Tage vergingen, in denen wir beinahe apathisch unser Dasein in der dunklen Zelle fristeten. Ich fühlte mich, als hätte jemand meinen Kopf von innen ausgehöhlt und den Inhalt irgendwo zum Waschen abgegeben. Ich wusste nicht, wo er war oder in welchem Zustand er zurückkommen würde; nur, dass da, wo einst mein Ich, meine Identität gewesen war, nun ein riesiges, brachliegendes Feld war, über das nichts als Staub und tote Blätter wehten.
Morg ging es nicht anders. Irgendwann hatte auch er verstanden, was die Königin gesagt hatte. Doch hatte er es auch begriffen? All die Konsequenzen und zerrüttenden Folgen, die daraus resultierten? Ich glaubte es nicht. Wie konnte er auch? Ich begriff es ja selbst noch nicht einmal!
Die Königin hatte seitdem keinen Versuch mehr unternommen, mit uns Kontakt aufzunehmen. Wozu sie uns diese Sonderbehandlung zukommen ließ, was sie mit all ihren Offenbarungen und... Zärtlichkeiten bezweckte, war mir nicht im Geringsten klar. Nun, um ehrlich zu sein, war es mir auch einerlei. Erwähnte ich schon, dass mein Kopf einer Einöde glich?
Jeder Widerstand in mir war zerbrochen. Ein klappriger Menschengreis hätte in diesem Augenblick mit einer Waffe in unsere Zelle treten können, mit der Absicht uns umzubringen, und ich hätte keine Gegenwehr geleistet.
„Vielleicht war es ja das, was sie bezwecken wollte“, murmelte ich vor mich hin und lachte leise.
„Hallo?“
„Ja, Morg. Ich bin noch da“, seufzte ich, die unendliche Schwere fesselte meine Zungen an den Gaumen.
„Hä? Was willst du?“, brummte er.
„Hmm? Du hast doch hallo gesagt. Ach, ist auch egal.“
„Hab ich nicht.“
Ich hob unendlich mühsam meinen ja eigentlich leeren Kopf und schielte zu ihm herüber.
„Hast du nicht?“
„Nein, hat er nicht“, flüsterte jemand.
Ich kniff meine Augen zusammen und versuchte, in der Dunkelheit etwas auszumachen. Doch ich sah nur unsere Zelle, das kleine Guckloch in der Wand und dahinter gähnende Dunkelheit.
„Wer bist du?“, fragte ich ins Ungewisse.
„Dahla schickt mich.“ Eine männliche Stimme, erdig gedämpft, rau und tief.
„Sullains Generalin?“ Ich war überrascht. „Wie bist du hier unentdeckt reingekommen?“
„Sagen wir... nicht nur die Menschen wehren sich gegen die Eindringlinge. Das Land genauso.“
Was für eine kuriose Formulierung. Ich wartete auf eine weitergehende Erklärung, doch der Mann schwieg.
„Gut. Und jetzt?“, wollte ich von ihm wissen.
„Und jetzt hole ich euch hier raus.“ Er zögerte. „Könnt ihr... ich meine, seid ihr ihr selbst?“
„Was meinst du?“
„Nun... all die anderen von euch sind... nicht mehr auf unserer Seite.“
Razsh’ek, schoss es mir durch den Kopf. „Oh, richtig. Ja, für den Moment sind wir wir selbst. Nur-“
Ein gedämpftes Rumpeln unterbrach mich und die Blockade unserer Zelle schob sich behäbig zur Seite. Der Weg war frei.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte Morg.
„Ja, genau. Wie?“, schloss ich mich seiner Frage an, als wir durch den niedrigen Durchgang traten.
„Halt!“, gebot der Mann, den ich nach wie vor nur schemenhaft erahnen konnte. Ich hielt inne. „Hast du das Armband noch?“
Ich blickte auf die solide, klimpernde Metallkette mit dem eingepassten Edelstein, die an meinem dicken Unterarm irgendwie filigran aussah. Ich nickte in die Dunkelheit. „Ja.“
„Wirf es weg“, sagte die Stimme.
„Aber... meine Magie-?“
„Hör zu, wir haben keine Zeit für Diskussionen. Tu es einfach!“
Ich starrte das unscheinbare Ding an, zögerte einen Moment. Sollte ich wirklich etwas so Mächtiges einfach aufgeben? Kurzerhand riss ich es ab und warf es zurück in die Zelle. Leise klimpernd prallte es von der Wand ab und blieb in einer Ecke liegen.
„Was machst du denn?“, rief Morg und schaute dem Ding hinterher.
„Einen Versuch ist es doch wert, oder nicht? Ist ja sowieso nutzlos, meine Kräfte sind fort.“ Ich gestikulierte der dunklen Gestalt zu und forderte sie auf, voranzugehen.
„Und nun?“, flüsterte Morg.
Die Gestalt antwortete nicht, sondern huschte lautlos voran, ihre Füße verursachten noch nicht einmal ein Flüstern auf dem staubigen, festgetretenen Boden.
„Wir werden sehen, wo uns das hinführt“, gab ich zurück und lief los.
Wir schlugen eine andere Richtung ein als die, die wir vor einigen Tagen genommen hatten und zur Königin geführt hatte. Es fühlte sich an wie die entgegengesetzte Richtung, doch auch dieses Mal hatte ich bereits nach der dritten Biegung die Orientierung verloren. Es konnte genauso gut jede andere Richtung sein.
„Ich hoffe, du weißt, was du tust“, flüsterte Morg, doch der Mann schwieg. War er wirklich der, für den er sich ausgab? Oder ein weiterer perfider Trick der Königin, zu welchen Zweck auch immer?
