„Ich verstehe trotzdem nicht, warum ausgerechnet ich dieses Ding schleppen muss! Was ist, wenn es mit seinen Tentakeln die Kiste aufbekommt? Und mich dann unter seine Kontrolle bringt? Wie... wie bei Morg?“ Kun’zats Stimme hatte eine leicht panische Note angenommen, als wir vor dem fest verschnürten und mit dicken Decken eingewickelten Kasten standen.
„Hör mal!“, drang Morg auf ihn ein. „Du bist doch einer unserer tapfersten Kämpfer, richtig?“
„Richtig.“
„Diese Kreatur zu transportieren, davon hängt Sieg oder Niederlage ab. Deine Aufgabe ist wichtiger als die meisten, wenn nicht sogar als alle anderen! Meinst du nicht, das sollte also der Mutigste und Tapferste von uns übernehmen?“
Morg konnte sich kaum ein Grinsen verkneifen, als er Kun’zats Verstand rotieren sah, der mit sich lautlos bewegenden Lippen da stand und auf die Kiste starrte. Es bereitete mir beinahe körperliche Schmerzen, den inneren Diskurs mitzuerleben, der in ihm tobte. Schließlich nickte er bockig, seine Unterlippe ein wenig vorgeschoben.
Damit war alles geklärt.
„Un’ro, treibst du die Meute an, sich zum Abmarsch vorzubereiten? Wir werden uns mal anhören, was die Oberen sich so überlegt haben.“
Er nickte und wandte sich bereits von uns ab, um bellend Befehle zu erteilen. Er hatte sich gut in der Rolle als Stellvertreter eingefunden.
Wir traten der Lagebesprechung bei, als die Diskussion bereits in vollem Gange war. Die Gemüter waren erhitzt, das war unschwer zu erkennen. Auf der einen Seite des großen Kartentischs, wo nach wie vor meine Eintragungen über die Positionen der Keszz-Armeen zu sehen waren, stand Valerius in hastig geflüsterten Gesprächen mit ihren beiden Ministern, Ignaz von Went und Tomasz. Auf der anderen Seite stand Fürst Sullain mit seinen Generalinnen und schaute trotzig und mit gerötetem Gesicht zum König herüber. Niemand würdigte uns eines Blickes, was mir im Moment aber ganz recht war.
„Nun gut“, rief Valerius schließlich, ihre Mundwinkel konsterniert nach unten gezogen, als hätte sie eine Zitrone verspeist. „Ich lasse dir auch noch meine gesamte schwere Infanterie. Zufrieden? Damit bleiben mir gerade einmal siebenhundert, plus die Oger.“
Entweder hatte sie nicht mitbekommen, dass wir dazugekommen waren, oder es kümmerte sie einfach nicht.
„Fein. Sehr großzügig von dir. Tausend Dank“, murmelte der Fürst, seinen Sarkasmus elegant in eine Floskel verpackend. „Dafür möchte ich dir Dahla hier zur Seite stellen.“ Er deutete auf die blonde Frau. Sie war sichtlich unzufrieden mit seinem Vorschlag, fügte sich aber folgsam seinen Anweisungen.
„Nein, danke“, spottete Valerius umgehend. „Deine Mätressen wirst du noch selber brauchen, so wie ich dich kenne.“
„Verdammt nochmal!“, explodierte Sullain und knallte seine Faust auf den Tisch. Köpfe zuckten in seine Richtung.
„Mein Volk leidet! Ein ganzer Landstrich wurde bereits von diesen Kreaturen vernichtet! Und dir fällt nichts anderes ein, als an alten Fehden festzuhalten? Es sind Menschen, von denen wir hier reden, Valeria! Es waren auch mal deine Leute!“
„Oh, glaub mir, es vergeht nicht ein Tag, an dem ich mir das nicht bewusst mache“, zischte Valerius zurück. Ihre Augen schleuderten Blitze in seine Richtung. „Wer, glaubst du, war es denn, der mich zu diesem verbitterten, rachsüchtigen Menschen gemacht hat?“
Er starrte sie mit großen Augen an. Es schien, als hätte ihn eine neue Erkenntnis unvorbereitet getroffen.
Hier wurde ein Konflikt ausgetragen, der so intim war, dass ich mich fühlte, als schnüffelte ich in den Privatangelegenheiten eines Anderen. Ich wollte hier weg und doch traute ich mich nicht, einen einzigen Schritt zu tun.
