquetschen. Ihr Schädel brummt ganz schön. Sie braucht jetzt Schlaf.“
„Weißt du, wovon sie spricht?“
„Lazar. Da bin ich mir sicher, wenn sie von einem Holzkopf redet.“ Ein diffuses Lächeln umspielte seine Lippen. „Aber was es mit dieser Pforte auf sich hat... nein, keine Ahnung.“
Er streckte sich ausgiebig, sodass seine Gelenke knackten, und unterdrückte nur mühsam ein Gähnen.
„Und wenn du meine Meinung hören willst, werden wir heute Nacht auch sonst nichts weiter erfahren. Wir sollten es ihr gleichtun und uns eine Mütze Schlaf gönnen, meinst du nicht?“ Es klang nicht nach einer Frage.
„Und du glaubst, wir können sie einfach so dort liegen lassen? Was ist, wenn sie aufwacht und abhaut? Oder wieder über uns herfällt?“
„Keine Sorge. Ich habe zwar nur wenige Worte gewechselt, doch das hat gereicht. Wir haben von ihr nichts zu befürchten. Selbst wenn sie nicht in derartiger Verfassung wäre, würde sie uns nichts tun.“
„Wie kannst du da so sicher sein?“ Unwillkürlich wanderte meine Hand zu den Schnitten an unseren Beinen.
Sein Blick wanderte zu ihr, nahm eine fast väterliche Note an. „Sie ist ich. Ein jüngeres Ich zwar, aber dennoch!“ Er sah mich an. „Sie ist sein Lehrling.“
Ich erwachte zu schummriger Dämmerung, die durch die fleckigen Vorhänge von außen hereindrang. Das Sofa, auf das mein erster Blick fiel, stand verlassen dort.
„Morg, wieso hast du mich nicht geweckt?“, brummte ich, meine Stimme noch eingetrocknet vom Schlaf.
Ein belustigtes Rumpeln durchfuhr ihn. „Langschläfer.“
„Wo ist denn...?“
Entferntes Lachen drang aus einem anderen Raum zu uns herüber – die Stimme eines Mannes und einer Frau.
„Ach? Die verstehen sich wohl schon prächtig, wie?“
Kurze Zeit später kamen die beiden zu uns, dampfende Tassen umklammert, in denen dunkle Flüssigkeit umher schwappte. Wahrscheinlich Tee.
„... gab es an Sonntagen immer eine Tasse Kaffee. Man stelle sich das vor! Kaffee! Macht er das noch?“, amüsierte sich Zuak.
„Ja, macht er. Aber mein Geschmack ist das nicht. Viel zu bitter. Weiß Gott, wo er den herbekommt!“
„Ah, guten Morgen!“, strahlte er mich schließlich an.
„Morgen“, erwiderte ich, über seine fast schon übertrieben wirkende gute Laune. „Geht’s besser?“, erkundigte ich mich bei Yosanna.
Sie nahm einen tiefen Schluck und nickte lächelnd. „Ja, wird schon gehen. Ich denke, da ist ´ne Rippe geprellt oder so. Halb so wild. Verband brauche ich auch nicht mehr. Siehste?“ Sie betastete vorsichtig die dunkel verkrustete Stelle an ihrer Stirn. „Und selbst?“
Sie hatte eine seltsame Art zu sprechen, die Sätze kurz und abgehackt, irgendwie schroff. Ein auffälliger Gegensatz zu ihrer ansonsten weichen Stimme.
„Ja, danke, das heilt schnell. Das nächste Mal, wenn du einen Oger angreifst, besorg‘ dir besser ein längeres Messer“, versuchte ich einen Scherz.
Doch Yosanna starrte mich nur blinzelnd an, als hätte ich in einer anderen Sprache mit ihr gesprochen. „Das kommt nicht wieder vor. Keine Angst.“
„Das, äh... ja. Ich weiß“, murmelte ich. „Also: Lazar. Wissen wir nun, wo er ist?“, wechselte ich das Thema.
„Ja, wissen wir. Bei den Vasallen der Dämmerung“, sagte Zuak, als sei es ein Umstand, der nicht näher erläutert werden müsste. Ich wartete auf eine weitergehende Erläuterung.
„Es ist ein Kult. Eine Sekte, wenn du so willst“, fuhr Yosanna fort. „Beten irgendeinen dunklen Gott an. Wollen eine neue Weltordnung. Irgend so ein Unsinn. Man kennt solche Spinner ja. Lazar hat auf schnelles Geld gehofft. Bisschen Hokuspokus hier, ein paar schwammige Prophezeihungen dort. Hat aber die Hartnäckigkeit und vor allem Brutalität dieser Fanatiker unterschätzt. Und jetzt halten sie ihn gefangen.“
„Und was wollen die von ihm?“, wollte ich wissen.
„Was diese Leute nun einmal immer wollen: Macht und noch mehr Macht, gewürzt mit ein bisschen Rache an allen, die ihnen Unrecht getan haben“, sprang Zuak ein. „Wie ich verstanden habe, glauben die Vasallen an eine neue, bevorstehende Weltordnung, in der das Recht des stärkeren gilt. Menschenopfer, Blut, Gewalt; im Allgemeinen ganz ähnlich zu dem, was die Kirche als Fegefeuer bezeichnet. Nur ohne Aussicht, jemals in den Himmel zu kommen.“
„Nett. Müssen ja ganz sympathische Burschen sein“, sagte ich.
„Nein. Sind sie nicht“, erwiderte Yosanna irritierend humorlos. „Als Vorbereitung dieser neuen Ordnung verbünden sie sich mit den dunklen Kräften in der Welt.“
„Oder rufen diese herbei“, ergänzte Zuak.
„Richtig. Jedenfalls glauben sie, Lazar gehöre dazu. Klar, Hexenmeister gleich böse. Weiß jedes Kind.“ Sie rollte mit den Augen. „Die haben ihn angeheuert, um eine Pforte zu öffnen. Eine Pforte zu ihrem finsteren Herrscher, die ihm den Eintritt in diese Welt erlaubt.“
„Lass mich raten: Er wird erst freigelassen, wenn er die Pforte geöffnet hat?“, mutmaßte ich.
Yosanna nickte.
„Hört zu, ich will überhaupt nicht im Detail auf die Wahnvorstellungen dieser Typen eingehen.“ Sie machte ihrer Ungeduld Luft und ging im Raum auf und ab. „Von mir aus könnte auch ein rosa Kaninchen ihr Heiland sein. Es spielt keine Rolle. Was hingegen eine Rolle spielt: Dass sie meinen Meister in ihrer Gewalt haben. Und ihm Dinge antun werden, wenn wir ihn da nicht rausholen!“
„Wo wir schon dabei sind, wie hast du es überhaupt geschafft, zu entkommen?“, wollte ich von ihr wissen.
„Ach, irgendein Vorwand. Fehlende Werkzeuge für seine Prozedur, die ich von hier holen sollte. Meinen Aufpasser habe ich abgehängt, der streunert sicherlich noch irgendwo in der Stadt herum. Bei der Stadtwache war ich schon, die hat das kaum interessiert.“ Sie schaute Zuak eindringlich an, mit großen Augen und vor Zorn zitternder Unterlippe. „Was ist denn jetzt?“
„Ja, natürlich! Wir holen ihn da raus!“, platzte es aus ihm hervor. „Wir müssen nur... äh, wir sollten dazu... uhm.“ Er knetete hektisch sein Leinenhemd, sein Blick schwirrte beinahe fiebrig durch den Raum. „Also...“
„Jaaaa?“, zog ich meine Frage betont gespannt in die Länge.
Er sah mich entmutigt an und ließ seine Hände schlaff zu den Seiten fallen. Das zerknitterte Hemd glitt nur zögerlich wieder in seine ursprüngliche Form zurück, wie sich langsam entfaltende Blüten einer schüchternen Blume. „Ich weiß es auch nicht“, murmelte er.
„Boah“, murrte Yosanna genervt. „Sag‘ jetzt nicht, dass dir der Schneid fehlt!“
„Entschuldigt, wenn ich darf?“, mischte ich mich ein, was mir ein dankbares Nicken von Zuak einbrachte. „Von wie vielen dieser Vasallen reden wir? Wie gut sind sie ausgerüstet, sind Kämpfer darunter, wo haben sie sich eingeigelt?“
Und Yosanna fing an, zu berichten.
Noch während wir unsere Vorbereitungen zur Abreise trafen, gab sie uns einen groben Abriss über die Vasallen, ihre Geschichte und insbesondere wie Lazar und sie in diese Misere geraten waren. Zugegeben war ich ein wenig enttäuscht: Unter einem großen Hexenmeister hatte ich mir mehr erhofft als jemand, der mittels Täuschung und Illusion unbedarften Leichtgläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen beabsichtigte. Nicht dass ich Mitleid mit den Vasallen der Dämmerung hatte – nein, Yosannas Erläuterungen ließen kaum einen Zweifel, dass sie alles andere als unschuldige Opfer reinen Gemüts waren. Und doch beschlich mich das Gefühl, dass dieser Lazar ein Hochstapler und Schwindler war, der genauso wenig vom Fluch der Keszz verstehen würde wie Zuak. Ich versuchte bewusst, diesen trüben Gedanken beiseitezuschieben, und setzte darauf, dass die beiden Männer zumindest nicht dumm waren und sich auf dem Gebiet gut auskannten. Irgendwie würde dabei schon eine brauchbare Idee herauskommen.
An den Punkt galt es aber, zunächst zu kommen. Und Yosannas Ausführungen machten mir nicht gerade Mut. Sie berichtete von mehreren hundert Mitgliedern des Kults, die sich in einer alten Schlossruine eingenistet hatten – darunter einige Dutzend kampferfahrene Wegelagerer und ehemalige Soldaten. Wir standen also einer beträchtlichen Übermacht gegenüber, die noch dazu den Vorteil auf ihrer Seite hatten: Sie hatten Lazar in ihrer Gewalt.