Ich ließ es geschehen, gab mein Schicksal vollkommen in die Hände der dunklen Gestalt. Wir huschten durch unzählige, heiß-stickige Gänge, die teils so niedrig wurden, dass wir uns auf allen vieren fortbewegen mussten. Immer wieder fiel mir mit Erstaunen auf, wie riesig dieses unterirdische Netz war. Die Königin musste schon vor langer Zeit in dieser Welt angekommen sein, noch lange bevor sie sich uns das erste Mal zeigte. Sie hatte genügend Zeit gehabt, uns ihre Falle zu stellen.
Irgendwann wurde der Tunnel, durch den wir uns bewegten, enger und rauer, weniger gut ausgebaut. Er fühlte sich wie ein Ausläufer an, der nie fertiggestellt worden war.
„Hier ist es“, flüsterte der Mann und deutete schemenhaft an die Decke.
„Ich fasse es nicht! Woher hast du das gewusst?“
Durch den Durchbruch in der Decke entdeckte ich funkelnde Sterne.
„Na los, raus mit euch!“, trieb er uns an.
Wir zwängten uns durch den Schacht, der uns einige Schritt senkrecht in die Höhe führte, an dessen Ende wir aber schließlich von der eiskalten Nachtluft empfangen wurden. Unser Körper dampfte, als der von Anstrengung und Hitze hervorgerufene klamme Schweiß langsam trocknete.
Wir hielten uns tief, um nicht von möglichen Keszz-Patrouillen entdeckte zu werden. Doch wir waren allein, der Schacht hatte uns bis kurz vor den Waldrand geführt.
„In Ordnung, niemand hier“, flüsterte ich in das Erdloch hinein.
„Folgt dem Nordstern für etwa eine halbe Meile, dort findet ihr Dahla und die anderen. An einem kleinen Tümpel, ihr könnt es kaum übersehen“, tönte es daraus hervor.
„Ja ja, schön und gut. Komm jetzt!“
Von irgendwo hallte mit einem Mal ein lautes Krächzen über die kahle Ebene. Dessen Echo zerschnitt die nächtliche Stille wie ein Beil.
„Scheiße, sie kommen. Mach jetzt!“, rief ich leise in das Loch hinein. Ich streckte dem Mann meine Hand entgegen.
Keine Antwort.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Wir müssen hier weg, du Idiot!“, drängte Morg.
Ich stierte noch einen Augenblick lang in das gähnende Loch, in dem keine Bewegung zu erkennen war. Der Halbmond schickte lediglich sein diffuses, blasses Licht zur Hilfe.
„Hey!“, zischte Morg.
„Ja, ist ja gut. Ich dachte nur...“ Ich riss mich von dem Anblick los und wandte mich um. Der Nordstern funkelte hell und kräftig und überstrahlte seine Brüder um ein Vielfaches. „Dann los!“
Wir schlugen uns geduckt in den Wald hinein. Die prickelnde, kalte Nachtluft fühlte sich an, als würde ich seit einer sehr langen Zeit das erste Mal wieder richtig atmen. Sie belebte meinen Geist und gab mir Hoffnung. Ich musste lachen, dass etwas, das man als so selbstverständlich hinnimmt, einen so großen Effekt hat.
„Manchmal mache ich mir Sorgen um dich, Bruder.“
„Riechst du sie nicht, spürst du sie nicht? Freiheit, Morg!“
„Die wir nur sehr kurz werden genießen können, wenn du deinen Lachanfall nicht unter Kontrolle bekommst.“
Er hatte ja recht. Ich versuchte, meine Emotionen soweit es ging zu unterdrücken, und mich nur auf den Weg zu konzentrieren.
Wir kamen zügig voran. Trotz unserer von der Gefangenschaft eingerosteten Gelenke, umgingen wir flink trockene Hölzer und setzten unsere Füße genau dorthin, wo sie am wenigsten Lärm verursachten. Irgendwann umrundeten wir schließlich einen großen Baum und standen vor dem Tümpel, den der mysteriöse Fremde erwähnt hatte.
„Was ist?“, wollte Morg wissen.
„Wir sind da!“
Er schaute sich ratlos um. „Wo?“
„Dies ist der Tümpel! Hier irgendwo müssen die anderen ihr Lager aufgeschlagen haben.“ Ich spähte angestrengt in die Dunkelheit.
Plötzlich surrte etwas mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luft. Im letzten Moment zog Morg seinen Kopf zur Seite und das Etwas bohrte sich hinter uns in den Baumstamm.
„Und du bist dir sicher, dass das Freunde sind?“, fluchte er und ließ sich in einen geduckten Lauf fallen.
„Nun... äh...“
„Na toll.“
Wir umrundeten den Tümpel, geschmeidig wie eine Katze, und näherten uns der Stelle, von der aus das Projektil abgefeuert worden war. Irgendwo weiter vorne entdeckte Morg zwei Gestalten, die hinter einem Busch auf der Lauer lagen.
„Hastn erwischt?“, flüsterte eine davon.
„Denk schon. Geh‘ mal nachsehn, ich geb dir Deckung“, murmelte der andere. Sie hatten uns noch nicht bemerkt.
„Vergisses! Du gehst nachsehn!“, zischte er, seine Stimme gereizt.
„Bist bekloppt? Ich hab von uns beidn die Waffe!“
„Nicht mehr lange“, raunte der eine bedrohlich und griff kurzerhand zu.
„Loslassen, Freundchen!“
Von da an ging es hin und her, ihre Lautstärke nicht mehr dazu geeignet, einer Entdeckung durch die Keszz zu entgehen. Diese Dummköpfe brachten uns alle in Gefahr!
„Entschuldigung, werte Herren“, räusperte ich mich. Sie erstarrten inmitten ihrer Kabbelei und glotzten mich mit riesigen Augen an. „Aber zumindest den einen Streitpunkt kann ich aus der Welt schaffen. Keiner von Ihnen hat uns getroffen.“
„Keiner“, bestätigte Morg.
Der Mann mit der Waffe, einer Armbrust, quiekte leise auf, riss sie herum und feuerte erneut grob in unsere Richtung. Der Bolzen ging weit an uns vorbei und verschwand im grünen Blätterdach der Tannen.
