Wir schafften es, immerhin drei der auf der Karte markierten Punkte zu überprüfen, was sich jedoch schnell als Luftnummer herausstellte: Zwei von ihnen waren derart verfallen und überwuchert, dass die größte Herausforderung darin bestand, den mutmaßlichen Eingang zur Mine überhaupt zu finden, und die dritte Mine endete bereits nach zehn Schritten in der nackten Felswand eines unfertigen Schachts. Offenbar war der Plan, den uns der Statthalter überreicht hatte, nicht mehr sonderlich aktuell.
„Was für eine Scheiße“, murmelte Isengrim mit einem skeptischen Blick zum sich zügig verdunkelnden Abendhimmel. Wir standen verloren um den finsteren Eingang herum. „Dauert nicht mehr lange, dann können wir die Hand vor Augen nicht mehr sehen.“
„Hast recht“, pflichtete Mina bei. „Schluss für heute. Der Platz hier ist so gut wie jeder andere zum Übernachten.“ Der einsame Weg, auf dem wir gekommen waren, führte den Hang hinab und verlor sich irgendwo im Wald. „Wenigstens bietet uns der Schacht Schutz vor dem Nachtfrost.“ Sie klang selbst kaum überzeugt.
Kurze Zeit später hatten wir ein kleines Lagerfeuer im Gange. Die sich darum scharrenden Silhouetten der Menschen warfen zitternde Schatten an die Decke des Schachts. Sie redeten nicht viel und hingen den eigenen Gedanken nach. Lag es an der Kälte, an der wenig erbaulichen Aussicht, eine frostige Nacht im freien zu verbringen, oder lag tatsächlich ein Fluch auf diesem Land?
Ich forschte intensiv in meinen mehr als lückenhaften Erinnerungen an die Zeit bei den Keszz. War mir je, unter den unzähligen Lebewesen, die sie unter ihrem Joch hatten, eine Kreatur begegnet, die einen solchen Effekt auf ihre Umwelt hatte?
„Sagt mal, ihr beiden“, flüsterte Hidda.
„Tÿl!“, fuhr ich vor Schreck zusammen.
Mein plötzlicher Ausbruch erschreckte wiederum sie. „Was ist?!“, quiekte sie und warf suchend ihren Kopf herum.
„Du hast mich erschreckt!“, atmete ich schnaufend durch.
„Was, ich?“ Sie kniff schuldbewusst die Lippen zusammen. „Entschuldige! Aber... du bist doch ein unerschrockener, tapferer Krieger!“
„Was, ich?“, imitierte ich sie zur Retourkutsche.
Hidda kicherte in sich hinein und zog sich ein dickes Fell enger um die Schultern. „Die anderen schlafen schon.“ Sie presste ihren Zeigefinger auf die Lippen und deutete auf die zusammengerollten Gestalten, die am Eingang des Schachts nicht unweit des Feuers lagen.
„Oh. Ich muss wohl...“ Auch Morg atmete ruhig und gleichmäßig.
„Ja, du warst ganz schön ruhig heute abend.“
„Seltsam, ich hätte schwören können, wir sitzen erst seit ein paar Minuten hier.“
„Das macht dieser Ort mit dir“, seufzte sie. „Wenn du nicht aufpasst, lullt er dich ein und lässt dich nicht mehr los.“
„Treffende Beschreibung.“
„Danke.“
Wir schauten eine Weile schweigend den nassen Holzscheiten dabei zu, wie sie friedlich pfeifend in Rauch aufgingen.
„Wie geht es dir?“, fragte sie irgendwann.
„Wie es mir geht? Gut. Denke ich.“
„Fühlst du dich wohl bei uns? Unter den Menschen?“
„Unter euch, der Lintbrut, fühle ich mich wohl, ja.“
„Und sonst nicht?“
„Doch, schon. Es ist nur...“
„Die Blicke? Das Starren? Die Vorurteile?“, sprang sie mir bei.
Ich versuchte, sie möglichst unschuldig anzulächeln.
„Du vermisst dein Zuhause“, stellte sie einfühlsam fest.
„Ja. Und auch nein. Ich vermisse das Zuhause, das wir vor dem Angriff hatten. Ich weiß aber auch, dass die Zeit für immer verloren ist. Nichts, was ich tue, wird das jemals zurückbringen.“ Ein halb belustigtes, halb frustriertes Schnauben entfuhr mir. „Wie lange das schon her ist! Eine gefühlte Ewigkeit.“
„Erzähl‘ mir davon!“ Sie schob sich ihre Mütze tiefer ins Gesicht.
„Ach, da gibt es nicht viel zu erzählen.“
„Mach schon. Es ist wichtig, sich an solche Dinge zu erinnern. So lebt die Zeit in dir fort.“
„Na schön.“ Ich überlegte einen Moment, wo ich anfangen sollte. „Hast du uns schon mal das Wort Tÿl benutzen hören?“
„Ja, das rutscht dir manchmal raus. Ist das euer Gott?“
„Eher eine Art... Urvater unseres Stammes. Mit ihm beginnt unsere Entstehungsgeschichte, kurz nach der Großen Trennung. Das sollte ich vielleicht erklären: In unserer Welt gibt es unzählige Stämme von uns, die wie große Familien untereinander eng zusammenhalten. Einst waren wir ein Volk, wie ihr Menschen, doch dann entstanden Konflikte und unser Volk spaltete sich auf.“
„Die Große Trennung.“
Ich nickte. „Die Beliebtesten scharten ihre Gefolgsleute um sich, gingen fort und gründeten eigene Stämme.“
„Und eurer war Tÿl?“
„Richtig. Seitdem nennen wir uns die Kinder von Tÿl. Die einzelnen Stämme bleiben unter sich. Wir sind uns nicht unbedingt feindlich gesonnen, aber von Vertrauen sind wir weit entfernt. Es gibt losen Handel, hin und wieder Konflikte.“
„Wie lange ist das her? Die Große Trennung?“
„Ach. In eurer Zeitrechnung tausende von Jahren. So lange, dass keiner weiß, ob sich das alles auch tatsächlich so abgespielt hat. Könnten auch genauso gut Märchen sein.“
„Und deine Kindheit?“
„Wir Kinder wachsen nicht unähnlich wie ihr Menschen auf. Familie ist wichtig, wir bleiben ein Leben lang zusammen. Selten zieht es uns in die große, weite Welt. Na gut, ein bisschen ruppiger als bei euch Menschen geht es sicherlich zu, Raufereien, Mutproben, Jagen... sind alle an der Tagesordnung eines Jünglings.“
„Und du warst ein ganz normaler Junge?“ Sie schaute verschmitzt lächelnd zu mir auf.