„Das...“, stotterte Sullain kleinlaut. „Das war mir nicht bewusst. Ich meine, ich weiß, dass ich dir übel mitgespielt habe, aber dass du immer noch...?“ Er schaute ehrlich betrübt zu Valerius, die offenbar einmal Valeria geheißen hatte.
„Ich habe dich geliebt“, flüsterte sie, ihren Blick unvermindert auf die Karte geheftet. „Und... wahrscheinlich tue ich das noch immer.“
Mit einem Mal wurde mir vieles klar. Hatten die beiden etwa einst zusammen den gesamten Kontinent regiert? Und hatte Sullain sie dann hintergangen, was zur Abspaltung von Domillium geführt hatte?
Der Fürst schluckte schwer. „Bei Gott, ich... all die Jahre hatte ich keine Ahnung!“
Valerius hob ihren Kopf und lächelte ihn traurig und verletzlich an. „Nein, natürlich hattest du die nicht.“
Sie räusperte sich laut, vertrieb mit einiger Mühe die Sensibilität aus ihrem Gemüt. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. „General Dahla, gerne nehme ich deine Unterstützung an. Jedes Bisschen Ortskenntnis kann uns nur nützen.“ Ihre Stimme klang mit einem Mal wieder gänzlich staatsmännisch, lediglich ein rauer Unterton deutete noch auf das eben Gesagte hin.
Sullain nickte erleichtert. „Lass uns diese Krise gemeinsam überstehen und ich schwöre dir, im Anschluss werden wir uns zusammensetzen und eine Lösung für dieses Dilemma finden. Werde ich etwas finden, wie ich es wiedergutmachen kann.“
Valerius erwiderte sein Nicken, ein erschöpftes Lächeln auf dem Gesicht. Die entweichende Anspannung fühlte sich a, wie ein Deckel, den man von einem kochenden Topf nahm.
Der Rest der Besprechung war sachlich und drehte sich um militärische Taktiken. Ein Großteil der Armee würde unter Sullains Führung von hier aus Richtung Süden marschieren und einen Scheinangriff auf die Keszz starten. Wenn alles gut ging und sie den Köder schluckte, würde die Königin ihnen ihre Horden entgegenschicken. Das würde es einem kleinen Trupp unter Valerius, der sich über den Salzpfad an dem Schlachtfeld vorbeischlich, ermöglichen, der Königin in den Rücken zu fallen. Wäre der Kopf erst ab, würden alle Keszz leichte Beute sein – eventuell bestand sogar noch ein Funken Hoffnung für die Bürger von Unholm.
Es wurde eine lange Besprechung, die sich bis weit in die Nacht hinein erstreckte. Als wir uns schließlich voneinander verabschiedeten, waren noch längst nicht alle Fragen geklärt, doch ein Rest Unsicherheit würde immer bleiben. Darin waren sich alle einig.
Als wir in unserem Lager eintrafen, ließ ich meinen Blick über die kolossalen Formen schweifen, die die schlafenden Oger bildeten. Die Köpfe auf den geschnürten Taschen, ihre neu geschmiedeten Rüstungen und Waffen in Griffweite, stießen sie friedlich in die Nachtluft aufsteigende Atemwolken aus. Wie viele ich von ihnen wohl nach dem Aufeinandertreffen mit der Königin noch in die Arme schließen würde können? Schnell schüttelte ich diese düsteren Gedanken ab und legte mich hin, um zumindest noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Doch meine Gedanken rasten und als sich am Horizont die erste Ahnung der Dämmerung ankündigte, starrte ich nach wie vor in den wolkenverhangenen Himmel.
Wir, die fast eintausend Krieger starke Truppe, die sich über den Salzpfad mühen würde, verabschiedeten uns schon früh am nächsten Tag von den anderen. Unter uns befand sich eine Auswahl der besten von Valerius‘ Kämpfern verschiedenster Waffengattungen, sowie die gesamte Lintbrut, die ‚Fachleute der Mystik‘, also Lazar, Yosanna und Zuak, sowie wir, die Oger. Wir waren eine bunt gemischte Truppe, der es vielleicht ein wenig an Disziplin mangelte, dafür aber umso entschlossener war.
Unter Anleitung General Dahlas schlugen wir uns über einen schwer erkennbaren Trampelpfad durch den dichten Wald. Da wir kaum nebeneinander gehen konnten, erstreckte sich unsere Kolonne über mehrere hundert Schritt in der Länge.
Gegen Mittag waren bereits zwischen den Baumwipfeln einige Bergkuppen zu erkennen und alsbald führte der Pfad einen steilen Anstieg hinauf.
„Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, wird dieser ganze Kontinent von Keszz überrannt sein, bevor wir überhaupt das Meer sehen“, maulte Un’ro.
„Deswegen lassen uns Sullains Truppen ja auch einige Tage Vorsprung. Der Weg heißt nicht umsonst Salzpfad – eine gepflasterte Straße, auf der wir schnell vorankämen, werden wir nicht vorfinden“, erläuterte ich.
„Ist ja gut.“
„Weißt du, was die Menschen sagen? Geduld ist eine Tugend.“
Un’ro grübelte einen Moment, verstand dann aber grob den Sinn der Worte. „Die Menschen und ihre Sprichwörter“, seufzte er.
Wir waren mittlerweile weit den Berg hinaufgestiegen, sodass der Wald sich inzwischen deutlich gelichtet hatte und nur noch aus niedrig wachsenden Bäumen bestand. Schnee hatte sich in hartnäckigen Verwehungen eingenistet und die Luft stach kalt bei jedem Atemzug. Eine trügerische Stille herrschte hier oben, von nicht einem Luftzug getrübt. Ein krasser Kontrast zu der bedrückten Geschäftigkeit, die gerade bei den Menschen im Tal herrschte. Ich schaute mich um, an der langen Reihe schnaufender Oger vorbei, doch der dichte Wald verbarg jeglichen Aufschluss über die Aktivitäten dort unten.
„Wenn ich die Karte richtig gelesen habe“, merkte Morg an, „werden wir von einigen Stellen des Salzpfades aus einen Blick ins Tal werfen können.“
Ich nickte nur und ging weiter.
Weitere Stunden und viele Schritte auf dem schmalen, sich windenden Pfad später, erreichten wir schließlich die Bergkuppe. Pflanzenbewuchs gab es hier kaum noch, lediglich dürre Sträucher und knorrige Büsche boten eine Abwechslung zum kahlen Gestein.
Ich bog gerade um die Ecke, um einen großen Felsbrocken zu umrunden, als ich von einer mächtigen Windböe überrascht wurde. Eiskalt zog sie durch jede Ritze meiner Robe und raubte mir für einen Moment den Atem. Im zweiten Augenblick bemerkte ich: Es war keine Böe – wir waren schlicht aus dem Windschatten des Berges auf die Wetterseite getreten.
Ich kniff die Augen gegen den Wind zusammen und schaute mich um. Vor mir erstreckte sich die majestätische Bergkette in Richtung Süden, deren schneebedeckte Kuppen sich irgendwo hinter Wolken verloren. Im Osten waren die Berge jäh von steilen Klippen begrenzt, die beinahe senkrecht in das tosende Meer abfielen. Es musste einige hundert Schritte in die Tiefe gehen! Erst jetzt erkannte ich auch, warum der Weg ‚Salzpfad‘ genannt wurde: Die beständig wütenden Winde wühlten die See auf und trugen die Gischt bis hierher herauf. Das führte dazu, dass der Weg von Salzablagerungen überwuchert war, die sich zu teils grotesken Formationen auftürmten.
„Scheiße“, flüsterte ich.
„Nun, sieh es mal positiv: Solange wir hier oben sind, brauchen wir alle nicht ein einziges Bad zu nehmen“, lachte Un’ro, und klopfte mir grob im Vorbeigehen auf die Schulter. Wie um sein Argument zu untermauern, trieb in diesem Moment eine Windböe einen eiskalten Schwall salzigen Wassers in die Luft und ließ ihn auf uns herabregnen.
„Wenn wir überhaupt lebend ankommen und nicht erfrieren“, murmelte ich und zog das Fell enger.
„Oder ausrutschen und vom Meer verschlungen werden“, ergänzte Morg, als wir uns auf dem rutschigen, feuchten Salz langsam voran tasteten.
Es sollte ein mühseliges Vorankommen werden. Der Wettergott, den die Menschen Petrus nannten, war uns nicht geneigt und strafte uns mit Wind, Regen und Schnee. So dauerte es auch nicht lange, bis erste Gerüchte von abgestürzten Menschen die Runde machten, die in den dichten Wolken, die immer wieder den Pfad kreuzten, einen Fehltritt getan hatten.
Wie um alles in der Welt hatte Valerius diesem Plan zustimmen können? Oder hatte sie sich von Sullain hinters Licht führen lassen?