„Verdammt nochmal, jetzt habe ich aber genug von euch!“, schnauzte ich, entriss ihnen das Schussgerät und packte sie an den Füßen. Hilflos wie zappelnde Fische schleiften wir sie hinter uns her.
„Achtung!“, versuchte einer der beiden eine Warnung abzugeben, unschlüssig, ob er rufen oder flüstern sollte.
Wir durchbrachen dichtes Gebüsch und standen mit einem Mal auf einer kleinen Lichtung. Ein winziges Lagerfeuer in der Mitte spendete gerade genug Licht, um zu erkennen, dass etwa dreißig Menschen hier waren. Sie alle schauten überrascht auf und starrten uns an. Einige sprangen auf und griffen zu den Waffen. Mühelos hielt ich die beiden Männer an ihren Füßen in die Höhe, wie um den Menschen meinen stolzen Fang zu präsentieren, und warf sie schließlich sanft zu Boden. Die beiden rappelten sich hektisch auf und gingen stolpernd auf Abstand.
Morg und ich ließen unsere Blicke schweifen, kaum ein Gesicht kam mir bekannt, geschweige denn freundlich, vor.
„Ihr solltet dringend an der Disziplin eurer Wachtposten arbeiten“, murmelte ich.
„Er, äh, spricht mit uns! Feldwebel, was sollen wir tun?“, raunte einer der Soldaten in meiner Nähe, der seine im Mondlicht funkelnde Lanze zitternd auf mich gerichtet hielt.
„Könnte eine List sein! Du weißt, was die anderen mit uns gemacht haben“, antwortete jemand von weiter hinten.
„Wovon sprecht ihr da? Ich muss mit der Generalin sprechen“, forderte ich.
„Woher weiß er von-?“, stotterte der Soldat mit der Lanze.
„Diese Stimme! Das ist doch...!“, rief plötzlich jemand von irgendwo. Eine schmale Gestalt stolperte zwischen den Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite hervor und starrte mich an. Mein Herz machte einen Sprung. Die Stimme kannte ich doch.
„Du bist es! Ihr lebt!“
Hidda rannte auf uns zu und fiel uns überschwänglich in die Arme, so gut es mit ihren kurzen Ärmchen eben ging. Ich traute mich kaum, sie zu drücken, so zerbrechlich sah sie aus.
„Und du!“, erwiderte ich überglücklich. Ich hatte kaum noch damit gerechnet, jemanden lebend wiederzusehen.
„Es sind Morg und Grom!“ Das war Hiskam.
„Sie leben?“, folgte nun auch Mina, und drückte im Vorbeigehen die Lanze des Soldaten zu Boden. „Wurde auch langsam Zeit, dass ihr auftaucht. Genug Zeit habt ihr euch ja gelassen.“
„Die Lintbrut!“, lachte Morg. „Ihr hier?“
Das freudige Wiedersehen färbte auf alle Anwesenden ab, denen sichtbar die Spannung entwich. Der Feldwebel befahl irgendwas, doch ich hatte nur Augen für meine Freunde.
„Wo sind Rualab und Marius?“, grinste ich sie an.
„Haben es nicht geschafft“, murmelte Isengrim konsterniert.
„So wie viele andere auch nicht“, mischte sich der Feldwebel ein, der dazugekommen war. „Ist ja ‘ne ganz tolle Wiedervereinigung, die ihr hier feiert, aber ich finde, wir sollten denen nicht einfach so vertrauen.“ Er stierte mich mit zusammengekniffenen Augen an.
„Mann! Die beiden sind unsere engsten Verbündeten. Sie haben die ganze Zeit auf unserer Seite gekämpft, haben sogar die Taktik mit uns ausgearbeitet“, gab Mina zurück.
„Umso mehr ein Grund, misstrauisch zu sein. Diese ganze Scheiße hier ist also euer Verdienst?“
„Wenn ich auch mal etwas sagen dürfte?“, unterbrach ich die beiden, die sich gerade bereit machten, in eine handfeste Konfrontation einzusteigen. „Ich muss mit der Generalin sprechen. Sie hat uns schließlich da rausgeholt.“
„Sie hat was?“, stutze Morg.
„Wo ‚rausgeholt‘? Wo seid ihr überhaupt die ganze Zeit gewesen?“, wollte Mina wissen.
„Alles unwichtig! Können wir euch vertrauen, will ich wissen!“, drängte der Feldwebel nach vorne.
„Was hat denn dieser Aufruhr zu be-?“, unterbrach eine weibliche Stimme den Ansturm der Fragen. Es fuhr ein Ruck durch alle Soldaten, als Generalin Dahla auf die Lichtung trat. Sie erstarrte in der Bewegung und versuchte, die Szene einzuordnen, die sich ihr bot. Schließlich kam sie wohl zu dem Ergebnis, dass alles – zumindest für den Moment – seine Ordnung hatte, und gesellte sich argwöhnisch zu der kleinen Menschentraube, die sich um Morg und mich gebildet hatte. „Ich kenne euch doch. Zwei Köpfe, unverkennbar.“
„Morg und Grom, Generalin.“ Wir deuteten ein Nicken an. „Ihre Rettungsaktion war erfolgreich“, sagte ich, vor Dankbarkeit strahlend.
„Meine... was?“, stutze sie und starrte uns irritiert an.
„Na der Mann, den Ihr geschickt habt, um uns zu befreien“, erläuterte ich und schob hinterher: „Aus dem Kerker der Keszz!“
Nicht der geringste Anflug von Erkenntnis spiegelte sich in ihrem Gesicht. Ihr Kopf flog herum, wie um eine Antwort von ihren Leuten einzufordern, ob jemand diese verrückten Behauptungen mit Sinn füllen konnte. Doch niemand konnte.