„Das ist wohl offensichtlich“, grinste ich zurück und deutete auf den schlafenden Morg. „Nein, natürlich nicht. Mein Bruder war schon immer mehr wie alle anderen, konnte sich für dieselben Dinge begeistern. Mir wurde oft mit Misstrauen begegnet...“
Sie seufzte mitfühlend.
„Ist schon gut“, beschwichtigte ich. „Es war nicht allzu schlimm.“
Hidda studierte interessiert erst Morg, dann mich, dann wieder Morg.
„Was ist?“, wollte ich wissen.
„Ach nichts. Ich dachte nur gerade... ihr beide seht euch tatsächlich kaum ähnlich. Man würde nicht denken, dass ihr Brüder seid – wenn ihr nicht gerade, du weißt schon.“ Sie fuchtelte in der Luft herum und bemaß unseren Körper.
„Im selben Körper stecken würdet?“
„Genau.“
Ich folgte ihrem Blick und studierte Morgs schlafendes Auge, die spitz zwischen seinen verschlossenen Lippen hervorstehenden Reißzähne, das kurze Horn, das aus seiner Stirn wuchs.
„Da habe ich mir noch nie Gedanken drüber gemacht. Wir haben aber auch keine dieser Dinger, die ihr Spiegel nennt.“ Ich musste lachen. Welch eine absurde Erfindung so etwas in den Händen unseres Stammes darstellen würde. „Aber du hast recht. Er sieht eher wie ein Oger aus... wie die anderen.“
Ich spürte ihren durchdringenden Blick auf mir lasten.
„Ja. Du hast viel weichere Gesichtszüge.“
„Kein Horn“, schlug ich vor.
„Nur ganz kurze Eckzähne.“
„Doppelt so viele Augen wie er“, grinste ich. „Wobei das auch bei anderen nicht unüblich ist.“
„Du siehst uns Menschen nicht ganz unähnlich.“
„Hey, jetzt wirst du aber unverschämt!“, lachte ich und bewarf sie mit einem kurzen Stöckchen.
Ihre weißen Zähne leuchteten in einem frechen Grinsen auf.
„Aber ich habe mich das schon oft gefragt“, fuhr ich irgendwann fort. „Warum ich so anders bin. Ich meine, mit zwei Köpfen allein wären wir schon exotisch genug, aber dann muss ich auch noch so... anders sein! Meine arme Mutter.“
„Hast du eine Antwort gefunden?“
„Auf meine Frage? Nein, natürlich nicht“, seufzte ich.
„Dann schlage ich vor, du belässt es dabei.“
Ich musste wohl wenig überzeugt ausgesehen haben, denn sie fuhr fort.
„Mein Lehrvater an der Universität hat mir, kurz bevor ich ins Zuchthaus gesteckt werden sollte, eine Geschichte erzählt. Die ist auch ganz kurz, keine Sorge.“ Sie zwinkerte mir zu.
„Es gab einmal vor langer, langer Zeit zwei Schwestern. Beide waren bildhübsch und aus gutem Hause. Als sie beide ins heiratsfähige Alter kamen, wurde die jüngere von beiden von den Pocken befallen, einer üblen Krankheit. Sie überlebte, war aber für ihr restliches Leben mit Narben entstellt. Unterdessen hatte sich ihre ältere Schwester mit Leib und Seele der Balz verschrieben. Männer gaben sich die Klinke in die Hand, um sie zu umwerben und um ihre Hand anzuhalten.
Doch die Ältere, besessen von der Idee, als nun einzige heiratsfähige Tochter des Hauses einen guten Fang machen zu müssen, lehnte Mal um Mal ab. Niemand hatte eine Chance bei ihr. Es hätte schon ein Prinz sein müssen, dass sie sich hätte erweichen lassen.“
„Und die Jüngere, die entstellte?“
„Sie, völlig befreit von jeglichen Erwartungen der Familie an sie, blühte auf. Sie reiste durchs Land und machte, was sie wollte.“
„Und dann?“
„Nun, Jahre, Jahrzehnte später, kehrt die Jüngere zurück nach Hause. Ihre Eltern sind gebrechlich und sterben schon bald, enttäuscht, verbittert und voller Vorwürfe, denn die Ältere ist nach wie vor Jungfrau und unverheiratet.“
Ich wartete auf die Fortsetzung, doch Hidda schwieg.
„Ende der Geschichte“, sagte sie schließlich.
„Verstehe ich nicht.“
„Sieh mal. Der älteren Schwester haben all die Segnungen, die ihr das Leben beschert hat – Schönheit, unzählige Buhler, Reichtum – nichts gebracht. Eher im Gegenteil. Sie wurde unglücklich, trotz all der guten Voraussetzungen. Und die Jüngere, die scheinbar gestraft war vom Leben? Sie machte sich frei von allen Erwartungen und ging ihren eigenen Weg.“
Ich nickte grübelnd.
„Was ich – oder besser: diese Geschichte – sagen will: Verbringe nicht dein Leben damit, über Dinge zu grübeln, die du ohnehin nicht ändern kannst. Keiner von uns hat Einfluss darauf, wie wir dieses Rennen beginnen. Doch, wo wir abbiegen und welche Strecke wir nehmen, liegt allein bei uns.“
Ich schaute in ihre dunklen Augen, wo der Schein des Feuers vor der grünen Iris tanzte, während ich über die Geschichte nachdachte.