„Du meinst also, sich heimlich in das Lager zu schleichen und ihn zu befreien, wird nicht gehen?“, schlug ich vor.
„Nee. Kannst du vergessen. Zu viele von denen. Und Lazar wird tief im Inneren festgehalten. Das ganze Ding ist ein Labyrinth aus Gängen und Mauern und anderer Scheiße. Wisst ihr?“ Sie setzte sich seufzend auf ihre kleine Tasche, die sie gerade mit dem Nötigsten gepackt hatte. „Dieses Schloss wurde ja nicht einfach so von Heute auf Morgen verlassen. Es gibt einen Grund, warum es leersteht und nie wieder jemand dort eingezogen ist.“
Zuak und ich horchten auf.
„Der Ort ist verflucht“, stellte sie in bedrohlichem Tonfall fest. Als sie bemerkte, dass wir sie weiterhin anstarrten, fing sie an zu lachen. „Glaubt ihr mir etwa? Ach, bitte, das ist doch abergläubisches Gewäsch der Bauern. Natürlich gibt es keinen Fluch. Die Leute glauben das nur.“
Zuak ließ von seiner eigenen Tasche ab und baute sich vor ihr auf. „Yosanna, du erzählst uns jetzt besser alles, was du weißt!“, ermahnte er sie in einem großväterlichen Ton.
Sie erwiderte seinen Blick zunächst herausfordernd, lenkte dann aber schulterzuckend ein. „Schön. Dieses Schloss ist schon alt. Sehr alt. Einhundert, zweihundert oder noch mehr Jahre? Niemand weiß es. Alle Aufzeichnungen darüber, wann es erbaut wurde und von wem, existieren nicht mehr. Und, Mann, das Ding ist riesig, muss ´ne Menge Holz gekostet haben.“ Sie lachte leise auf. „Ist schon seltsam, oder? Wenn man sich mal bei den nächsten Nachbarn umhört, von denen sich keiner näher als einen Tagesmarsch herantraut, hört man viele wirre Geschichten, über Monster und Flüche und Geister. Da dachten sich wohl die Vasallen: ein einsamer Ort, wo man nicht gestört wird? Perfekt.“
Ihre Stimme wurde eine Nuance tiefer. „Womit sie aber nicht gerechnet haben? Eine eingestürzte Wand tief im inneren Gemäuer zu finden. Eine Wand, hinter der sich ein riesiger Hohlraum auftat.“ Sie lehnte sich zurück und sah uns gespielt unheilvoll an.
„Hör‘ auf mit den Spielchen. Du vergisst wohl, dass wir vom selben Meister gelernt haben? Red‘ jetzt Tacheles, Weib!“ Ich erschrak beinahe über Zuaks Wortwahl, konnte mir ein Grinsen aber nicht verkneifen.
„Ja, mein Gott, die haben damals halt das Schloss auf noch viel älteren Ruinen errichtet. Ohne es zu wissen. Und das erst später entdeckt. Ruinen, übersät mit seltsamen Schriftzeichen und Zeichnungen. Müssen von einer Zivilisation stammen, die es schon lange nicht mehr gibt.“
Zuak zog seine buschigen Augenbrauen in die Höhe. „Hah“, machte er überrascht. „Lass mich raten: Und nun glauben die Vasallen, dieser Ort ist in irgendeiner Form signifikant für ihren Gott?“
„Jup. Sie glauben, mit der richtigen Methode dort diese Pforte öffnen zu können. Oder irgendwas in der Richtung.“ Ihre Nase kräuselte sich angesichts dessen, was sie von dieser Theorie hielt, in winzige Falten.
„Und dafür haben sie Lazar geholt. Natürlich. Wird er auch dort unten festgehalten?“, wollte Zuak wissen.
„Die meiste Zeit, ja. Die haben recht schnell klargemacht, dass sie zu dem vereinbartem Lohn noch einen Bonus draufzahlen würden, sollte er erfolgreich sein.“
„Und zwar?“
„Sein Leben.“
Zuak zwirbelte in Gedanken versunken seinen Bart und starrte abwesend in die Unendlichkeit. Mit einem Mal hielt er in der Bewegung inne und sah Yosanna aufmerksam an.
„Sag‘ mal, dieser Gott, den die beschwören wollen... wissen die, wie der aussieht?“
Sie dachte angestrengt nach und schüttelte schließlich den Kopf. „Nein. Alles Bildliche, was sie uns gezeigt haben, zeigt nur diffuse, dunkle Wolken, aus denen glühende Augen und Klauen hervorblitzen.“
Zuak nickte. Ein entspanntes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als sein Kopf langsam zu mir herüberschwenkte. Er sah mich forschend an, danach Morg, dann wieder mich. Und sein Lächeln wurde noch tiefer, zufriedener.
„Waaas?“, fragte Morg, der den Erklärungen nur mühsam gefolgt war.
Yosanna folgte Zuaks Blick. Und auch sie schien etwas zu verstehen, beinahe so, als hätte er ihr seine Idee per Gedankenübertragung verraten. Sein Lächeln schien auf sie überzuspringen.
„Äh, genau“, pflichtete ich Morg bei. „Was?!“
Wir hatten Wurt vor einigen Tagen verlassen und ließen die besiedelten Gegenden immer weiter hinter uns. Hier überwogen wilde Natur und unberührte Landschaften. Yosanna hatte vermutlich recht mit ihrer Behauptung, die Menschen fürchteten sich vor dem sagenumwobenen Schloss und würden die Gegend meiden. Zumindest ließ der Zustand der Straßen darauf schließen. Es waren keine anderen Reisenden weit und breit zu sehen.
„Mir gefällt der Plan trotzdem nicht“, maulte ich leise vor mich hin, als wir an einem alten Gasthaus vorbeikamen, das mit eingefallenem Dach sicherlich schon seit Jahren verlassen dastand. Insbesondere störte mich, dass ich keine bessere Idee hatte.
„Es ist der Beste, den wir nun einmal haben. Wenn es nach mir ginge, würde ich auch lieber zu den Leuten gehen und sagen: ‚Lasst uns alle vernünftig sein und den Mann frei!‘ Aber so wird das nicht gehen“, antwortete Zuak.
„Ja, schon gut.“ Ich dachte an all die Dinge, die schiefgehen konnten. Und wenn eins davon eintrat, konnte ich meine Hoffnungen, mein Volk zu befreien, wohl begraben. Mir wurde schwindlig bei dem Gedanken, was alles auf dem Spiel stand.
Yosanna, die voranging, hob unvermittelt die Hand und bedeutete uns so, stehenzubleiben. „An diese Stelle erinnere ich mich“, flüsterte sie. „Von hier sind es noch etwa anderthalb Tagesmärsche.“ Ihr Blick wanderte zu Morg und mir.
Ich wusste, was das hieß. „Also trennen sich hier unsere Wege?“, flüsterte ich zurück; warum ich flüsterte, wusste ich nicht genau.
Die beiden sahen mich an und nickten im Einklang. Ich atmete noch einmal tief durch und nickte schließlich entschlossen. Irgendwie würde schon alles gutgehen. „Passt auf euch auf und... viel Glück!“
„Ihr auch. Keine Sorge, wir sehen uns schon bald hier wieder!“, bekräftigte Zuak und lächelte gezwungen. Er war sicherlich nervöser als ich.
Lediglich Yosanna schien die Ruhe selbst zu sein. „Bis denn!“, sagte sie knapp und wandte sich zum Gehen. Zuak schaute ihr unschlüssig hinterher, zuckte mit den Schultern und eilte ihr hinterher. Als die beiden hinter einem riesigen Busch verschwunden waren, der schon weit auf den Weg gekrochen war, wurde mir bewusst, dass ich das erste Mal seit einer sehr langen Zeit allein war.
„Nicht allein“, murmelte ich. „Wir haben ja noch uns, richtig?“
„Mhm? Ja. Uns“, bestätigte Morg. Auch wenn er keine sprudelnde Quelle der Weisheit war, so schätzte ich mich doch wieder einmal glücklich, ihn an meiner Seite zu haben.
Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, schlugen wir uns seitlich in das dichte Buschwerk und verließen die befestigte Straße.
Nun galt es. Alles hing davon ab, dass wir es schafften, uns unbemerkt an die Ruinen des Schlosses heranzupirschen.
Yosanna hatte mir nach bestem Wissen die Lage und Umgebung des Schlosses geschildert, sodass wir uns in einem weiten Bogen von hinten würden nähern können. Wir hatten zwei Tage und den Rest von heute bis Vollmond – mehr als genug Zeit. Viel wichtiger, als schnell voranzukommen, war, es unentdeckt zu tun.
„Jetzt wo ich so darüber nachdenke“, sagte ich halb zu mir selbst, halb zu Morg, „bin ich mir gar nicht mal mehr so sicher, ob Zuak mit seinen Worten rechtbehalten wird.“
„Mhm?“
„Ähm, als wir uns verabschiedeten, da sagte er doch: ‚Wir sehen uns schon bald hier wieder‘.“ Ich schaute ihn an. Er kaute schon wieder auf irgendetwas herum. „Was ist, wenn die ihm seine Geschichte nicht abkaufen? Je länger ich drüber nachdenke, desto mehr Lücken tun sich in seiner Mär auf. Was ist, wenn das die letzten Worte waren, die er zu uns gesagt hat?“
Morgs Pranke fuhr blitzschnell herum und gab mir eine für Oger’sche Verhältnisse liebevolle Watsche.