„Wir haben niemanden geschickt. Zum Teufel, wir wussten doch nicht einmal, dass ihr beide überhaupt noch lebt!“
„Aber... wer hat uns dann befreit?“, stotterte ich.
„Was meinst du damit?“, fragte Morg.
„Na der Mann, der unsere Zelle geöffnet hat! Wer war das?“
„Mann?“
Ich starrte ihn wortlos an. „Was soll das heißen? Du hast ihn doch gesehen? Hast selbst mit ihm gesprochen!“
Morg schüttelte den Kopf. „Ich wusste doch, du hast den Verstand verloren.“
Es stellte sich also heraus, dass es diesen Mann nur in meiner Vorstellung gegeben hatte. Morg behauptet steif und fest, nicht mit ihm, sondern immer nur mit mir gesprochen zu haben.
„Du warst auch nicht unbedingt ansprechbar“, sagte er. „Hab nur die Hälfte von dem verstanden, was du da vor dich hingebrabbelt hast.“
„Aber, bei Tÿl, wie sind wir dann aus dieser Zelle herausgekommen? Wie haben wir durch dieses verdammte Labyrinth gefunden?“, forderte ich von ihm.
„Was weiß denn ich? Du bist doch hier der Neunmalkluge von uns beiden!“
„Worüber sprecht ihr?“, flötete Hidda und setzte sich zu uns ans Feuer.
„Ach“, winkte ich ab. „Versuchen nur, diesem ganzen Wirrwarr Sinn zu verleihen.“
„Erfolgreich?“ Tiefe Grübchen bildeten sich auf ihren Wangen.
„Nee“, konstatierte Morg.
Ich ließ meinen Blick im Lager umherschweifen. Die Menschen hatten ihre Aufgaben wieder aufgenommen, die unsere Ankunft unterbrochen hatte. Hin und wieder ernteten wir noch einen verstohlenen, misstrauischen Blick, doch im Allgemeinen schien es, als hätten sich alle mit unserer Anwesenheit arrangiert.
„Erzähl mal!“, forderte ich sie auf. „Was ist überhaupt passiert? Wo sind all die anderen?“
Sie seufzte tief, eine bedrückte Sorgenfalte in der Stirn. „Ach. Nachdem sie uns festgesetzt hatten, da unten in der Schlucht, war die Schlacht ziemlich schnell vorbei. Aus jeder Ecke kamen sie, die ganze Lichtung war übersät mit ihnen. Noch dazu haben sich... eure Leute gegen uns gewandt.“
Ich starrte sie ungläubig an.
„Erst waren sie wie versteinert, dann haben sie sich auf die Seite der Keszz geschlagen.“
Sie zuckte unglücklich mit den Schultern.
„Es war ein Gemetzel, unten in die Schlucht genauso wie oben. Die Kapitulation kam schnell. Danach haben sie uns zusammengetrieben wie Vieh und-“ Ihre Stimme brach. Mit feucht glänzenden Augen starrte sie in die kleine Flamme.
„So viele Tote, Grom“, flüsterte sie irgendwann. „Nur wenige haben es geschafft.“
Ich legte ihr sanft meine Hand auf die Schulter, in der sie beinahe verschwand. Seufzend schmiegte sie sich an. „Wir hier, unsere Gruppe um die Generalin, haben es irgendwie geschafft, uns davonzustehlen, als sie uns in den Bau hinein schaffen wollten.“
„Und dort sind die anderen Überlebenden jetzt?“
„Vermutlich.“
„Und seitdem haltet ihr euch hier versteckt?“
Sie nickte. „Hin- und hergerissen. Wir wollen die anderen befreien, wissen aber, dass wir es nicht mit den Keszz aufnehmen können.“
„Und der Fürst, Sullain?“
„Nichts gehört.“
Wie ich befürchtet hatte. Wir schwiegen uns eine Weile lang an.
„Es war Verrat, Hidda“, sagte Morg irgendwann.
„Was meinst du?“
Er erzählte ihr von Zuak, wie er Lazar hinterrücks ermordet hatte, und von seinem Geständnis, das er im Kerker abgelegt hat.
„Er war es also?“, stotterte sie. „Die Menschen, sie schieben euch Ogern die Schuld zu, wisst ihr? Denken, ihr habt die ganze Zeit mit verdeckten Karten gespielt; uns absichtlich diese Strategie aufgeschwatzt.“
Erst nickte ich, dann schüttelte ich den Kopf. „Das kann ich mir denken. Die Königin hat das geschickt gemacht. Tat so, als hätte sie keine Kontrolle mehr über uns, als wäre der Blutrausch eine stumpfe Waffe geworden.“ Ich überlegte einen Moment. „Vielleicht war es ja auch so – bis zu dem Moment, als wir uns auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden. Und dann hat sie im entscheidenden Augenblick die Schlinge zugezogen.“
„Gut zu wissen“, sagte jemand hinter uns. Ich fuhr herum, hatte ich sie doch nicht herantreten hören, und schaute in Yosannas Gesicht. Sie war auf etwa fünf Schritt herangekommen und hatte eine Art metallenes Rohr mit Holzgriff locker auf ihrer Schulter abgelegt.
„Du lebst!“, rief Hidda.
Ohne mich aus den Augen zu lassen, nickte sie. „Ja. Und die beiden da haben Glück, dass es ihnen nicht anders geht.“ Ihr Blick verriet unverhohlenen Argwohn.
„Es tut so gut-!“, begann ich und sprang von meinem Platz auf, doch sie zückte blitzschnell das ominöse Metallrohr und legte es auf uns an.
„-dich wiederzusehen?“, vollendete Morg.
„Keinen Schritt weiter.“ Ihre Augenbrauen beschrieben steile, ungehaltene Berge.