Ein Räuspern ließ mich hochschrecken.
„Immer noch wach?“, rumpelte Morg.
Hiddas Blick schnellte zum Feuer. Und auch ich fühlte mich seltsam ertappt.
„Ähm, ja, nein. Wollte eh gerade schlafen gehen.“
„Ja, ich auch“, murmelte Hidda und sprang auf. „Danke für das Gespräch.“ Sie warf mir ein Lächeln zu.
„Ich habe dich ja auch schon mit genügend Fragen belästigt. Was immer du wissen möchtest, du kannst mich, uns, jederzeit fragen.“
Sie öffnete den Mund und schien tatsächlich noch eine Frage zu haben, schloss ihn dann aber wieder und schüttelte den Kopf. „Nein, für heute reicht es. Ich werde mich hinlegen. Wer weiß, welche verrückten Entdeckungen wir morgen machen werden?“
Sie ging einige Schritte auf den Schacht zu, drehte sich dann aber noch einmal um.
„Weißt du, noch letztes Jahr habe ich geglaubt, das größte Geheimnis, das es zu entschlüsseln gilt, ist die Entstehung von Blitzen, wenn es gewittert. Und nun, allein im letzten halben Jahr, habe ich Dinge gesehen, die jedes für sich genommen ein noch viel größeres Geheimnis darstellen.“
„Ich weiß.“
„Unser Geist ist ein Sandkorn“, murmelte Hidda.
„Was meinst du damit?“, hakte ich nach, unsicher, sie richtig verstanden zu haben.
„Ach, nur eine weitere Weisheit meines Lehrvaters. ‚Unser Geist ist ein Sandkorn, unsere Welt ein ganzer Strand.‘ Schlaft gut, bis morgen.“ Damit wandte sie sich um und ging.
Unser Geist – ein Sandkorn? Ich musste mich korrigieren: Zur Improvisation kamen noch Geschichten als zentrales Konzept menschlicher Natur.
Am nächsten Morgen brachen wir in aller Frühe auf, auch wenn Mina länger als üblich brauchte, um die anderen aus dem Schlaf zu rütteln; und selbst dann waren sie zunächst mürrisch und lustlos.
„Was ist denn los mit euch faulen Hunden? Hoch jetzt, wir haben Arbeit zu erledigen!“
Marius schälte sich als letzter mit einem lauten Seufzen aus seiner Decke. Er sah aus wie gerädert, hatte dunkle Ränder unter den Augen und tiefe Falten im Gesicht.
„Mann, du siehst aus, wie ich mich fühle“, frotzelte Rualab. „Hast du dir was eingefangen?“
„Hmm? Ne. Lass mich.“
„Reißt euch mal zusammen da hinten!“, rief Mina, während sie ihre Tasche verschnürte. „Und beeilt euch. Fünf Minuten!“
Es dauerte länger als fünf Minuten, doch irgendwann waren wir unterwegs: die Menschen auf ihren Pferden, wir zu Fuß. Die Nacht war kalt gewesen und hatte ihre Spuren als weißer Überzug auf Wiesen und Feldern zurückgelassen. Die Sonne war kurz davor, über den Horizont zu klettern, und spendete gerade genug Licht, um sowohl die Karte als auch die Landschaft zu erkennen. Wir bewegten uns einen schmalen Feldweg entlang, der rechter Hand von niedrigen Hügeln und linker Hand von dichten Wäldern eingeschlossen wurde. Nur vereinzelte Tiere machten von sich hören: hier der einsame Ruf eines Käuzchens, dort ein kurzes Rascheln im Unterholz. Es war, als hätte sich die Natur der niedergeschlagenen Stimmung angepasst.
„Mina?“, wagte ich, die Stille zu durchbrechen, und schloss zu ihr auf. Sie sah mich wortlos abwartend an. Auch ihr steckte die Nacht in den Knochen, versuchte aber ihr Bestes, es sich nicht anmerken zu lassen. „Geht es allen gut? Ich habe irgendwie das Gefühl...?“, ließ ich meine Andeutung im Sande verlaufen.
„Ja ja, schon gut. Lass‘ uns einfach diesen Stollen finden und dann von hier verschwinden“, knurrte sie und schaute wieder nach vorne.
Ich beschloss, es dabei zu belassen, und reihte mich gehorsam in die Reihe ein.
Es vergingen einige Stunden, in denen die Sonne lediglich erdrückend langsam auf ihren niedrigen Zenit zukletterte. Plötzlich durchbrach Minas brüchige Stimme die mittlerweile bleierne Schwere, die auf allem lastete.
„Hier, hmm, sollte es eigentlich...“ Ihr Blick glitt fahrig zwischen der Karte in ihrer Hand und der Umgebung hin und her. „Ah, da vorne!“ Sie zeigte auf einen breiten Weg, der von unserem in Richtung der niedrigen Hügelkette abging. Hier war eindeutig mit schweren Wagen hantiert worden, worauf die tiefen Spuren im Sand schließen ließen. Sie schüttelte den Kopf, wie um ihn freizubekommen. „Also, Leute, reißt euch zusammen und behaltet einen klaren Kopf!“
Es dauerte nicht lange und wir passierten die ersten Spuren menschlicher Präsenz: achtlos zurückgelassener Unrat, defekte Holzräder mit herausgebrochenen Speichen, provisorische Behausungen, Werkzeuge. Doch auch hier war weder jemand zu sehen, noch zu hören. Die Szenerie machte den Eindruck, als wären die Arbeiter Hals über Kopf verschwunden. Ich sah Pfannen mit verkohlten Essensresten über erkalteten Feuerstellen, zum Trocknen aufgehängte Hemden und ausgerollte Schlafsäcke auf dem Boden.