„So viele Gedanken. Sei ruhig, wird schon gutgehen.“
Perplex fühlte ich die Wärme sich in meinem Gesicht ausbreiten und musste unwillkürlich lachen. „Du hast Recht. Daran muss ich arbeiten.“
Morg stimmte mit einem grunzenden Bellen ein.
Wir kamen gut voran, nutzten die Nacht effektiv und sahen bereits am nächsten Tag auf einer kleinen Anhöhe in der Ferne die Spitztürmchen der Burg sich zwischen den Baumwipfeln in die Höhe heben.
„Da ist es“, flüsterte ich unnötigerweise. Jegliche Patrouille, die die Vasallen ausgesendet hätten, würden wir bereits auf große Entfernung kommen sehen, hören, riechen. „Nun kommt der knifflige Teil, weißt du noch?“
„Eingang finden“, antwortete Morg.
„Genau. Yosannas Aussagen waren ja mehr als vage, das könnte lange dauern. Am besten machen wir uns direkt ans Werk, hm?“
„Ans Werk.“
Damit begannen wir nach dem zu suchen, was die junge Frau den zweiten Eingang genannt hatte. Sie war überzeugt gewesen, dass es, neben dem Mauerdurchbruch im Kellergewölbe des Schlosses, noch mindestens einen weiteren Zugang geben musste. Sie hatte ihre Theorie knapp mit dem einen oder anderen verendeten Tier begründet, das in den Ruinen zu finden war. ‚Irgendwo müssen die ja schließlich herkommen. Leuchtet ein, oder?‘, hatte sie gesagt.
Ich musste zugeben, unseren gesamten Plan auf eine derart wacklige Schlussfolgerung zu fußen, kam mir äußerst riskant vor. Wenn es keinen zweiten Eingang gab, würde das den Tod dreier Menschen bedeuten.
„Gar kein Druck, nein, ach was“, murmelte ich vor mich hin.
Und doch – oder gerade deswegen – trieb mich diese Gewissheit an, ließ mich wie einen Wahnsinnigen jeden Stein umdrehen, unter jeden Busch schauen, sogar wahllos in der Erde graben. Trotzdem standen wir mit leeren Händen da, als der Mond bereits hell und groß am Himmel stand und die Nacht weit fortgeschritten war.
„Verdammter Mist“, entfuhr es mir. Überrascht stellte ich fest, dass ich mir die Flüche der Menschen bereits zu eigen gemacht hatte. „Die Zeit läuft uns davon, Morg. Wir haben nur noch einen Tag!“
„Wir schaffen das. Wie sagen die Menschen in ihrer Sprache? ‚Bis dahin fließt noch viel Wasser den Fluss hinab‘?“
Ich starrte ihn an. „Wer bist du und was hast du mit Morg gemacht?“ Obwohl ich ihn schon mein Leben lang kannte, war er doch immer wieder für eine Überraschung gut.
„Ich bin’s doch?“, antwortete er verwirrt. Und da war er ganz plötzlich wieder der Alte.
„Schon gut. Und du hast recht. Wir kriegen das hin. Aber erst einmal gönnen wir uns eine Mütze Schlaf.“
Leider hielt meine Überzeugung vom Vorabend nicht lange an. Ähnlich erfolgreich in meiner Suche, ohne einen neuen Einfall oder Anhaltspunkt, schaute ich zu den mittlerweile unheilvoll wirkenden Türmchen des Schlosses, das mich beinahe trotzig zu verspotten schien. Wie es wohl meinen Freunden ging? Hatten sie die Nacht überlebt oder waren sie in einer Folterzelle oder gar als Menschenopfer geendet?
Ich schüttelte diese finsteren Gedanken ab und machte mich wieder ans Werk, packte die verrotteten Wurzeln eines abgestorbenen Baumstumpfs fester. Morg und ich zogen mit aller Kraft, bis sich das massige Holz seufzend aus dem Boden löste – nichts. Kein Eingang tat sich darunter auf! Frustriert ließ ich mich auf den Boden fallen.
„Wir sollten uns langsam einen Plan B überlegen“, murmelte ich.
„Einfach reinstürmen?“, schlug Morg vor.
„Ja, vielleicht das. Dieses Gebiet hier ist einfach zu groß. Das war ein schlechter Plan. Wie sollen wir jemals den Eingang-?“ Plötzlich schoss es mir durch den Kopf. Dass ich nicht früher daran gedacht habe!
„Mhm?“, fragte Morg.
„Psst!“ Angestrengt lauschte ich in den Wald hinein, versuchte, das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Zweige auszublenden.
Da! Gluckern, Gurgeln.
Eilig sprang ich auf und drehte mich wild im Kreis bei dem Versuch, den Ursprung des Geräuschs zu verorten. Dann schlich ich los.
„Was hast du gestern noch gesagt?“, sagte ich zu Morg. „Es fließt noch viel Wasser den Fluss hinab?“
Ich trat zwischen den Bäumen hervor und stand unversehens vor einem kleinen Bach. Mein Blick folgte seinem Lauf, bis er hinter einer Biegung verschwand. Und von dort kam, ganz sachte, das Geräusch, das ich gesucht hatte – ein leises, gurgelndes Seufzen.
„Jaa?“
„Folge mir“, rief ich und musste laut lachen, ob der Unsinnigkeit meiner Aufforderung. Ich eilte dem Bachlauf nach und hörte das Gluckern zunehmend lauter werden, bis ich an eine Stelle kam, wo das Wasser zwischen zwei Felsspalten verschwand. Von hier kam eindeutig das Geräusch.
„Wir sind am Schloss“, stellte Morg fest. Und tatsächlich, der Bach verschwand am Fuße der Anhöhe, auf der das Schloss errichtet worden war. Hoch über mir ragten die eingefallenen Mauern in den Himmel.
„Das muss es sein!“, flüsterte ich, nur mühsam meine Stimme im Zaum haltend. „Dann lass uns mal schauen, wo hier ein Eingang... Ah, hier!“
Breite Spalten, zwischen denen das Wasser versickerte, ließen auf einen Hohlraum unter der Oberfläche schließen. „Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, oder?“
„Nein“, stimmte mir Morg zu und umklammerte kurzerhand mit seinen dicken Fingern eine der Kanten. Wir stemmten uns gegen Jahrzehnte hartnäckiger Überwucherung, die schließlich unter widerstrebendem Seufzen kapitulierte. Eine große Felsplatte löste sich aus dem moosigen Untergrund und gab einen düsteren Schlund frei – einen überraschend geräumigen Schlund! Wir schulterten unsere Tasche fester und stiegen hinab.
Das Wasser plätscherte noch ein ganzes Stück an einer rutschigen, glatten Felswand hinab, bis es schließlich zwischen unzähligen kleinen Spalten versickerte. Glücklicherweise bedeutete das nicht das Ende der Höhle, denn ein geräumiger Tunnel führte von hier weiter in den Berg hinein. Und dieser Tunnel, das war offensichtlich, war nicht natürlichen Ursprungs! Die Wände waren zu eben, die Winkel zu akkurat.
„Ist schon alt“, stellte Morg fest und zeigte auf eingestürzte Abschnitte und Ranken, die mit der Rückeroberung des Gewölbes begonnen hatten. Ich nickte und zündete die kleine Fackel aus meinem Rucksack an.
Der Tunnel stellte sich als ein immenser Komplex aus Gängen und Räumen heraus – der gesamte Hügel, auf dem das Schloss erbaut worden war, musste untertunnelt sein! Wie konnte den Erbauern dies nicht aufgefallen sein, wie Yosanna behauptet hatte? Ansonsten gab es hier unten nicht viel: Abgesehen von einigen verblichenen Wandmalereien und verzierten Säulen, hatten die ursprünglichen Konstrukteure kaum Spuren hinterlassen. Sicherlich hatten sich Grabräuber und andere Abenteurer bereits alles zu eigen gemacht, was nicht niet- und nagelfest war. Zu unserem Nachteil bedeutete das aber auch, dass wir länger brauchten als gedacht, um den Komplex zu durchforschen: Einige der Gänge waren eingestürzt, andere endeten in einer Sackgasse, und obendrein war hier unten kaum abzuschätzen, wie weit der Tag – oder die Nacht – vorangeschritten war. Alles, was ich wusste, war, dass wir schnellstens den Raum finden mussten, den Yosanna für die Zeremonie ausgesucht hatte. Die Zeit lief uns davon.
Gerade als ich ein weiteres Mal dachte, mich verlaufen zu haben, hörte ich dumpfe Stimmen durch die Dunkelheit wabern. Ich verortete sie am Ende eines Durchgangs, der bereits weit dem Verfall ausgesetzt war. Wir mussten uns flach auf den Boden herablassen und durch den kalten, nassen Matsch robben, um hindurchzukommen.
„Leise jetzt, ich glaube, wir sind da“, flüsterte ich Morg zu, der stumm nickte. Weiter vorne brachen schummrige Lichtstrahlen durch die Dunkelheit. Ich löschte die Fackel und näherte mich geräuschlos der Stelle.
„...wie geht... vonstatten? ... sage dir... Geduld am Ende!“ Eine gedämpfte, menschliche Stimme.
Wir gelangten an eine brüchige Wand, durch deren Löcher sanfte Lichtstrahlen wie glühende Säulen fielen. Möglichst ohne zu atmen, pirschten wir uns heran und lugten durch einen kleinen Schlitz.
„Ich habe dir doch gesagt-“, das war Zuak, der, von zwei schwer bewaffneten Männern eingerahmt, einem dritten Mann etwas erklärte, von dem ich nur den Rücken sah.
Doch was immer er auch erklären wollte, einer seiner Aufpasser holte mit gepanzerter Hand aus und fuhr ihm beinahe beiläufig, aber kräftig durchs Gesicht. Zuaks Zähne schlugen aufeinander und seine Knie knickten leicht ein.