„Was soll das?“, versuchte ich. „Du hast doch gehört, was ich eben gesagt habe. Es ist die Wahrheit!“
„Ich habe etwa eine halbe Stunde da hinten im Gebüsch gelegen und überlegt, ob ich dir die Rübe wegpuste.“ Sie starrte uns eine Weile an und senkte schließlich die Waffe. „Und denkt dran: Wenn ich auch nur die Spur eines Verrats wittere, dann hole ich das ohne zu zögern nach.“
Ich starrte sie verblüfft an.
„Kapiert?!“, blaffte sie.
„Ja, ja.“ – „Jaaa.“
Sie kam zögerlich zu uns und setzte sich auf die andere Seite des Feuers, die Waffe locker über ihre Knie gelegt.
„Ist das etwa...?“, flüsterte Hidda und deutete darauf.
„Ja, ist es. Tut mir leid, Süße.“ Sie streichelte das Metallrohr behutsam. „Nur eine Spinnerei, bei der mir eure Freundin hier geholfen hat“, erläuterte sie auf meinen ratlosen Blick hin.
„Was ich anfange, zu bereuen“, murmelte Hidda.
„Also. Zuak, sagst du? Dieser kleine Hur-... Hundesohn. Ich wusste doch, irgendwas stimmt mit dem nicht. Diese unterwürfige, wieselhafte Art. Dazu kommt der Bruch zwischen ihm und meinem Meister, worüber keiner von beiden je sprechen wollte. Jetzt ergibt es alles einen Sinn.“
„Wie meinst du das?“, wollte ich wissen.
„Der hatte was zu verbergen, das habe ich geahnt. Wenn wir zusammen unterwegs waren, hat er sich oft heimlich davongestohlen. Darauf angesprochen, wollte er nicht damit herausrücken, was er getrieben hat. Alles in allem sehr verdächtig.“
Plötzlich fiel mir ein Gespräch ein, das ich mit Lazar auf dem Weg Richtung Unholm hatte. Damals, als wir noch voller Zuversicht waren. „Das Armband“, murmelte ich.
„Das deine magischen Kräfte bündelt? Was ist damit?“, wollte Hidda wissen.
„Lazar hat da mal etwas erwähnt. Als er mit Zuak zusammen das Ding erdacht hat, übernahm Zuak die Aufgabe, es mir zu bringen. Er wusste, dass ich es verzweifelt benötigte, um meinen Stamm zur Zusammenarbeit zu bringen. Und doch hat er für einen Tagesritt drei Mal so lange gebraucht.“
„Er hat es manipuliert“, stellte Yosanna nüchtern fest.
„Deswegen hat es nicht funktioniert, als wir der Königin gegenüberstanden.“ Das Ausmaß seines Verrats, seiner Heimtücke wurde mir nur langsam bewusst.
„Verdammter...!“, keuchte Morg mit nur mühsam unterdrückter Wut. Er ballte zornig seine Hand zu einer Faust.
„Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen?“ Ich war sprachlos.
„Nicht nur du, sei nicht so streng zu dir. Jeder von uns“, beschwichtigte Hidda. „Wo ist es überhaupt?“
Ich schaute sie verwirrt an.
„Das Armband.“
„Oh. Ich... hab’s abgerissen und in der Zelle zurückgelassen.“
Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Warum?“
Ich hatte keine Antwort für sie. Warum genau hatte ich es denn getan?
„Der Mann hat es ihm befohlen“, bemerkte Morg mit einem amüsierten Unterton. „Der Mann, den die Generalin geschickt hat.“
Ich warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Es ist irrelevant“, beschloss Yosanna. „Wichtig ist, dass ihr nicht mehr unter ihrer Kontrolle steht. So ist es doch, oder?“ Sie blickte uns eindringlich an.
„Ja“, sagte ich mit fester Stimme.
„Jaa“, antwortete Morg zögerlicher.
„Gut. Dann kann es ja losgehen“, murmelte Hidda.
„Losgehen?“, fragte Morg.
„Was denn?“, schob ich hinterher.
„Unsere Auferstehung“, sagte Mina, die plötzlich mit Hiskam und Isengrim hinter uns stand. Überrascht drehte ich mich um und starrte sie an. „Wie ein Phönix werden wir uns aus der Asche erheben.“
„Die Wiedergeburt der Lintbrut“, ergänzte Isengrim.
„Um diesen Keszz mit Anlauf in den Arsch zu treten“, fügte Hiskam wenig poetisch hinzu.
Alle vier grinsten über das ganze Gesicht.
„Wir brauchen noch Verstärkung, Yosanna“, stellte Mina fest.
Die erhob sich gemächlich und nickte. „Zeit habe ich.“ Ihre Hand strich zärtlich über dieses mysteriöse Rohr, das sie wie einen Säugling in den Händen wog.
„Unsere einzige Chance“, betonte Mina, „besteht nach wie vor darin, die Königin aus der Welt zu schaffen. Eine direkte Konfrontation mit den Keszz können wir vergessen.“
Dahla schaute zu ihr herüber und nickte. „Ich gebe dir recht. Wir sind keine fünfzig Mann. Weder von Valerius noch von Sullain haben wir irgendeine Spur. Wir sind auf uns allein gestellt.“
„Das is doch bescheuert!“, maulte ein Soldat. Ich erkannte ihn als denjenigen, der auf uns geschossen hatte. „Wie soll n das gehen? Einfach an ihre Tür klopfen, ‚Entschuldigung, wir haben da ne Lieferung für Sie?‘“
Die Generalin ignorierte seinen respektlosen Ton und dachte offenbar ernsthaft über seinen Vorschlag nach. „Nein“, beschloss sie schließlich. „Das wird nicht klappen. Weitere Vorschläge?“
„Was ist mit dem Ausgang, den wir genommen haben? Wir könnten uns da hineinschleichen und die Königin überraschen“, schlug ich vor.
„Schon besser. Wie zuversichtlich seid ihr aber, euch dort unten zurecht zu finden?“
Morg und ich seufzten gleichzeitig, was die geringe Zuversicht vermittelte.