„Hab‘ kein gutes Gefühl dabei“, murmelte Marius, während wir weiter voranschritten.
„Wir müssen uns auch nicht gut dabei fühlen, wir müssen einfach nur unserer Arbeit erledigen“, erwiderte Isengrim in ähnlich müdem Tonfall. „Scharlatan, kennst du dich mit Bergbau aus?“
Doch Zuak schüttelte nur behäbig den Kopf. Isengrim schien kaum wahrzunehmen, dass sie keine Antwort auf ihre Frage bekommen hatte.
Je weiter wir dem Weg folgten, desto deutlicher traten die Spuren der Bergleute zutage. Große Schneisen waren in den Wald gerodet worden, wahrscheinlich für Brennholz und Baumaterial, und der Boden glich eher einem matschigen Schlachtfeld als einem Wald. Ich war nur froh, dass es gerade heute nicht regnete. Der Weg – oder eher die Schneise der Verwüstung – mäanderte in trägen Kurven den Hügel hinauf und verschwand schließlich im Inneren des Bergs.
„Dort oben muss der Eingang in den Stollen sein. Wenn es Antworten gibt, dann finden wir sie da.“ Mina sprang aus dem Sattel und schlang das Zaumzeug ihres Pferdes um einen nahegelegenen Stamm. Ohne auf uns zu warten, stapfte sie voran den Berg hinauf. Wie hörige Schulkinder taten wir es ihr gleich und eilten hinterher.
Wie ein gähnender Schlund tat sich der Stollen schließlich vor uns auf, als wir zum Ende des Weges gelangten. Die Menschen mussten schnaufend innehalten, um Luft zu holen. Ein wenig irritiert schaute ich mich unter ihnen um, da der Aufstieg normalerweise keine Herausforderung darstellte. Doch ich sah blasse, verschwitzte Gesichter, in die die Sehnsucht nach einem Nickerchen geschrieben stand. Ich sah besorgt zu Morg herüber, stellte aber beruhigt fest, dass zumindest er immun gegen das war, was die Menschen befallen hatte – zumindest für den Moment.
Aus dem Stollen drang kein Zeichen von Leben. Lediglich ein modriger Geruch nach nassem Gestein und das gelegentliche, nachallende Plop eines Wassertropfens.
„Ich will... da nicht... rein“, keuchte Muonn mit dünner Stimme.
„Leckt mich... ich bleib... hier“, stöhnte Marius und ließ sich schwer zu Boden fallen.
„Nein, wir sollten...“ Mina versuchte unter großer Kraftanstrengung, die Müdigkeit abzuschütteln. „Wir müssen aber!“ Sie starrte gedankenverloren in die Finsternis. „Oder?“
„Warum nochmal?“, ächzte Hiskam und ließ schwer seine Tasche von der Schulter gleiten.
„Na weil... weil...“ Minas Stimme verlor sich in der feuchten Finsternis.
„Morg?“, unterbrach ich die allgemeine Trübsal mit fester Stimme. Beinahe wie Donner rollte sie durch den Schacht und wurde von den kalten Wänden zurückgeworfen. Die Menschen zuckten sichtbar zusammen.
„Ja. Wir gehen!“, stimmte er mir zu und zog eine Fackel aus unserem Bündel, in das auch unsere Rüstung und Waffe gewickelt war.
„Folgt uns, ihr Drachenstreichler“, rief ich lachend, was jedoch die Stimmung kaum aufhellen konnte. Immerhin schaffte ich es, zu einigen von ihnen durchzudringen.
Die lodernde Fackel warf unruhige Schatten an die Wände, als wir vorangingen. Bereits wenige Schritte später wurde der Stollen zunehmend niedriger und schmaler, sodass Morg und ich uns alsbald auf unseren Knien fortbewegen mussten. Die spitzen Steine bohrten sich scharf in unsere Haut, was mich aber kaum störte. Ich befürchtete nur, dass wir bald an einen Punkt kämen, wo ich nicht weiter kommen würde. Dann wäre es an den Menschen, den Schacht auf sich allein gestellt zu erkunden. In der aktuellen Verfassung mochte ich mir das nicht ausmalen.
Wir waren inzwischen so tief in den Stollen vorgedrungen, dass auch die Männer schon ihre Köpfe einziehen mussten – für Morg und mich bedeutete das, beinahe wie eine Schlange auf dem Boden entlang zu robben.
„Für uns geht es nicht mehr lange so weiter“, ächzte ich und spürte die rauen Wände, an denen mein Rücken und unsere Arme hin und wieder entlang schabten. Den Gedanken, hier steckenbleiben zu können, klammerte ich bewusst aus. „Die nächste Biegung noch, dann müssen wir umkehren, versteht ihr?“
Ich erhielt keine Antwort, als plötzlich mein Ellenbogen in etwas Weiches fuhr.
„Morg, kannst du mal mit der Fackel hierher...?“, schnaufte ich. Als der diffuse Schein auf den Boden fiel, sah ich, worum es sich handelte: einen leblosen Mann, übel zugerichtet von scharfen Waffen... oder Klauen.
„Nun, wir sind auf der richtigen Spur“, murmelte ich, als mir mit einem Mal ein kaum wahrnehmbarer, goldener Schein hinter der Biegung auffiel.
„Morg, siehst du das auch? Lösch‘ mal die Fackel!“ Das laute Zischen der Flamme, als sich Morgs Pranke darum schloss, sollte einsetzende Finsternis nach sich ziehen, verfehlte jedoch seine Wirkung. Ich konnte nach wie vor die krummen Umrisse der Stollenwände und gelegentlich eingezogenen Deckenbalken schemenhaft erkennen. Etwas gab hier drinnen Licht ab!