„Ich bitte um Verzeihung, Patron“, murmelte er benommen. „Ich wollte nicht respektlos auftreten, lediglich darauf hinweisen, dass wir uns gedulden müssen. Dies ist keine exakte Wissenschaft und Mitternacht eher eine grobe Richtschnur als ein genauer Zeitpunkt.“
„Das möchte ich hoffen – um deinetwillen“, antwortete der andere Mann. Er hatte eine seltsame Art zu sprechen, irgendwie nasal und pfeifend.
Aus Zuaks Nase quollen dicke Blutfäden. Wie es aussah, war das nicht der erste Schlag, den er abbekommen hatte: An seiner Schläfe zeichnete sich ein dunkler Bluterguss ab und er stand gekrümmt, sich mit einer Hand die Seite haltend, da.
„Yosanna?“, hauchte Morg in dem Moment, als es auch mir auffiel – keiner der übrigen Menschen im Raum waren Lazar oder Yosanna. Verzweifelt überlegte ich, ob ihnen etwas zugestoßen war oder sie einfach nur irgendwo anders festgehalten wurden. Unser Plan baute aber darauf auf, dass sie hier waren!
„Ich weiß“, zischte ich. „Wir müssen... improvisieren.“ Da war es wieder, das Lieblingswort der Menschen. „Wir warten auf sein Signal.“
In einer fließenden Bewegung wirbelte der Mann, der Zuak bedroht hatte, herum und starrte in unsere Richtung. Hastig schloss ich meinen Mund und hielt den Atem an. Hatte er uns flüstern gehört? Er ging ein paar Schritte auf die Wand zu, hinter der wir uns versteckten.
Er trat in den Schein einer Fackel, sodass ich zum ersten Mal sein Gesicht sah. Der Mann hatte dort, wo Nase, Lippen und Ohren sein sollten, nur verkrustete Narben und gähnende Löcher. Jemand hatte sich wohl mit einem scharfen Messer an seinem Gesicht ausgelassen! Seine entstellenden Narben gaben seinem Gesicht etwas Geisterhaftes.
Mit vor der Brust verschränkten Armen betrachtete er die Mauer. Lediglich bröckelige Ziegel und Jahrhunderte alter Mörtel trennten uns. Ich hätte meinen Arm ausstrecken und ihn packen können. Mit angehaltenem Atem starrte ich ihn an.
Der Mann, den Zuak Patron genannt hatte, streckte langsam seine Hand aus und legte sie auf das uralte Mauerwerk. Beinahe liebevoll liebkoste er es mit einem friedlichen Gesichtsausdruck, der an ihm seltsam maskenhaft aussah.
„Oh großer Yulas, schon bald wirst du auf dieser Erde wandeln“, näselte er leise und ehrfürchtig.
Jetzt verstand ich: Auf der anderen Seite der Wand mussten sich Malereien oder Ähnliches befinden, möglicherweise die von Yosanna erwähnte Abbildung des Gotts der Vasallen. Erneut wirbelte der Mann herum und baute sich vor Zuak. Unendlich langsam bahnte sich die angestaute Luft ihren Weg von meinen Lungen nach draußen.
„Mitternacht ist noch etwa eine Stunde entfernt. Triff deine Vorbereitungen! Und lass‘ nach mir schicken, sobald du bereit bist.“
„Ehrwürder, ähm, Patron, darf ich Euch noch einmal ergebenst bitten, meine beiden Freunde-?“
„Nein. Darfst du nicht. Deine Freunde bleiben genau da, wo sie sind.“ Er kicherte rasselnd. „Schließlich haben die beiden behauptet, du wärst das fehlende Rädchen am Wagen. Nun solltest du auch die hohen Erwartungen erfüllen, die an dich gestellt wurden. Keine Sorge, deine Freunde fühlen sich pudelwohl.“ Patron lachte sadistisch. „Noch.“
Ohne ein weiteres Wort verschwand er durch den rückwärtigen Ausgang. Während die beiden Wachen donnernd ihre gepanzerten Fäuste an ihre Rüstung schlugen, hielt Zuak seinen Blick auf den Boden geheftet.
Dann hatten sie also Lazar und Yosanna irgendwo eingesperrt; zweifellos, um ein Druckmittel gegen Zuak zu haben. Verzweiflung und Panik stürmten auf mich ein. Unser Plan fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen! Ich presste mein Auge wieder an die Mauer und wartete auf irgendein Zeichen von Zuak.
Der hatte damit begonnen, unter den argwöhnischen Augen seiner Bewacher, einen geschäftigen Eindruck zu machen. Er murmelte Dinge in fremden Sprachen laut vor sich hin, malte Symbole auf Wände und Boden, stellte Gegenstände und Apparate verteilt im Raum auf. Ich musste zugeben, dass er ein recht überzeugendes Schauspiel an den Tag legte.
Schließlich blieb er direkt vor der Wand stehen, zog eine Art Brille aus seiner Tasche, setzte sie auf und betrachtete die Wand mit der Malerei, hinter der wir standen. Er drehte an einigen kleinen Rädchen am Gestell der Brille, murmelte wieder etwas und nickte schließlich zufrieden.
Das war das Stichwort für uns. Ich nickte Morg zu, woraufhin er beide Hände über seinen Mund legte und so einen kleinen Resonanzraum bildete. Nun ließ er sein tiefstes, schauerlichstes Grollen ertönen, das er hervorzubringen vermochte. Durch die Hände hindurch und verstärkt durch das Echo der Gänge, erzeugte das ein so bedrohliches Rumpeln, das die beiden Wachen sich erschrocken umsahen.
Der Anflug eines Lächelns schlich sich auf Zuaks Gesicht. Im Gegensatz zu seinen beiden Wachen, die verunsichert an ihren Waffen nestelten, wusste er nun, dass wir auf Position waren.
Er drehte sich auf dem Absatz herum und verkündete großspurig: „Ich habe die Pforte lokalisiert. Husch husch, lauft zu eurem Herrchen und berichtet ihm, dass es losgehen kann!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich wieder zu uns herum und nahm mit zitternden Händen die Brille von den Augen. Die dicken Schweißperlen auf seiner Stirn reflektierten den unheilvollen Fackelschein wie unzählige kleine Spiegel.
Kurze Zeit später hatte Patron offenbar die wichtigsten Figuren seines Kults sowie eine beachtliche Anzahl weiterer Bewaffneter in die Kammer mit den niedrigen Decken geführt. Erstere trugen ausschließlich eine Art zeremonieller Robe mit einer weit in das Gesicht gezogenen Kapuze, sodass von ihren Köpfen nicht viel zu sehen war. Letztere waren, wie auch schon Zuaks Aufpasser, voll gepanzert und bewaffnet, ihre Ausrüstung von überraschend hoher Qualität. Schulter an Schulter standen sie nun da und starrten ehrfürchtig ihren Anführer an. Der hatte sich vor der Wand mit den Malereien aufgebaut und setzte zu einer Rede an.
„Vasallen!“, sagte er mit ruhiger, tiefer, jedoch weit tragender Stimme. Seine fehlenden Lippen ließen es wie Hasallen klingen. „Lange sind wir ziellos durch diese Welt geirrt, haben ohne Sinn und Verstand gesündigt, gestohlen, gemordet. Wir waren verloren und verwirrt, verstoßen und geächtet.“ Er hielt einen Moment inne. „Nun, geächtet sind wir noch immer“, lachte er und seine Jünger stimmten ein.
„Bis zu dem Punkt, als Yulas zu mir sprach. Der unserer chaotischen Energie eine Richtung gab, unserem Streben ein Ziel. Ich weiß, ihr habt gezweifelt. Und zwar zu Recht! Und jedes Mal aufs Neue, wenn ihr zweifeltet, habe ich euch vertröstet; habe eine Offenbarung in Aussicht gestellt, die all das hinfortfegen würde.“ Er drehte sich zu der Mauer, zu uns um. Auf seinem Gesicht, soweit es mit den verunstalteten Gesichtszügen zu erkennen war, spiegelte sich aufrichtige Ehrfurcht.
„Heute ist dieser Tag gekommen. Viele Bücherwürmer und Schreiberlinge haben ihr Leben gegeben, damit wir heute hier stehen können. Ehrt ihr Opfer!“ Er senkte seinen Kopf und schwieg.
„Ehre!“, antworteten die Versammelten im Chor.
Der Mann verwirrte mich. Bereiteten ihm die Leidtragenden seines Wahns tatsächlich Kummer?
„Doch all das“, fuhr er flüsternd fort und hob seinen Kopf, „war es wert. Sie alle haben diese Welt verlassen im Bewusstsein, eine neue Ordnung geschaffen zu haben; das ultimative Opfer für die Erlösung gebracht zu haben“ Er drehte sich feierlich zu den anderen um und breitete seine Arme aus.
„Die Ankunft Yulas‘, dem Gott der Dämmerung. Der uns zu neuer Größe führen wird.“ Er machte eine Pause, um seiner Worte die nötige Wirkung einzuräumen.
„Hexer!“, rief er mit harter Stimme. Zuak erschrak. „Tu es!“
Damit trat Patron von der Wand fort und reihte sich zwischen seinen Jüngern ein, seine ausladende Kapuze über den Kopf schlagend. Er war nun äußerlich kaum noch von den anderen zu unterscheiden. Zögerlich schritt nun Zuak nach vorne, in seiner Hand einen dicken Wälzer fest umklammernd.
„Nun... ähm...“, begann er. Seine zitternde Stimme hallte trocken in dem niedrigen Raum nach. „Wie ich schon sagte, wäre das Ritual wesentlich aussichtsreicher, wenn wir es zu dritt vollführen würden“, stammelte er und rang mit dem Buch in seinen Händen. Patron machte wortlos einen bedrohlichen Schritt auf ihn zu.