„Was ich nicht verstehe“, hakte Mina ein, „warum sie euch überhaupt in eine Einzelzelle gesperrt hat.“
„Noch dazu unbewacht“, ergänzte Hidda.
„Guter Punkt. Was macht euch beide so besonders?“ Dahla hob ihren Blick und starrte uns an.
„Äh“, murmelte Morg.
„Wir wissen es nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern, was die Menschen aber offenbar nicht zufriedenstellte. „Was wollt ihr hören? Wir sind die Häuptlinge, vielleicht liegt es daran?“
Jeder ließ die Stille für sich sprechen. Ich schaute in viele misstrauische Gesichter.
„Ist das euer Ernst? Glaubt ihr, wir stecken mit ihr unter einer Decke oder was?“
„Nein, natürlich nicht“, beeilte sich Dahla, zu beschwichtigen. „Wenn dem so wäre, würde jeden Moment eine Horde Keszz zwischen den Bäumen hervorkommen.“ Sie machte eine unwillkürliche Pause, in der ein verräterischer Blick für den Bruchteil eines Augenblicks in die Dunkelheit zuckte. „In jedem Fall aber“, räusperte sie sich und stützte sich auf ihr Schild, „seid ihr, aus welchem Grund auch immer, lebend für sie wertvoller als tot. Das kann von uns keiner behaupten.“ Sie fletschte grimmig die Zähne.
„Richtig. Und ich glaube, das ist der eine Trumpf, den wir haben. Sie braucht euch lebend“, sagte Mina, „und sie unterschätzt euch.“
„Und sie glaubt, wir säßen immer noch in der Zelle. Ich glaube, wir haben kurz vor... unserer Flucht noch eine Mahlzeit bekommen. Wir sollten also noch ein paar Stunden haben, bevor unser Fehlen auffällt.“
„Gut. Gut“, grübelte Dahla. „Daraus lässt sich doch ein Plan formulieren, meint ihr nicht?“
„Glaubst du, dass das klappen kann?“, wisperte Hidda, die auf einmal neben stand. Ich hatte Morg bereits ins Land der Träume entlassen, währenddessen ich unser Lager hergerichtet hatte und nun unserer Ausrüstung noch einen letzten Schliff geben wollte.
„Natürlich“, versuchte ich ihr ein zuversichtliches Lächeln zuzuwerfen. „Obwohl mir sehr viel wohler wäre, wenn ihr mir den ganzen Plan verraten würdet.“
Sie erwiderte mein Lächeln, gequält, unsicher. „Ich... weiß, aber...“
„Schon gut, schon gut“, lachte ich. „Ich verstehe ja die Bedenken, teile sie sogar. Diese Telepathie, wie ihr sie nennt, verstehen wir ganz einfach nicht. Er hier“, nickte ich in Morgs Richtung, „und ich sind da das schwache Glied in der Kette. Wer weiß schon, wie weit die Königin in unsere Köpfe reinschauen kann?“
Hidda nickte mir dankbar zu. Sie ließ einen tiefen Seufzer fahren. „Kann ich helfen?“
„Oh ja, bitte“, murmelte ich, während ich umständlich nach der Schnalle unseres Harnischs fummelte.
Mit geschickten Handgriffen zupfte sie die Rüstung zurecht und machte sich an den massiven Verschlüssen zu schaffen. „Ich weiß noch, wie ich am Entwurf für die Allererste deiner Rüstungen tüftelte. Mina stand eines Tages vor mir und erwähnte beiläufig, dass die Drachenjäger bald Zuwachs bekommen könnten – und dieses Mal einen selbst für unsere Verhältnisse ungewöhnlichen.“ Sie kicherte leise. „Zuerst hatte ich gedacht, sie will mich veräppeln. ‚Ein Riese, sicherlich drei oder vier Schritt groß!‘ Was für ein Quatsch, sowas gibt’s nicht! Doch als ich die ersten Gerüchte hörte, da wurde mir mulmig zumute.“
„Wegen dieser blöden Geschichte in Augul?“
„‚Blöde Geschichte‘ ist gut! Ihr habt das ganze Königreich in Aufruhr versetzt. Der Gedanke, ich könnte ein blutrünstiges Monster mit neuesten Waffen zu einer noch effizienteren Tötungsmaschine machen, hat mir die eine oder andere Stunde Schlaf geraubt.“
„Und warum hast du es getan?“, wollte ich wissen.
Sie schwieg eine Weile, während sie unter einiger Kraftanstrengung den Harnisch löste. „Ich war mir nicht sicher, bis zum letzten Tag nicht“, murmelte sie. „Habe mir gesagt: Wenn mein Instinkt dagegen protestiert, verstecke ich Rüstung und Waffen und haue einfach ab. Ich war bereit, mich von den Drachenjägern zu trennen.“ Sie klappte die letzte Schnalle auf und umrundete mich. Ich ließ mich auf die Knie nieder und schaute sie fest an.
Schüchtern wich sie meinem Blick aus, während sie so tat, als würde sie die vorderen Schnallen der Rüstung prüfen. Ich beobachtete ihre Handbewegungen, wie sie behutsam und zärtlich über die Gravur des Lintwurms strich.
„Dann sah ich dich. Als ihr vor dem Tor Auguls gestanden habt und um eine Audienz mit Hendrik gebeten habt.“
Sie hob ihren Blick, ihre grünen Augen fingen meinen Blick auf. „Wie ein neugieriges Kind hast du dich umgeschaut, so friedfertig und... und verzückt.“
„Und das hat deine Meinung geändert?“, flüsterte ich.
Sie nickte langsam. „Mein Instinkt sagte mir, dass ich keine Bestie sehe. Sondern eine Kreatur Gottes, wie wir Menschen auch, die nichts anderes sucht als ihren Platz in dieser Welt.“
Ihre Worte sendeten mir einen wohligen Schauer den Rücken hinunter.
„Eine sehr hübsche Kreatur noch dazu“, entfuhr es ihr.