„Seht ihr auch, was ich-?“, begann ich, doch mir blieben die Worte im Hals stecken. Als wir uns mühsam um die nächste Biegung arbeiteten, befanden wir uns plötzlich vor einem Teil des Stollens, der offenbar in sich zusammengebrochen war. Doch anstatt auf eine den Weg versperrende, dunkle Wand aus grobem Geröll zu schauen, erspähte ich einen ausladenden Hohlraum. Lediglich zwei Schritte entfernt endete abrupt der staubige Gang in etwas, das einer mit Edelsteinen ausgekleideten Höhle glich.
Ich kroch näher an die instabile Bruchkante heran, um einen genaueren Blick hineinwerfen zu können, und schob meinen Kopf über den Rand. Es war atemberaubend! Der Hohlraum war wohl an die zwanzig Schritte in jede Richtung groß, und etwa zehn in der Höhe. Die Wände waren vollständig mit einem kristallartigen Material überzogen, das den beiden kleinen Edelsteinen, die wir in der Stadt gefunden hatten, verblüffend ähnlich war. Wie kleine Schuppen ragten unzählige glatte Spitzen in den Raum hinein. Ein schwacher, sanft goldener Schimmer zog sich durch sie hindurch und spendete schwaches Licht.
„Wie eine Geode“, murmelte eine dünne Stimme neben mir. Hidda war zu mir an die Kante gekommen. Sie stützte sie Hände auf die Knie und atmete schwer.
„Eine was?“, wollte ich wissen, ließ meinen Blick aber weiter gebannt durch den Raum gleiten. Meine Stimme hallte gedämpft wider.
„So nennen Geologen einen Hohlraum, der von Kristallen eingeschlossen ist. Aber diese hier... ist riesig!“ Sie klang, als hätte ihre Neugier vorübergehend die Apathie in ihr niedergerungen.
„Meinst du, von hier kommt der Stein, den Jesmina bei sich trug?“
„Ja, sicher“, bestätigte sie. „Ich habe so einen Stein noch nie gesehen und hier haben wir auf einmal eine ganze-“
„Psst“, unterbrach ich sie hastig.
Hatte ich eine schwache Bewegung dort unten am Boden wahrgenommen? Auch Morg brummte seine Beobachtung.
„Warte hier“, flüsterte ich und begann, so leise es ging, mich aus dem engen Stollen über die Bruchkante zu schälen – was zugegeben nicht sonderlich leise war. Loses Gestein bröckelte unter unserem Gewicht ab und fiel hell klirrend über die kristallenen Innenwände. Was auch immer sich dort unten bewegt hatte, musste spätestens jetzt von unserer Anwesenheit wissen.
Ich machte keine gute Figur beim Abstieg, denn die glatten Kristalle boten kaum Halt; ebenso wenig machte ich mir keine Illusionen über die Auswirkungen, sollten wir aus fünf Schritt Höhe abrutschen und mit voller Wucht in dieses Bett aus hunderten nadelartiger Auswüchse fallen. Immerhin gab es hier genug Licht, um sehen zu können.
Kurze Zeit später hatte ich festen Boden unter den Füßen. Boden, der sich zwar spitz in meine nackten Fußsohlen bohrte, aber immerhin genug Platz bot, die am gefährlichsten aussehenden Kristalle zu umgehen.
Wieder sah ich schattenhafte Bewegung in den Winkeln meines Sichtfeldes. Morg tastete sich behutsam voran, einen Fuß vor den anderen setzend, für den Fall, dass wir uns unversehens verteidigen würden müssen. Auch wenn wir Oger es gewohnt waren, mit bloßen Händen zu kämpfen, dachte ich in diesem Moment jedoch sehnsüchtig an unseren Streithammer zurück, der behaglich eingewickelt am Eingang des Stollens lag.
Nun mischte sich unter die diffusen Bewegungen auch Geräusche: Scharren, Schlurfen, Schnaufen. Nichts deutete jedoch darauf hin, dass der Versucher dieses Geräuschs irgendwie aufgeschreckt war durch unsere Anwesenheit – und schließlich erkannten wir auch, warum.
Als wir einen letzten, großen Kristall umrundeten, standen wir urplötzlich inmitten einer Szene, die an ein Schlachtfeld erinnerte: Überall lagen tote Körper herum, einige von ihnen Menschen in grober Lederkleidung, andere pelzige Gestalten unterschiedlichsten Körperbaus, wiederum andere waren derart grotesk, dass sie kaum zu beschreiben waren.
„Uhh“, stöhnte Morg, dessen Stimme in diesem Moment eher an ein kleines Kind erinnerte.
„Ich weiß es nicht! Es-“, wollte ich ihn beschwichtigen, doch in diesem Moment schleppte sich ein etwa zwei Schritt hohes Geschöpf hinter einem Kristall hervor. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Schwein, das die Menschen als Nutztier hielten, war jedoch mit Schuppen bedeckt und hatte ein Maul übersät mit scharfen Fangzähnen. Es ließ ein Schnaufen verlauten – das Schnaufen, das wir auch schon vorher vernommen hatten.
Das Wesen blieb stehen und schaute zu uns herüber. Es wirkte irgendwie überrascht. Zumindest für einen Moment, denn es stürzte sich ohne weiter zu zögern auf uns. Morg reagierte blitzschnell und wich dem halbherzigen Sprung des Wesens geschickt aus, holte gleichzeitig im weiten Bogen mit seiner Faust aus und ließ sie krachend auf den Kopf des Geschöpfs herunterfahren. Es knirschte laut, bevor ihm alle vier Beine unter dem Körper nachgaben und es, nach einem letzten, leisen Seufzer, still liegenblieb.
„Was... das... hallo?“, erklang es derart leise von oben, sodass ich kaum etwas verstand.
„Alles in Ordnung!“, rief ich zurück, während Morg sicherging, dass das Wesen auch keine Gefahr mehr darstellte. Meine Stimme hallte gläsern wider. „Gute Arbeit, Morg.“
„Es war müde. Kraftlos. Kein Kampf.“
„Du hast recht. Seinem Aussehen nach hätte es gefährlicher sein müssen.“ Ich ging behutsam weiter, wich unzähligen, bizarren Körpern und verunstalteten Menschenleichen aus.