„Aber... Aber es wird auch so gehen!“, beeilte er sich, zu beschwichtigen. „Also dann... Haltet euch bereit, denn ich weiß nicht, was aus diesem Portal in unsere Welt kommt.“
Ich spürte mein Herz laut klopfen, meine Hände zitterten vor Aufregung. Zuak wandte sich der Wand und uns, die wir dahinter verborgen waren, zu. Er nickte leicht, als wolle er uns zu verstehen geben, dass er nun ernst würde. Er schlug das Buch auf und hielt es mit viel Pathos in die Höhe. Mit der anderen Hand nahm er eine der Fackeln von der Wand und begann das Ritual.
„Shoschenn ut nedu Oppul... Yulas!“ Er entzündete mit der Fackel eine Kerze auf dem Boden. Wie abgesprochen hieb Morg leicht mit seiner Faust gegen die brüchige Wand, sodass ein wenig Staub und Mörtel herunterrieselte, was die versammelten Vasallen erschrocken zusammenzucken ließ.
„Gut“, flüsterte ich Morg zu.
Er erzeugte ein neuerliches Grollen mit seinen Händen.
„Kaan am Zitenn ut Isfaal.... Yulas!“, rief Zuak und zündete eine zweite Kerze an. Das Stichwort für uns, der Mauer einen zweiten Hieb zu geben.
„Esmalar rimb nulo kazam... Yulas!“
Ein erster Stein flog aus dem Mauerwerk. Ich entzündete hastig die feuchten Holzspäne, die wir mitgebracht hatten. Augenblicklich entwickelte sich dichter Rauch und hüllte uns ein. Jetzt bloß nicht husten! Einige der Vasallen sahen sich inzwischen schon beunruhigt zu ihren Nachbarn um.
„Zammnit il punem junto Destuman... YULAS!“, rief er laut, dramatisch. Der Rauch begann, durch die zahllosen Risse und Löcher der Wand in den Raum auf der anderen Seite zu sickern. Ich stellte mir das Schauspiel auf der anderen Seite vor: Düsteres Grollen, die erzitternde Wand, schwarzer Rauch, der wie ätherische Tentakel aus dem Jenseits nach den Vasallen zu greifen schien. Vier Kerzen brannten bereits auf dem Boden, fehlte noch eine zur Vervollständigung des fünfzackigen Sterns. Ich wollte wirklich nicht in der Haut eines der Jünger stecken. Insbesondere wegen dem, was nun folgte.
„KLATAN... WARET... NOCTUR...“ Jedes einzelne seiner Worte untermalte ich mit einem Hieb gegen die Wand, aus der mehr und mehr Ziegel herausfielen. Morg tat sein Bestes, bedrohlich zu grollen. Plötzlich Stille, wie vereinbart. ‚Die Ruhe vor dem Sturm‘, hatte Zuak uns diesen theatralischen Effekt als immens wichtig eingebläut. Wie beiläufig trat er zur Seite, ging neben der letzten Kerze in die Hocke, und entzündete sie. Das Pentagramm war komplett.
„Yulas“, flüsterte er kaum hörbar, bevor er eilig zur Seite sprang.
„Jetzt, Morg“, flüsterte ich.
Ich spürte, wie er beißenden Qualm tief in seine Lungen einsaugte. Mit dem erschütterndsten, bestialischsten Grollen, das er hervorzubringen vermochte, holte er Schwung und warf sich gegen die Wand. Die losen Ziegel boten kaum Widerstand und flogen in alle Richtungen davon. Wir taumelten durch die Wand und kamen in der Mitte des Pentagramms zum Stehen. Ich tat mein Bestes, es Morg in Sachen akustischer Untermalung gleichzutun. Wir brüllten und stampften, umhüllt von dicken, schwarzen Rauchschwaden. Zufrieden sah ich zwei der Vasallen Reißaus nehmen, andere kauerten sich verschreckt zusammen oder hielten sich die Ohren zu.
„WER WAGT ES, MICH HERBEIZURUFEN?!“, rief ich donnernd und ließ rasend meinen Blick schweifen, um einen möglichst einschüchternden Gesichtsausdruck bemüht. Er blieb an Zuak haften, der in einer Ecke kauerte und wiederum auf Patron zeigte.
„TRITT VOR!“, verlangte ich und machte mich noch ein Stück größer. Patron, so stellte ich besorgt fest, schien kaum beeindruckt von unserer Darstellung zu sein. Er zeigte nicht das geringste Anzeichen von Einschüchterung. Schnell verdrängte ich diesen Gedanken, es gab nun kein Zurück mehr.
Patron befolgte meine Anweisung und kam bis auf drei Schritte auf uns heran. Während er gemächlich seine Kapuze zurückschlug, ging er auf ein Knie und senkte den Kopf.
„Großer Yulas, ich bin dein ergebener Diener.“
„Was für eine Welt ist dies? Und warum hast du mich gerufen?“, donnerte ich und beugte mich über ihn.
„Dies ist die Welt der Menschen. Und mit dir zusammen werden wir sie uns Untertan machen“, rief er ehrfürchtig.
„Mhm.“ Ich legte eine dramatische Pause ein. „Dein Vorschlag ist akzeptabel. Doch ich muss wissen: Es gab da noch jemanden, der mich schon früher kontaktierte...“ Ich tat, als forschte ich in meinem Gedächtnis. „La... zar? Ja, das war sein Name. Wo ist er?“
„Der Alte? Ja, er hat es eine Weile versucht, war aber nicht-“
„Du willst, dass ich mich vor dir rechtfertige, Wurm?“, donnerte ich.
„Sofort, mein Herrscher. Ich führe Euch zu ihm. Wenn Ihr mir folgen mögt?“ Er sprang auf und eilte mit einer tiefen Verbeugung voran. Die restlichen Vasallen konnten kaum schnell genug Platz machen.
Ich warf Zuak noch einen flüchtigen Blick zu, der mir wohl signalisieren wollte, dass alles soweit nach Plan verlief. Ich konzentrierte mich wieder darauf, Patron durch die schmalen Gänge der Ruinen zu folgen, bis wir nach einigen Biegungen schließlich eine Treppe erklommen und in die kühle Nachtluft traten.
„Erzähl mir mehr von deiner Welt, Patron“, forderte ich ihn auf, während wir über einen teils stark zugewucherten Innenhof gingen. Überall sah ich in schwere Rüstung gekleidete Menschen, die brennende Fackeln in den Händen hielten. Es mussten an die hundert oder mehr sein! Ein flaues Gefühl teilte mir mit, dass wir die Vasallen zahlenmäßig wohl deutlich unterschätzt hatten. Sie alle starrten uns an, einige fielen auf die Knie und wimmerten.
„Oh, Ihr werdet sie lieben! Sie ist schwach, voller höriger Subjekte und reich an Leben.“ Er ließ erneut sein nasales Kichern verlauten.
„Gut. Das erfreut mich. Du hast gute Arbeit geleistet. Bist du der Anführer dieser Gruppe?“
„Ja, Herr.“
„Dann sollst du auch Anführer bleiben, sobald wir diese Welt erobert haben. Unter meiner Führung, versteht sich. Ich bin dein Gott.“
„Ja, Herr. Hier ist es.“ Er deutete auf Zugang zu einem weiteren Kellergewölbe.
„Hier haltet ihr ihn fest? Hole ihn her!“
„Sofort“, verneigte er sich und eilte die Stufen hinab, von wo ich ihn ungeduldige Befehle bellen hörte. Das bot uns die Gelegenheit, uns näher im Hof umzusehen. Während Morg weiter giftige Blicke versprühte, versuchte ich die Lage einzuschätzen: Der Hof war umrahmt von hohen Mauern, die unglücklicherweise noch immer gut in Schuss waren. Keine klaffenden Lücken oder eingestürzte Seitengelasse. Die Flucht würde knifflig werden. In jeder Ecke und auf den Mauern waren Wachtposten positioniert, die uns gebannt oder besorgt, in jedem Falle aber nervös anstarrten. Die Anzahl der Wachtposten wurde lediglich noch von Menschen in weiten Roben übertroffen, die in losen Gruppen herumstanden, uns aber ebenso gefesselt anschauten. Die Aufmerksamkeit des gesamten Kults war auf uns gerichtet. Verständlich, schließlich waren wir ihr Gott und alles, was Patron ihnen je versprochen hatte.
„...lasst mich... tut mir weh!“, flehte jemand. Ich drehte mich um und sah Yosanna, die grob von jemandem gestoßen wurde, und einen alten Mann, der nur Lazar sein konnte. Er sah übel geschunden aus, sein Gesicht von Blutergüssen übersät und das linke Ohr eine einzige blutige Kruste.
„Hier sind sie, Herr“, berichtete Patron ergeben.
„Du bist Lazar? Ich hörte deinen Namen... auf der anderen Seite.“
Sein verbleibendes, nicht zugeschwollenes Auge starrte mich zum Teil fasziniert, zum Teil erschrocken an. „J-ja, großer Yulas, das bin ich.“ Es war sicherlich ein Unterschied, von einem Oger erzählt zu bekommen oder ihm leibhaftig gegenüber zu stehen.