Offenbar war sie selbst überrascht von ihren Worten und ihre Wangen explodierten zu einer tiefen Röte. Hastig versuchte sie, den Moment zu überspielen und sich abzuwenden, doch ich ergriff ihre Hand. Halbherzig versuchte sie, Widerstand zu leisten, gab dann aber doch nach. Ich zog sie zu mir, umschloss sie mit meinen Armen, in denen sie beinahe verschwand. Wenn mein Herz nicht einen derart tosenden Sturm in mir angefacht hätte, hätte ich den Anblick vielleicht amüsant gefunden. Doch alles andere verblasste neben ihrem Gesicht, ihrer zerbrechlichen Statur in meinen Armen.
„Was... machst du denn?“, flüsterte sie schwach, ohne den Blick von mir zu nehmen. Ich spürte ihren warmen Atem auf meinen Wangen. „Wir sollten-“
So behutsam es ging, küsste ich sie. Ich versank in diesem einen Moment, den ich in alle Ewigkeit ausdehnen wollte. Ich blendete Morgs tiefes Schnarchen genauso aus wie die Gefahr, dass einer der Menschen sich zufällig hierher verirren könnte. Es interessierte mich nicht. Alles, was in diesem Moment zählte, was eigentlich schon in jedem anderen Moment davor gezählt hatte, befand sich vor mir, in meinen Armen – und schluchzte zitternd auf.
Erschrocken löste ich mich von ihr. „Es tut mir leid, ich... ich wollte nicht-!“, haspelte ich. Hatte ich ihre Signale etwa falsch gedeutet?
„Nein, nein!“, wisperte sie und drückte mir ihre Hand auf den Mund. Ihre Augen glänzten feucht. „Du hast nichts falsch gemacht... nein, du hast sogar alles richtig gemacht!“ Sie lachte brüchig. „Es ist nur... es ist alles so viel auf ein Mal! Verstehst du? All die Monate habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als das.“
„Hast du?“
„Du bist so ein Idiot!“, lachte sie. „Hast du nicht bemerkt, wie ich dich, wenn wir mit der Lintbrut kampiert haben, von meinem Lager aus angeschmachtet habe?“
„Ich... ähm...“ Meine Gedanken rasten, doch ich konnte plötzlich keine einzige Erinnerung mehr hervorrufen. Mein Kopf war leer. Ich schüttelte bloß den Kopf.
Sie lächelte mich leidenschaftlich an, strich mit ihrer kleinen Hand über meine raue Wange. „Und nun, kurz bevor wir uns in den möglichen Tod stürzen, erfahre ich, dass es dir genauso geht. Verstehst du? Was ist, wenn das die letzten... die einzigen Stunden sind, die wir je zusammen haben werden?“ Sie klang unendlich betrübt.
„Du hast recht. Tut mir leid, Hidda. Ich habe so oft an dich gedacht, und... vielleicht wollte ich es mir nie so recht eingestehen.“ Ich lachte bitter. „Ich meine, schau uns doch an! Ein ungleicheres Paar wie uns wirst du weit und breit nicht finden!“ Betrübt senkte sich mein Kopf gen Boden, zogen sich die Schultern in die Höhe. „Ich hätte schon vor langer Zeit auf mein Herz hören sollen.“
„Hey. Schwamm drüber! Ich bin froh, dass wir es nun endlich geschafft haben.“ Sie grinste mich keck an und nickte in Richtung meiner Schlafstatt, die ich mir aus Fellen zurechtgemacht hatte. „Und wenn das tatsächlich unsere erste, letzte und einzige Nacht sein sollte, dann machen wir wohl das Beste draus, meinst du nicht?“
Ich hob meinen Kopf und starrte sie an, was ihr Grinsen nur noch weiter in die Breite zog.
„Jetzt guck‘ doch nicht so schockiert! Ich hörte, ihr Oger schreckt vor nichts zurück?“
„N-nein, was? Aber...! Du bist... und ich bin ein...“ Meine Zunge war ein staubtrockener Knoten, der in einem gewaltigen Kloß im Hals mündete.
„Geschöpf Gottes, wolltest du sagen?“
Sie meinte es ernst!
„N-nun, wenn du... es so siehst-?“, stammelte ich. Sie löste sich aus meiner Umarmung, ging hinüber zu den Fellen und schlüpfte elegant dazwischen.
„Tÿl, steh‘ mir bei!“, sandte ich ein stilles Stoßgebet an die Ahnen. Als ich mit Knien wie Pudding zu ihr wankte, sprang mir ihre Kleidung ins Auge, die zu einem hastigen Haufen gebündelt neben dem Fell lag.
Einige Stunden später, in denen alle versucht hatten, zumindest noch eine kleine Prise Schlaf zu bekommen – woran zumindest Hidda und ich kläglich gescheitert waren – schickte die Sonne ihre ersten, schwachen Strahlen über die Wipfel des Nadelwalds. Die Nacht war überraschend mild gewesen. Beinahe war es, als wollte uns der einsetzende Frühling zusätzlichen Mut zusprechen.
Hidda war bereits verschwunden, als Morg aufwachte.
„Ich hatte die verrücktesten Träume“, murmelte er und musterte mich skeptisch.
„So? Woran könnte das liegen?“
„War irgendwas in der Nacht?“
„Wie kommst du darauf?“
„Du grinst, als hätte dir ein Loqi eine volle Ladung Blitze ins Gesicht verpasst. Hast du eine Lähmung oder so?“
„Nein, es ist einfach nur ein schöner Tag!“, flötete ich.
„Dir ist klar, dass wir wahrscheinlich bald alle draufgehen werden?“
„Oh. Richtig. Weißt du, man muss das ganze ja auch positiv sehen. Vielleicht geht ja auch alles gut und wir sind schon bald alle befreit von der Umklammerung der Königin.“
„Hmm“, brummte Morg nur und beließ es dabei.