„Seltsam“, hörte ich plötzlich Minas Stimme hinter mir. Hidda und sie waren uns gefolgt. „Die Menschen, das sind alles Bergleute.“ Sie ging mühsam neben einer der Leichen in die Hocke und atmete erschöpft durch. „Müssen überrascht worden sein von diesen... Dingern. Sie hatten keine Chance, mit ihren Spaten und Spitzhacken.“
„Aber woran sind dann diese Geschöpfe gestorben? Schaut mal, dieses hier.“ Hidda ging neben zwei Kadavern in die Hocke, einem großgewachsenen Tausendfüßler, der im Kampf mit einer weißgefärbte Eidechse erstarrt war. „Der Tod hat sie beide gleichzeitig ereilt. Im Kampf.“ Unter hörbarem Ächzen erhob sie sich.
„Die Bergleute graben also da oben ihren Stollen und stoßen überraschend auf die Geode“, konstruierte Hidda laut. „Freuen sich über ihren Fund, geraten in ihrer Euphorie aber zwischen die Fronten des Scharmützels zwischen diesen Kreaturen.“
„Aber wie sind die hier hereingekommen?“, wunderte ich mich und sah mich suchend nach einer anderen Öffnung als der, durch die wir hereingekommen sind, um. Ohne Ergebnis.
„Da, Rotschwanz!“, brummte Morg auf einmal und zeigte auf etwas, das halb unter einem anderen Kadaver begraben lag.
„Meinst du? Könnte sein, ja“, erwiderte ich und ging zu der Stelle. Ich zog einen der Körper zur Seite und enthüllte tatsächlich einen Rotschwanz. „Du hast recht!“
„Rotschwanz?“, fragte Hidda und kam dazu.
„Sieht aus wie ein Fisch“, mutmaßte Mina.
„Nein, kein Fisch. Rotschwänze gibt es zuhauf in unserer Welt.“
„Gut. Ähm.“ Hidda dachte angestrengt nach. „Also dieses hier kommt aus eurer Welt, ja? Noch etwas, das ihr erkennt?“
Ich ließ meinen Blick schweifen, verneinte aber schließlich.
„Das bedeutet, dass all die anderen hier aus anderen Welten kommen.“ Ich spürte, dass ihr Gedankengang noch nicht zu Ende gedacht war. Irgendwann fuhr sie fort: „Und da es hier, bis auf den Stollen, weder Eingang noch Ausgang gibt, müssen sie hier in diese Welt getreten sein. Also... genau hier!“
Mina, Morg und ich sahen uns skeptisch um, ob irgendetwas ihre Theorie bestätigte.
„Das, äh... bist du sicher?“, murmelte Mina.
„Nein, natürlich nicht. Ist ja nur eine Theorie.“ Hidda klang beinahe beleidigt.
Mina nickte nur wortlos. Sie schien überfordert. „Ich kann hier drin nicht denken“, stöhnte sie schließlich. „Wir müssen raus... brauch frische Luft.“ Sie stolperte voran in Richtung des Stollens.
„Grom, du musst uns in die Stadt zurückbringen, ja?“, sagte Hidda neben mir und sah mich eindringlich an. „Ich weiß nicht... wie zurechnungsfähig wir alle noch sind.“
„Ja, natürlich“, versuchte ich sie zu ermutigen.
„Und“, sie schaute sich fasziniert in der Geode um, blickte traurig zu den Leichnamen der Menschen und schaudernd zu den Kadavern der Wesen. „Wenn wir raus sind, kannst du irgendwie diesen Stollen verschließen? Für den Fall, dass meine Theorie stimmt und dies das Tor – oder eher ein Tor – in unsere Welt ist, soll möglichst alles, was hindurchtritt, nicht weiter als hierher kommen.“
„Stollen. Einstürzen“, nickte Morg und rollte die Schulter.
„Aber“, sie ging einen Schritt auf mich zu und drückte meinen Arm, „passt auf, dass ihr nicht verschüttet werdet.“ Sie lächelte dünn und folgte dann Mina.
Ich warf einen letzten Blick in die Geode, fühlte einen Hauch von Bedauern, diesen faszinierenden Ort der Vergessenheit zu überantworten. Doch Hidda hatte recht, wir durften kein Risiko eingehen.
„Jetzt, Morg, zieh!“, feuerte ich ihn an und beobachtete, wie er sich mit aller Kraft in das Tau stemmte. Seine gewaltigen Arme spannten sich an, die Muskeln pulsierende Wölbungen unter der Haut. Zögerlich folgte Tau seinen Befehlen, bis es mit einem Krachen jeden Widerstand aufgab. Aus dem Stollen, in den das Tau führte, ertönte ein tief rumpelndes Donnern, das den Boden erzittern ließ. Gewaltige Staubwolken stoben aus dem dunklen Schlund, wie ein Drachen, der das Feuerspucken verlernt hatte.
„Das sollte reichen“, murmelte ich zufrieden. Die Erde brauchte noch einige Augenblicke, um sich zu beruhigen, während wir zu den anderen zurückgingen. Als wir in das Lager der Bergleute am Fuße des Hügels zurückkehrten und ich in die Gesichter meiner Gefährten blickte, stellte sich ein wenig Enttäuschung ein. Ich hatte sicherlich nicht erwartet, dass sie augenblicklich zu alter Form zurückkehren würden, doch auf irgendein Anzeichen der Besserung hatte ich durchaus gehofft. Doch sie alle saßen nach wie vor entkräftet und niedergeschlagen auf dem Boden und zupften lustlos an ihrem Gepäck herum.
Lediglich Mina schaute fahrig zu mir auf und fragte: „Ist es erledigt?“
„Ja. Jede Kreatur, die dort unsere Welt – ähm, ich meine: eure Welt – betritt, wird nun nicht mehr weit kommen.“
„Können wir dann endlich diesen verfluchten Ort verlassen?“, flüsterte Marius. „Ich habe das Gefühl... wenn ich noch länger hierbleibe, dass ich...“ Er führte den Gedanken nicht zu Ende.