Ich nickte gönnerhaft und fuhr an Patron gewandt fort: „Nun dann. Ihr alle werdet mir nun ausführlich von dieser Welt berichten. Aber nicht hier. Ich will mehr sehen.“
„Auf der Stelle. Dort ist das Haupttor, das uns hinausführt. Gerrit, Klaas, mit mir!“, bellte er zwei Bewaffneten zu, die sich eilig neben ihm positionierten. „Wenn ihr mir folgen wollt.“
Wir überquerten den Hof in Richtung des Tors. Ich konnte dahinter bereits den Wald sehen und einen Feldweg, der sich schlängelnd im Grünen verlor. Die Zeit quälte sich endlos langsam dahin, während wir in Richtung Freiheit krochen. Zwanzig Schritt, mehr trennten uns nicht. Ich musste mich beherrschen, nicht anfangen zu laufen.
„Eins noch“, murmelte Patron beiläufig und blieb unvermittelt stehen. „Wenn es euch beliebt, Herr. Ich habe eine Frage.“ Sein skelettartiges Gesicht zeigte das, was wohl ein unterwürfiges Lächeln sein sollte.
„Mach schnell“, willigte ich möglichst ungeduldig ein.
„Wie lautet mein Name?“, wollte er in unschuldigem Tonfall wissen.
„Dein...?“, fragte ich verdutzt, riss mich aber im selben Augenblick zusammen. Ein Gott ist nicht verunsichert!
„Ich kenne deinen Namen nicht. Auch wenn du der Herrscher dieser Gruppe bist, bist du im Vergleich zu mir nur ein Wurm. Das Privileg musst du dir erst erarbeiten!“
Einen Augenblick lang flackerten Zweifel, vielleicht auch Angst in Patrons Augen auf. Doch so schnell wie er gekommen war, verschwand er wieder. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und begann, auf und ab zu wandern.
„Das stimmt. Und doch nanntet ihr mich vorhin Patron. Warum?“ Seine Stimme hatte einen plauderhaften Tonfall angenommen.
Ich spürte mein Herz einen Schlag aussetzen.
„Nun... ich habe ihn von... Lazar“, griff ich verzweifelt nach einer Erklärung. „Er hat dich erwähnt, als er zu mir sprach. Und nicht nur das: Wenn du mir huldigst, mir Opfer bringst, dann entsteht eine Verbindung zwischen uns. Zwischen dir und mir.“
Das ließ ihn aufmerken. Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. Mir schwante Übles.
„So, Ihr seid also bei uns? Ehrwürdiger, wenn es euch nichts ausmacht, in unseren... Zeremonien nutzen wir keine Titel, wie Patron. Wenn Ihr bei uns seid, wisst Ihr doch sicherlich meinen wirklichen Namen?“ Seine grausamen, kalten Augen durchbohrten mich. Jede Ehrfurcht war inzwischen aus seinem Blick gewichen. Auch Lazar, Yosanna und Zuak bemerkten, dass die Stimmung kippte.
Es herrschte eiserne Stille, als das gesamte Schloss auf meine Antwort wartete. Aus den dichten Wäldern drang der einsame Ruf eines Waldkauzes zu uns. Die Augenblicke verstrichen als ich verzweifelt um eine glaubwürdige Antwort rang.
Doch Patron hatte sich längst entschieden. Auf ein winziges Handzeichen seinerseits wurde die Verriegelung des großen Tors ausgelöst, das daraufhin herunterkrachte und den Ausgang versperrte. Von überall hörte ich Bogensehnen, die sich spannten, und Schwerter, die aus Scheiden gezogen wurden. Wir waren gefangen!
„Haltet ihr uns wirklich“, rief Patron, „für so dumm, dass wir noch nie etwas von euch gehört hätten? Hm? Der Oger, der mit der Lintbrut zusammen Heldentaten vollbringt?“ Seine Augenbraue zitterte vor Zorn. „Glaubt ihr im Ernst, wir seien irgendwelche Bauerntölpel, die ihr mit eurem laienhaften Schauspiel täuschen könntet?“ Seine Stimme glitt in ein hysterisches Kreischen ab. „Seid ihr allen Ernstes derart töricht, zu versuchen, die Vasallen der Dämmerung überlisten zu wollen?“ Er baute sich vor uns vieren auf, seine Augen verschossen Blitze des Hasses.
„Aber sei es drum.“ Er atmete tief durch, strich sich bewusst entspannt seine Robe glatt und verkündete an seine Gefährten gewandt: „Sei es drum, ob sich Yulas nun persönlich gezeigt hat oder nicht. Er hat uns das Werkzeug seiner Zerstörung geschickt! Einen Oger, eine brutale Kriegsmaschine, vor der keine Armee, keine Stadtmauer Bestand haben wird.“
Die auf dem Hof versammelten Vasallen brachen in Jubel aus.
„Und er wird uns dienen.“ Patron ging einen Schritt auf mich zu und starrte herausfordernd zu mir auf. „Denn, wisst ihr, wieso er uns dienen wird?“ Er flüsterte: „Wenn er nicht gehorcht, töten wir seine Freunde.“
Mit Grauen beobachtete ich, wie unser Befreiungsplan in sich zusammenbrach und in tausend Stücke zerfiel. Panisch sah ich mich zu den anderen um: Zuak, der ebenso überfordert war wie ich, Lazar, dessen körperliche Verfassung kaum etwas zuließ, und Yosanna, die meinen Blick seelenruhig erwiderte. Überrascht blieb ich an ihr haften. Für den Bruchteil eines Augenblicks verbanden sich unsere Gedanken, kommunizierten wir im Geiste miteinander. Ihre Augen huschten blitzschnell zu den beiden Bewachern neben ihr, dann zu Patron und schließlich zu mir – wir waren uns einig.
„Bitte“, wandte ich mich an Patron, der nach wie vor mit einem irren Gesichtsausdruck drei Schritte von mir entfernt stand und mich anstarrte. „Ich mache alles, was ihr wollt“, flehte ich und ging einen Schritt auf ihn zu, „aber bitte verschont meine Freunde!“
„Wir haben unsere Kriegsmaschine“, brach Patron in höhnischen Jubel aus. Der Rest der Vasallen stimmte ein.
„Natürlich verschonen wir sie... zumindest so lange, wie du für uns mordest und brandschatzt.“ Er kam einen weiteren Schritt auf mich zu, zweifellos um seiner Boshaftigkeit mehr Ausdruck zu verleihen. „Du wirst nie wissen, wo sie sind oder wie sie gefangengehalten werden. Doch du wirst immer eins wissen: Jedes ‚Nein‘ von dir, wird dem Alten hier einen Finger kosten, bei jedem ‚Aber die sind doch unschuldig!‘“, er äffte mich nach, was für allgemeines Gelächter sorgte, „werden wir uns an dem jungen Weib vergnügen – wir alle.“ Die Vasallen johlten. „Bei jedem-“
Weiter kam er nicht, denn ich rammte diesem Scheusal mit aller Wucht meine Faust in die Brust, sodass er mehrere Schritte weit zurückgeschleudert wurde und dort in einem Haufen aus erschlafften Gliedmaßen liegenblieb. Gleichzeitig hörte ich es hinter mir rascheln und gurgeln. Ich wandte mich blitzschnell um und sah Yosanna, wie sie mit einem entwendeten Dolch die Kehle eines Bewachers durchtrennt hatte, der eine blutige Fontäne hinterlassend zu Boden ging. Gerade war sie dabei, mit dem anderen zu ringen, und stieß ihm schließlich mit einem zornigen Schrei die lange Klinge mitten ins Herz. Der guckte überrascht, bevor sich seine Augen verdrehten und auch er tot zu Boden glitt. Das alles geschah innerhalb weniger Augenblicke.
„Zurück zum Gewölbe, los!“, schrie ich die beiden alten Männer an, die wie angewurzelt die ganze Szene betrachtet hatten. Mühselig kämpften sie sich aus ihrer Erstarrung und begannen, in die Richtung zu rennen, aus der wir gekommen waren. Wie aufs Stichwort spürte ich einen Pfeil nah an meinem Ohr vorbeischwirren.
Während wir, meinem Gefühl nach unendlich langsam, auf die Treppen hinab zuhielten, schaute ich mich um und sah Patron, wie er sich mühsam aufrichtend Befehle erteilte. Zweifellos beinhalteten die, uns nicht entkommen zu lassen, tot oder lebendig. Er sah nicht sonderlich glücklich aus. Die Pfeile, die in unsere Richtung abgefeuert wurden, nahmen zu und zielten eindeutig nicht darauf ab, uns am Leben zu lassen. Ich versuchte, die Menschen mit meinem Körper so gut es ging abzuschirmen und spürte dabei, einige Geschosse an meinem Rücken abprallen, andere wiederum dort steckenbleiben. Morg jaulte auf.
„Halte durch, wir haben es gleich geschafft. Kämpfen lohnt sich nicht, verstanden?“ Ich durfte ihn auf keinen Fall in die Raserei verfallen lassen; meine drei Freunde zu beschützen wäre dann unmöglich.
„Ver – au! – standen!“, knurrte er.
Wir hatten den Hof bereits zur Hälfte überquert, als sich uns drei Bewaffnete in den Weg stellten.
„Ihr nehmt die beiden links, ich den rechts“, keuchte Yosanna und wartete nicht auf eine Antwort.
„In Ordnung. Nur die beiden, danach helfen wir Yosanna.“
Morg grunzte zustimmend und verfiel in einen Laufschritt. In den Augen der Männer, die unter den Vollhelmen hervorlugten, konnte ich die Panik sehen, als wir mit Schritten, die den Boden erzittern ließen, auf sie zustürmten; Panik und die Erkenntnis, dass sie einen Fehler gemachte hatten. Noch während sie offenbar mitten in der Entscheidung steckten, ob sie sich uns tatsächlich in den Weg stellen wollten, ließ Morg seine Faust niedersausen. Ein fürchterliches Knacken begleitete den Kopf des einen Mannes dabei, wie er grotesk zur Seite knickte, und sein Körper unmittelbar darauf kraftlos zusammenbrach. Mit einem wütenden Brüllen holte Morg nach der anderen Wache aus, die sich aber flink unter seinem Hieb wegduckte und seine offene Flanke für einen Gegenschlag nutzte. Ein scharfer Schmerz breitete sich von dort aus. Nicht zum ersten Mal am heutigen Tag sehnte ich mich nach meiner Lintbrut-Rüstung, die ich im Wald zurückgelassen hatte.