Wir schnallten unsere Rüstung um, griffen unseren Hammer und verließen den dichten Wald. Die missmutige, bedrückende Stimmung, die auf der Lichtung herrschte, schlug uns wie ein kalter Wind entgegen. Soldaten standen verloren herum, fluchten über klamme Kleidung und versuchten verzweifelt, sich aufzuwärmen.
„Keine Sorge, da unten ist es wenigstens warm“, versuchte ich einen Scherz, der die griesgrämigen Mienen der Menschen aber kaum aufzuhellen vermochte. Sie alle waren in Gedanken versunken und mit den eigenen Vorbereitungen beschäftigt. Es musste für sie sicherlich eine Ironie des Schicksals sein, die erste Schlacht überlebt zu haben, nur um sich erneut in den Schlund der Bestie zu werfen.
Und dieses Mal war die Aussicht, lebend aus der Sache herauszukommen, noch sehr viel schlechter.
Wir schlenderten zu Mina und ihrer Gruppe herüber, die bereits abmarschbereit waren und sich in den letzten Vorbereitungen befanden. Ich musste mich sehr beherrschen, Hidda nicht wie ein Blödmann anzugrinsen.
„Guten Morgen, zusammen“, grüßte ich.
„Noch so einer mit guter Laune“, stöhnte Hiskam. „Weiß echt nicht, was an diesem Morgen gut sein soll.“
„Komm‘ schon, wir müssen keinen Spaß an dem Ganzen haben, sondern es einfach durchziehen. Dafür werden wir schließlich bezahlt“, sagte Isengrim.
„Wie, bezahlt?“
„Naja... also wenn es dann vorbei ist. Bestimmt.“
„Hier, nimm dir noch eine heiße Schale Suppe“, bedeutete Mina, was Morg gerne in Anspruch nahm.
„Hey, du“, murmelte es sanft an meiner Seite. Hidda setzte sich neben mich und tat so, als ölte sie die Mechanismen ihrer Armbrust.
Ich stupste sie zur Antwort sanft mit meiner Schulter an.
„Ich wollte dir nur sagen... die Nacht mit dir war schön“, flüsterte sie, ohne mich anzuschauen. Rote Flecken breiteten sich abermals auf ihren Wangen aus.
„Ja, das fand ich auch. Das sollten wir wiederholen.“
Sie hielt inne und schaute zu mir auf. „Das werden wir“, sagte sie. „Hörst du? Ich warne dich: Wehe, dir geschieht etwas!“ Ihre Augen glänzten feucht.
Ich nahm ihre Hand und erwiderte ernst ihren Blick. „Das wird es nicht. Versprochen.“
Sie nickte stumm, eine Mischung aus verzweifelter Zuversicht und kindlicher Hoffnung auf ihrem Gesicht. Ich wusste nicht, wie überzeugend ich geklungen hatte.
„Antreten!“, bellte Dahla und riss uns alle in die Gegenwart. Das Lager geriet in Bewegung, als letzte Uniformen gerichtet und Waffen geschultert wurden.
„So, so“, murmelte Morg vielsagend, während wir zusammen mit der Lintbrut Aufstellung nahmen.
Ich schielte zu ihm rüber und blickte in ein breites Grinsen.
„Das... äh... ist nicht-!“ Schließlich gab ich es auf und schnaufte laut. „Was soll ich sagen?“
Er gab mir eine grobe Kopfnuss, wie um mir zu zeigen, dass keine Worte notwendig waren. Unverändert grinsend erwartete er die Worte der Generalin. Ich wusste nicht, warum, aber irgendwie fiel mir ein Stein vom Herzen.
„Zuhören!“, befahl Dahla. „Jetzt wird’s ernst. Ich weiß, niemand von uns hat sich das hier ausgesucht. Das Schicksal der gesamten Welt lastet nun auf unseren Schultern. Scheiße“, lachte sie, „glaubt ihr, ich habe vor einer Woche geahnt, dass ich mal mit so einem traurigen Haufen wie euch dem mächtigsten Feind gegenübertreten werde, den wir je gesehen haben? Aber nun, so ist es eben. Und wenn nicht wir, wer soll es dann richten?“ Die Soldaten nickten grimmig. Nicht zum ersten Mal fiel mir auf, dass Sullain die Frau ganz offensichtlich nicht nur wegen ihres Aussehens auf diese Position gesetzt hatte. Sie war schlicht eine verdammt gute Anführerin.
„Aber keine Angst! Wir haben einen Plan. Sicherlich haben es die meisten von euch schon mitbekommen, aber hier nochmal offiziell: Morg und Grom, also der Oger hier“, sie nickte in unsere Richtung, „werden den Lockvogel spielen.“ Ich fühlte eine schmale Menschenhand, die sich heimlich in meine schmiegte. „Sie werden vortäuschen, auf der Seite der Königin zu stehen und behaupten, die legendäre Lintbrut gefangen genommen zu haben. Mit etwas Glück und schauspielerischem Talent, werden die sechs so Zugang zum Bau bekommen.“
Ein leises Raunen ging im Lager umher. Ich schaute die anderen der Reihe nach an: Mina, Isengrim, Hiskam, Yosanna und schließlich Hidda. Meine Freunde – und noch viel mehr.
„Auf unser vereinbartes Signal hin, schlagen wir dann los.“
„Und was ist mit uns?“, rief jemand aus den hinteren Reihen.
„Das besprechen wir gleich.“ Sie wandte sich uns zu und nickte ein Mal. „Ich wünsche euch viel Erfolg. Zeigt diesem Scheusal, wer der Herr über diese Welt ist.“
„General“, quittierte Mina laut und schritt voran. Ein Schauer aus Erregung, Angst und Antizipation floss durch meinen Körper. Als wir das Lager verließen, begleiteten rhythmisch klopfende Waffen unseren Weg. Der Stein war ins Rollen gekommen, und keiner von uns konnte ihn mehr aufhalten.