Mina nickte und erhob sich mit einem schweren Seufzer vom Boden. „Unbedingt. Nichts wie weg.“
In diesem Moment war ich froh, dass die Menschen ihre Reittiere dabei hatten, die gegen die bedrückende Stimmung immun zu sein schienen. Auf sich selbst gestellt hätten meine Freunde womöglich unterwegs aufgegeben.
Wir ließen uns viel Zeit, legten ein gemächliches Tempo an den Tag auf dem Weg zurück in die Stadt. Überrascht stellte ich an einem Punkt fest, dass das Zwitschern von Vögeln an mein Ohr drang; ein Laut, den ich schon den ganzen Tag über vermisst hatte, ohne es zu merken.
Als wir gegen Abend zurück in Etteln waren, war die Sonne bereits vollständig untergegangen und lediglich der Mond spendete ein wenig fahles Licht. Die Fenster der Stadt waren nur vereinzelt erleuchtet, alles wirkte ausgestorben – und doch um Längen positiver und lebensfroher als der Süden, der noch viel stärker unter dem Einfluss des Fluchs stand. Der Fluch, ein Produkt der Geode?
Selbst Morg gab durch ein nonverbales Grunzen zu verstehen, die menschliche Zivilisation ein wenig vermisst zu haben. Unwillkürlich musste ich schmunzeln.
„Tut gut, wieder hier zu sein, oder?“, seufzte Hiskam, der mich von der Seite her beobachtet hatte.
„Ja, es ist wirklich erschreckend“, pflichtete Hidda bei. „Es fühlt sich an, als wäre eine Last von meinen Schultern genommen.“
„Und doch...“, raunte Isengrim. Wir standen vor der Pforte von Gonnos Herrenhaus, das mit seinem kleinen Türmchen hoch in den Nachthimmel ragte.
„Dann wollen wir den Mann mal nicht länger warten lassen, wie?“, beschloss Mina und betrat den kurzen Weg zur Haustür, die sich kurz darauf bereits öffnete und die gedrungene Gestalt des Statthalters offenbarte.
„Ah, die Lintbrut. Was verschafft mir die späte Ehre?“ Er trug eine seltsame Mütze mit einem sehr langen Zipfel und hielt eine kleine Öllampe in der Hand.
„Herr Statthalter, entschuldige die späte Störung. Ich hoffe, wir haben dich nicht aus dem Bett geholt?“ Mina schaute ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
„Nein, nein, ist schon gut. Also sagt, was habt ihr herausgefunden?“
„Nun, leider wenig Erfreuliches.“ Sie begann, detailliert die Vorkommnisse in dem Minenstollen zu schildern, ohne dabei allzu genau auf die Auswirkungen auf sich selbst auszuschmücken.
Der Statthalter verlor zunehmend Farbe im Gesicht, je weiter Mina mit ihren Schilderungen kam. „Was sagt ihr also, dass Schuld an dieser ganzen Misere dieser mysteriöse Stein ist? Und... Ungeheuer, die sich darin tummeln?“
Hidda drängte sich nach vorne. „Alles deutet darauf hin, ja. Wenn sie mich fragen, lief alles so ab“, begann sie und ignorierte dabei den konsternierten Blick, den Mina ihr ob dieser Unterbrechung zuwarf. „Ich vermute, die längste Zeit wurde in diesen Minen nur Kohle zutage gefördert?“
Der Statthalter nickte.
„Nun, irgendwann, als die Kumpel einer Kohleader nachgehend den Stollen weiter in den Berg hineintrieben, tauchten vereinzelt diese seltsamen Steinchen hier auf.“ Sie brachte das Exemplar zum Vorschein, das wir auf dem verwesten Bauern entwendet hatten.
„ Sie glaubten an eine Edelsteinader, als plötzlich vor ihnen die Wand nachgab und sie vor einem gewaltigen Hohlraum mitten im Berg standen – einer Geode. Derartiges hatten sie noch nie gesehen, wussten ab auf der Stelle, dass sie auf einen Schatz gestoßen waren. Die Geode würde sie selbst, ja die ganze Stadt über Generationen mit wertvollen Edelsteinen versorgen und unermesslich reich machen. Natürlich behielten sie ihren Fund fürs erste für sich; man will schließlich erst einmal das ganze Ausmaß von dem verstehen, was man dort gefunden hat. Sag mal, Gonno, diese Jesmina... war die zufällig...?“
Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, worauf sie hinaus wollte. „Die Frau eines Bergmannes, ja.“ Er seufzte laut und fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht. „Als ihr Mann eines Abends nicht nach Hause kam, begann sie, Fragen zu stellen, Nachforschungen anzustellen. Machte einen riesigen Terz, dass niemand etwas unternehmen würde und uns das Schicksal ihres Mannes egal sei.“
„Und? War es das?“, hakte Mina nach. Dem Statthalter waren die Fragen sichtlich unangenehm.
„Nein, natürlich nicht. Aber...“ Er blickte sich flehend um. „Ihr seid doch dort unten gewesen. Wenn das wirklich stimmt, wenn es so ist... wie ihr sagt.“ Er schluckte schwer. „Ich habe sogar einen Suchtrupp geschickt! Auch sie waren für Tage verschwunden; und als sie schließlich mit leeren Händen zurückkehrten, abgemagert und dem Tode näher als dem Leben, hatten sie noch zwei Männer obendrein verloren. Ich wollte kein noch größeres Risiko eingehen und... habe sofort nach euch schicken lassen.“
„So so, und dieses Risiko erschien dir derart groß, dass du uns besser nichts sagtest und uns wissentlich der Gefahr ausgesetzt hast?“ Minas Stimme hatte einen bedrohlichen Klang angenommen. Auch die anderen rückten finster dreinblickend näher an den Statthalter heran.