Morg aber ließ sich davon kaum beeindrucken und holte bereits zum nächsten Hieb aus. Er erwischte den Mann auf dem falschen Fuß und landete einen vollen Treffer, den der noch im letzten Augenblick durch seinen Schild abzuwehren vermochte. Er zersplitterte in tausende Teile. Der Mann wurde durch den Treffer brutal herumgeschleudert, sodass sein Helm davonflog. Das bot mir Gelegenheit, einen schnellen Blick zu Yosanna zu werfen, die Schwierigkeiten mit ihrem Gegner hatte. Es sah nicht so aus, als würde sie ihn überwältigen können.
Gerade als ich Morg darauf hinweisen wollte, richtete sich der am Boden liegende Mann auf und stellte sich uns erneut in den Weg. Er schwankte leicht, sein linker Arm hing schlaff und seltsam verformt herab.
Glaubte er wirklich, er könnte in seinem Zustand noch etwas gegen uns ausrichten?
Meine Frage beantwortete sich jedoch selbst, als ich in sein Gesicht schaute, das bisher von einem Helm verdeckt war. Mir stockte der Atem, denn ich glaubte, Patron gegenüber zu stehen: Dasselbe skeletthafte Aussehen, das geisterhafte Grinsen. Erst einen Augenblick später fiel mir auf, woran es lag. Auch ihm fehlten die Lippen!
„Bring es zu ende, Morg, wir müssen hier weg!“ Diese Fanatiker würden ihrem Anführer in den Tod folgen! Doch Morg musste nicht überzeugt werden. Angewidert holte er aus und wischte den Mann mit der Rückhand zur Seite, wo er noch zwei Schritte über den Boden geschleudert wurde und schließlich liegenblieb.
Wir wandten uns schnell Yosanna zu, um ihr zu helfen. Doch es war zu spät: Der Mann hatte sie überwältigt, hielt sie von hinten umklammert und eine Klinge an die Kehle.
„Ergib‘ dich, Yulas, oder das Mädchen hier stirbt!“, schrie er mit zittriger, aber unnachgiebiger Stimme. Ich schaute mich panisch um, von allen Seiten strömten nun bewaffnete Kämpfer auf uns zu – die ersten von ihnen waren nur noch zehn Schritte entfernt.
„Auf die Knie, ma-“, forderte er, doch etwas unterbrach ihn. Die unter dem Helm hervorblitzenden Augen ermatteten, das Schwert entglitt seiner Hand. Hilflos und schwach griff er mit der anderen an seinen Hals, brach aber kurz darauf zusammen. Sein zu Boden sinkender Körper gab den Blick frei auf Lazar und einen Dolch, der im Nacken der Wache steckte.
Yosanna warf ihm einen schnellen, dankbaren Blick zu und trieb ihn dann vor sich her: „Los jetzt! Ab nach unten!“
„Ihr geht vor, wir schirmen euch ab!“, rief ich im Hagel der auf uns einprasselnden Pfeile. Schmerzlich dachte ich daran, wie viele davon inzwischen in meinem Rücken stecken mussten – und diejenigen, die noch hinzukommen würden. Irgendwann hatten wir die Treppenstufen erreicht und die modrige Dunkelheit des Kellergewölbes empfing uns wie ein schützender Mantel.
Wir nutzten die Nacht, um möglichst viel Abstand zwischen uns und das Schloss der Vasallen zu bringen. So gut es eben ging mit Lazar, der schon seit Wochen in ihrer Gewalt gewesen war, und Yosanna und Zuak, mit denen sie auch nicht gerade zimperlich umgegangen sind.
„Wisst ihr, was ein Igel ist?“, fragte uns Yosanna, während wir uns durch das vom hellen Mondlicht beleuchtete Unterholz schlugen.
„Igel? Nein.“
„Ach, ist auch egal. Wir sollten uns auf jeden Fall bald um deinen Rücken kümmern.“
Zuak kicherte leise.
„Später“, lenkte ich ab. „Wir sind noch nicht weit genug weg. Lazar, hältst du noch durch?“
„Wer, ich? Äh, ja. Ja.“
„Meister, wenn ich es Euch doch sage, Ihr braucht vor ihm keine Angst zu haben“, versuchte sie zu beruhigen.
„Das, äh, sagtest du bereits.“ Er seufzte laut. „Es tut mir leid, Grom, Morg. Es ist einfach nur... ich habe es nie für möglich gehalten, etwas – ähm, jemanden – wie euch leibhaftig zu treffen. Damit muss ich mich erst einmal arrangieren. Ich meine... ist euch nicht klar, was das für uns bedeutet?“
„Nein, aber Ihr werdet es uns bestimmt ausführlich darstellen“, murmelte sie unhörbar.
„Es bedeutet, dass unser gesamtes Weltbild auf Lügen beruht. Die Kirche, der König, alles Lüge. Wenn es neben uns weiteres intelligentes Leben da draußen gibt, dann hat Gott den Menschen nicht nach seinem Ebenbild erschaffen, der König ist nicht sein berufener Stellvertreter auf Erden“, sinnierte Zuak.
„Ja. Wir sind nur ein winziger, irrelevanter Baustein in dem riesigen Gebäude, das das Universum darstellt. Zieht man diesen Stein heraus, passiert wahrscheinlich: nichts“, stimmte Lazar zu.
„Das mag schon sein, Meister, aber ob sich dadurch am Status Quo etwas ändern wird?“, sagte Yosanna. „Ihr wisst doch, was die Kirche sagen wird, oder? Dass die beiden hier eine Ausgeburt des Teufels sind. Oder zumindest irgendwas Unheiliges, wider Gottes Werk. Nein, da wird überhaupt nichts auf den Kopf gestellt. Allerhöchstens wird die Kirche noch mehr Zustrom von verängstigten, abergläubischen Kleingeistern erfahren.“
„Unabhängig davon, wie es die Gesellschaft sieht. Ich für meinen Teil... mich lehrt diese Erkenntnis Demut.“
„Moment mal“, mischte ich mich ein. „Eure Kirche behauptet ernsthaft, dass ihr Menschen die einzig intelligente Lebewesen in dieser und allen anderen Welten ist? Und sehen das als Beweis für eure Göttlichkeit?“ Ich musste schmunzeln.
„Ja, so ist es“, erwiderte Yosanna. „Aber können wir euch jetzt bitte diese Dinger aus dem Rücken ziehen? Dich kann man ja so nicht ernstnehmen, Igel.“
Nun lachten auch Zuak und Lazar leise.
Wir nutzten die Gelegenheit, um nicht nur die Pfeilschäfte aus unserem Rücken zu entfernen, sondern auch einige Augenblicke zu rasten. Insbesondere Lazar war mit seinen Kräften am Ende, wohl bedingt durch sein Alter und die Gastfreundschaft der Vasallen. Doch die Vasallen waren uns nach wie vor auf den Fersen, da machten wir uns keine Illusionen, und so trieb ich die Menschen zur Eile.
Gute zwei Tage später erreichten wir schließlich Wurt, das wir aber links liegen ließen, und stattdessen eine einsame, außerhalb gelegene Hütte ansteuerten. Eine weitere Tagesreise brachte uns dorthin.
„Ihr seid die ersten Besucher, die ich hierher bringe“, murmelte Lazar, als wir uns durch dichtes Buschwerk schlugen und die letzten Schritte zurücklegten. Mit einem Mal standen wir vor einer verfallenen Windmühle, von der im Wesentlichen nur noch die steinernen Außenmauern existierten. Die Natur hatte sich das Bauwerk bereits so weit zurückerobert, dass es unter Schlingpflanzen und Moos kaum noch zu erkennen war – eine perfekte Tarnung. Ich fühlte mich sofort an Zuaks Hütte erinnert und kam ein weiteres Mal nicht umhin, die Ähnlichkeiten der beiden Männer zu bemerken.
„Also hierhin zieht Ihr Euch immer zurück, wenn Ihr Eure Ich-muss-ein-paar-Tage-allein-sein-Phasen habt?“, forschte Yosanna belustigt, die abschätzig das baufällige Domizil betrachtete.
„Äh. Es ist nicht viel, aber es ist meins“, seufzte Lazar sichtlich erschöpft. „Kinder... ich bin am Ende! Verzeiht mir, aber ich brauche Schlaf. Diese Reise hat mich der letzten Reserven beraubt. Fühlt euch wie zuhause.“
„Ist schon in Ordnung. Ruht Euch aus“, sagte Yosanna und geleitete ihn bis zum Eingang, wo er den Arm von ihrer Schulter nahm. „Wir kümmern uns um den Rest. Richtig?“
Ich nickte.
Kurz darauf waren die beiden Männer in einen tiefen Schlaf gefallen. Ihr Schnarchen drang leise zwischen den schiefen Mauern nach draußen. Während Yosanna mit geübten, kraftvollen Handgriffen ein kleines Reh ausnahm, das wir bereits unterwegs erlegt hatten, versorgten Morg und ich unsere Wunden.
„Sehen schon viel besser aus“, urteilte sie und deutete mit ihrem blutigen Messer auf unseren Rücken.
„Ja, unsere Wunden heilen schnell“, lächelte ich. „Die Pfeile machen mir im Allgemeinen nichts aus, aber dieser Schwerttreffer hier...“ Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich den klaffenden, verkrusteten Schnitt behutsam abtastete.
„So wie ihr diese Typen plattgewalzt habt...“ Sie lachte kopfschüttelnd. „Hätte fast gedacht, ihr macht nicht eher Halt, bevor nicht die ganze Burg in Schutt und Asche liegt.“
„Schutt und Asche“, gluckste Morg.
„Du wärst dafür gewesen, klar“, lachte ich. „Aber bei solchen Fanatikern, noch dazu in der Zahl? Nein, das wäre keinesfalls ein sicherer Sieg gewesen.“
„Ich habe mich noch gar nicht bei euch bedankt“, sagte sie unvermittelt.
„Wofür?“
„Na dass ihr meinem Meister geholfen habt. Ohne euch wäre er bestimmt dort versauert.“
„Ach das.“ Ich winkte ab. „Nicht der Rede wert.“
Wortlos fuhr sie mit ihrer Arbeit an dem Reh fort, sich dabei mit der Zungenspitze hin und wieder unbewusst über die Oberlippe fahrend.
Der neue Tag brachte neue Energie mit sich. Auch wenn die Menschen ihre Odyssee noch nicht gänzlich verdaut hatten, sahen sie doch um einiges erholter und lebensfroher aus, als noch am Tag zuvor. Yosanna war bereits früh wach gewesen, um das Fleisch mit verschiedenen Kräutern, Pilzen und Beeren zu einem deftigen Frühstück zu verarbeiten.
„Ich bin vom Knurren meines Magens aufgewacht“, rief Lazar, als er durch die kleine Tür seiner Hütte ins Freie trat. Er rollte seine Schultern und ließ Gelenke knacken. „Gott, ich habe das Gefühl, seit Wochen keine richtige Mahlzeit mehr zu mir genommen zu haben.“
„Wenn ich mir Euch so anschaue“, kommentierte Yosanna sein abgemergeltes und geschundenes Erscheinungsbild, „dann ist das auch nicht allzu weit weg von der Realität.“
Ein verschmitztes Lächeln umspielte seinen Mund. „Ach, Kind, ich habe schon in viel größeren Nöten gesteckt. Ich war ja kurz davor, selbst zu entkommen, bevor ihr aufgetaucht seid.“ Tiefe Lachfalten traten an seinen Augen hervor. „Aber so ging es natürlich leichter.“
„Setzt Euch und esst!“, befahl sie, ohne seiner Prahlerei weiter Beachtung zu schenken.
„Wie Mademoiselle befiehlt“, kicherte er und nahm am Feuer Platz.
„Du auch, Zuak.“
Die beiden ließen sich nicht zwei Mal bitten und luden sich gewaltige Berge Essen auf ihre Teller.
„Sagt mal“, unterbrach ich das Schmatzen nach einer Weile. „Dieser Patron und seine Vasallen, haben die eigentlich alle diese...“ Mir fehlten die Worte, um seine Entstellungen zu beschreiben, und so deutete ich wortlos auf Mund, Nase und Ohren.
„Urks... muss das sein? Wir sind beim Essen!“, stöhnte Yosanna.
„Er hat mir das so erklärt“, gab Zuak hingegen bereitwillig Auskunft. „In der, ähm, Gründungsphase seiner Truppe, war er in eine Situation gekommen, in der seine Autorität auf dem Spiel stand. Da hat er sich kurzerhand entschlossen, unter den Augen aller seiner Jünger sich selbst zu verstümmeln.“
Yosanna warf angeekelt eine halbe Keule auf ihren Teller.
„Danach“, fuhr er unbeirrt fort, „ist er reihum gegangen, hat jedem dasselbe Messer hingehalten und gesagt: ‚Du bist an der Reihe, deinen Beitrag zu leisten. Schenke mir deine Schönheit oder dein Leben.‘ Der erste hat ihn wohl noch für verrückt erklärt, was er mit dem Leben bezahlte. Danach hat jeder gespurt und sich eins der drei Dinge ausgesucht: Lippen, Nase oder Ohren.“
„Gott, ist das krank“, murmelte Yosanna.
„Ja, das ist es. Aber in der Sache äußert wirkungsvoll. Danach konnte er sich sicher sein, bis in den Tod loyale Subjekte unter sich zu haben“, beurteile Lazar beinahe anerkennend.
„Ich hätte mich für meine Ohren entschieden“, bemerkte Zuak nüchtern. „Wobei... als er mir sagte, dass er dieses Geschenk auch von mir erwartete, hat er nicht explizit erwähnt, mir die Wahl zu lassen.“
„Wie dem auch sei! Seien wir froh, dass alles gutgegangen ist“, wechselte Lazar abrupt das Thema. „Was ihr mir noch nicht erzählt habt, warum ihr mich überhaupt aufgesucht habt.“ Er schaute uns der Reihe nach an. „Nicht, dass ich mich beschweren würde.“
„Wir brauchen Eure Hilfe, Meister“, erklärte ich. „Mein Stamm ist von einem Übel befallen, bei dessen Heilung wir auf jede Idee angewiesen sind. Zuak meinte, Ihr wärt der einzige, der helfen kann.“
Lazar zog seine Augenbrauen in die Höhe und schaute zu seinem ehemaligen Schüler. „So so, du glaubst, ich könnte dir noch etwas beibringen? Eine späte Einsicht, aber besser als gar keine.“ Zuak verdrehte die Augen. „Nun denn, lasst mal hören!“
Ich erzählte ihm meine Geschichte, konzentrierte mich dabei auf die Begegnung mit den Keszz, was diese mit uns angestellt hatten, meinen Stamm und dessen momentane Verfassung, sowie den Razsh’ek, den ich als Wurzel allen Übels ausgemacht zu haben glaubte. Lazar hörte sich alles geduldig an, nickte verständnisvoll und zog konzentriert an einer Pfeife, die er zwischenzeitlich aus seiner Tasche gezogen hatte. Hin und wieder ließ er ein „Hmhm“ oder „Ha“ verlauten, beließ es ansonsten aber beim Zuhören. Als ich meine Ausführungen beendet hatte, schwieg er eine Weile und starrte nachdenklich ins Feuer, über dem die Reste des Rehs noch leise vor sich hin brutzelten.
„Verstehe. Ja. Hm hm. Eine üble Geschichte.“ Er lehnte sich zurück, die lange Pfeife im Mundwinkel. „Aber ich kann euch leider nicht helfen, so gerne ich es täte.“
Ich glaubte, mein Herz einen Schlag aussetzen zu spüren. Er konnte uns nicht helfen?
„Was? Äh... nach allem, was wir...? Zuak, du meintest doch...?“ Mein Kopf war leer, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Meister Lazar“, hakte Zuak nach, „geht doch noch einmal in Euch. Gibt es da nichts, nicht den entferntesten Gedanken, der Euch kommt, was dieses Problem angeht? Was ist beispielsweise mit den Werken von Vesumius?“
Lazar schüttelte den Kopf. „Hat sich doch als Fälschung herausgestellt.“
„Die Überlieferungen der Tel-Ahnen?“
„Waren alles Nekromanten. Wir suchen doch etwas, das die Lebenden angeht, oder?“
„Die Legende von Quant?“
„Du sagst es doch schon... eine Legende.“
Zuak schnaufte frustriert. „Dann, ähm, wissen die Druiden vom Auenwald etwas?“
„Ach, das sind doch alles nur bessere Kräuterfrauen.“
„Korporal Schwinn?“, bot Yosanna an, was Lazar aber noch nicht einmal mit einer Antwort würdigte.
„Zum Teufel nochmal!“, rief Zuak und sprang auf. „Es kann doch nicht sein, dass, ähm, wir überhaupt keine Idee haben!“ Unruhig begann er, um das Feuer herumzutigern, eine Hand seinen Bart zwirbelnd, die andere in seiner Tasche zur Faust geballt. „Wir haben hier die hellsten Köpfe in Sachen Mystizismus und Magie versammelt! Wenn es irgendwen gibt, der das entschlüsseln kann, dann doch wir?“
„Ach, mein Junge“, lächelte Lazar den kaum jüngeren Zuak an. „Also hast du doch nichts von mir gelernt. Es gibt keine Magie, keine Mystik in der Welt, keine übernatürlichen Wesen und Phänomene. Es ist alles wissenschaftlich erklärbar – zumindest galt das bisher.“ Sein Blick huschte kurz zu mir, als wären wir der Wendepunkt einer bis dahin unumstößlichen Gewissheit.
„Vielleicht gibt es das in ihrer Welt, der der Oger und Keszz, aber nicht hier. Wir Menschen sind wie... wie Fische, die gerade erst entdeckt haben, dass es jenseits des Ozeans Land gibt. So dumm sind wir, so wenig verstehen wir von unserer Welt! Und nun kommt ihr und fragt uns nach den Sternen.“ Er schüttelt bedauernd den Kopf.
„Nein, wenn es Derartiges in unserer Welt geben sollte, dann nennen wir es Magie gerade weil wir es nicht verstehen – und erst recht nicht beherrschen. Solange ihr keins dieser Wesen mitbringt, das man untersuchen könnte, sehe ich keine Möglichkeit.“
Zuak blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um. Als wäre ihm unvermittelt ein Licht aufgegangen, fischte er etwas aus der Tasche – und förderte den Edelstein zutage, den wir in dem ruinierten Hof bei Etteln gefunden hatten. Er drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, sodass das Licht des Feuers in seinen krude geschliffenen Kanten bunt gestreut wurde.
„Und was ist damit?“, sagte er und schnippte ihn beiläufig in Lazars Richtung, der ihn überraschend geschickt auffing.
Wie einen Schatz betrachtete er den Stein, drehte ihn aufmerksam in seiner Handfläche.
„Hm hm.“
Irgendwann blickte er zu Zuak auf und grinste.
„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“