„Nein, nein, so war es nicht! Bitte. Ich dachte nur... woher sollte ich wissen, dass all das im Zusammenhang steht? Ihr seid doch die Experten, ich dachte, ihr wisst, was ihr tut... wollte nicht mit meinen Annahmen eure Schlussfolgerung beeinflussen.“ Sein Bedauern klang aufrichtig, wenn auch ein wenig einstudiert.
„Sei’s drum, wir haben es überlebt. Also, Jesmina: Was ist dann passiert?“ Minas Zorn hatte sich nicht gelegt, doch sie schien sich bewusst zurückzuhalten.
„Das war die Zeit, in der alles begann, als es rasant schlechter wurde. Täglich fehlte eine weitere Ware auf dem Markt, wurden mehr Menschen krank, verendete Vieh. Nun, stellt euch die Situation vor und dann Jesmina, die dem Wahnsinn nahe wirr auf dem Marktplatz herumirrt und wüste Verwünschungen ausspricht. Da dauerte es nicht lang, und die Leute zählen eins und eins zusammen.“ Er schaute unglücklich drein.
„Und es gab nichts, was ihr tun konntet, richtig?“, warf Isengrim finster ein.
„Es ist alles... sehr unglücklich verlaufen“, seufzte Gonno, bevor er hoffnungsvoll aufschaute. „Aber nun ist es überstanden, richtig?“
Mina zog unschlüssig die Schultern nach oben. „Wir wissen es nicht. Wir haben den Schacht verschlossen, so sollten zumindest keine Scheusale daraus entkommen können. Ob das auch diesem mysteriösen Fluch Einhalt gebietet? Das wird die Zeit zeigen. Bis dahin würde ich dir und Ettelns Bewohnern aber raten, möglichst viel Abstand zwischen euch und den Süden zu bringen.“
Gonno starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Du meinst... die Stadt aufgeben?“
„Wenn es sein muss.“
„Es ist der einzige Weg“, stimmte Hidda zu.
„Moment, halt!“, rief Gonno. „Ihr wollt mir also erzählen, die berüchtigte Lintbrut ist nicht in der Lage dieses Problem zu lösen?“
Mina sah sich zögerlich zu uns um. In jedes einzelne Gesicht stand genau dieselbe Überzeugung geschrieben. „Nein, tut mir leid. Wir haben die Ursache gefunden und geben dir eine Empfehlung zur Eindämmung der Auswirkungen. Aber beseitigen können wir das Problem leider nicht.“
Gonno starrte uns eine Zeit lang an, ohne eine Reaktion erkennen zu lassen. Schließlich strich er ruhig seine Kleidung glatt und nickte kühl. „Gut... gut. So wie ich das sehe, habt ihr damit euren Auftrag, für den ihr angeheuert wurdet, nicht erfüllt. Entsprechend steht euch auch kein Lohn zu.“
Rualab holte aufbrausend Luft, doch Mina wies ihn mit einem Blick zurecht.
„Ich bin aber kein Unmensch und gewähre euch Logis für diese Nacht. Wendet euch an Mert, der wird schon was wissen.“ Sein Gesicht nahm einen gönnerhaften, geringschätzigen Gesichtsausdruck an. „Morgen früh will ich euch aber nicht mehr in der Stadt antreffen. Guten Abend.“ Damit drehte er sich, ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen, um und schloss die Tür hinter sich.
„Arschloch“, murmelte Isengrim.
„Das kann er doch nicht-“, setzte Muonn an, wurde von Zuak jedoch nüchtern unterbrochen.
„Doch, kann er. So gesehen hat er nicht unrecht.“
„Ja, lasst gut sein. Man kann nicht immer gewinnen. Kommt! Ein Bier haben wir uns verdient.“ Mina schielte zu Morg und mir herüber und ergänzte grinsend: „Oder auch fünf.“
„Und dann lasst uns von diesem gottverlassenen Ort abhauen“, murrte Rualab, während wir den Weg zur Straße zurückgingen.
„Nanu?“, kicherte Hiskam. „Die einzige Gelegenheit, bei der ich dich üblicherweise den Namen des Herrn in den Mund nehmen höre, da versinkst du im Dekolletee irgendeiner Dirne!“
„Daran merkst du, wie ernst die Lage ist.“
Wir schlugen einen weiten Bogen gen Osten und je weiter wir Etteln hinter uns ließen, desto besser wurde die Stimmung unter den Menschen. Ich schob das zum einen darauf, dass wir diese schädliche Fluchaura – oder was immer es nun sein mochte – zunehmend weniger Einfluss auf uns ausübte, und dass die Schmach des Scheiterns mit steigendem zeitlichen Abstand weniger auf ihren Gemütern lastete.
Wir rätselten noch lange über die mögliche Natur dieses ominösen Fluchs, insbesondere Hidda schien diese unbeantwortete Frage schlaflose Nächte zu bereiten. Irgendwann schaffte es aber ausgerechnet Zuak, der allenthalben nicht das freundschaftlichste Verhältnis genoss, sie davon zu überzeugen, dass es Dinge in der Welt und darüber hinaus gab, die wir noch nicht entschlüsseln konnten. Er bewies erstaunliches Fingerspitzengefühl dabei und schaffte es so, sie wieder in ihr altes selbst zu verwandeln.
Die letzten Zweifel fegte unser Auftrag in Immerhain hinfort, bei dem wir zu alter Form zurückfanden. Es ging dabei um wenig Außerweltliches, sondern schlicht um einen eifersüchtigen Ehemann, der seinem mutmaßlichen Nebenbuhler Salz auf die Felder streute. Wir kamen ihm auf die Spur und überantworteten ihn der Hand des Gesetztes. Kein Stoff für Sagen, aber immerhin riskierten wir nicht unseren Kragen dabei.
Und so waren alle gut gelaunt, als wir, zwei Wochen nach der Schmach von Etteln, mit frisch gestärkten Egos nach Süden in wärmere Gefilde aufbrachen.