Es war spät geworden und, obwohl wir bereits den ganzen Tag marschiert waren, waren wir gefühlt kaum vorangekommen. Gerade als ich befürchtete, die Menschen würden ungeachtet der untergehenden Sonne im Dunklen auf dem Pfad weitermarschieren wollen, was aus meiner Sicht einem Todesurteil gleichgekommen wäre, machte der Salzpfad eine Biege scharf nach Westen und führte über die Kuppe auf die dem Meer abgewandte Seite der Berge. Sobald ich in den Windschatten trat, fiel das konstante Toben des Windes urplötzlich ab und hinterließ ein Klingeln in meinen Ohren.
Wir alle taten unser Bestes, den begrenzten Platz im Windschatten unter uns aufzuteilen, was mit den mehreren hundert Körpern nicht leicht war. Die Stimmung war, um es milde auszudrücken, nicht gerade auf dem Höhepunkt: Durchnässt vom unerbittlichen Ansturm des Wassers, durchgefroren bis ins Mark und ausgelaugt von dem schwierigen Weg.
„Nur kleine Feuer, verstanden?“, befahl Un’ro und huschte durch die Reihen der eng zusammengekauerten Gestalten. „Wir können nie sicher sein, ob die uns von da unten sehen können.“
„Für mehr reicht dieses mickrige Gestrüpp hier eh nicht“, schnauzte jemand.
Ich musste lächeln. Er hatte sich in seine Rolle als ausführender Kommandant wirklich eingelebt. Während ich ihm hinterherschaute, blieb mein Blick an zwei Menschen haften, die sich in unsere Richtung durchkämpften. Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen tasteten sie sich durch die Dunkelheit in unsere Richtung, nur hin und wieder von einem schwachen Lagerfeuer erhellt.
„Was für eine Scheiße“, stöhnte einer der beiden und ließ sich schwer neben uns am Feuer nieder. Es war der Oberst, der schlechtgelaunt unter einer feuchtglänzenden Lederkapuze hervorschaute. Er humpelte nach wie vor, seine Verletzungen aus der Schlacht mit den Keszz noch nicht gänzlich verheilt. Ich musst ihm Respekt zollen – er ließ sich kaum eine Schwäche anmerken.
„Sehen Sie es mal so, Oberst: Andere Leute bezahlen viel Geld für einen Kuraufenthalt an einem Ort mit salziger Luft.“ Minas Kopf kam mit einem gequälten Grinsen unter der anderen Kapuze zum Vorschein.
„Na da fühle ich mich doch gleich viel besser, Leutnant.“ Er streckte seine Hände über die kleine Flamme unseres Feuers und versuchte, ein wenig Wärme aufzusaugen.
„Leutnant?“, fragte ich.
„Jep. Die Armee ist wie eine zornige Großmutter. Einen Klaps auf den Allerwertesten und danach schließt sie dich wieder in ihre Arme und drückt dich gegen ihre ausladenden Brüste.“ Sie kicherte.
„Ich hoffe, ich werde das nicht bereuen?“, erwiderte der Oberst.
„Nein, nein. Auf keinen Fall.“ Sie lehnte sich zu mir herüber und flüsterte verschwörerisch: „Haben mir sogar ein Kommando gegeben. Fünfzig Soldaten habe ich jetzt unter mir. Die hielten es wohl für eine gute Idee, jemandem Kompetentes die Führung zu geben.“
„Auch wenn es mir im Grunde egal ist, sei an dieser Stelle erwähnt, dass du damals freiwillig gegangen bist, Leutnant.“
„Nuuun... da gibt es durchaus Interpretationsspielraum.“ Ihre Augen funkelten spitzbübisch.
„Nicht schon wieder diese Diskussion“, stöhnte der Oberst. „Wir sind auch nicht gekommen, um einen gemütlichen Plausch zu halten. Zunächst einmal: Wie geht es deiner Truppe?“ Er schaute mich über das Feuer hinweg an.
„Ganz gut“, sagte ich schlicht und zuckte mit den Schultern. „Uns macht dieses Klima nicht so viel aus, auch wenn wir nicht zum Spaß hier spazieren gehen würden.“
„Verluste?“
„Keine, alle vollzählig.“
„Gut. Das ist gut.“ Er nickte gedankenverloren.
„Uns fehlt bereits ein halbes Dutzend Männer“, flüsterte Mina.
„Fehlt? Du meinst...?“
Sie nickte. „Vom Salzpfad verschluckt.“
„Leutnant, ich will diese Sprache nicht in der Truppe haben, verstanden? Dieser Pfad ist ein Pfad, nichts weiter. Er ‚verschluckt‘ niemanden. Unfälle, Nachlässigkeiten, Torheiten. Das kostet Leben, sonst nichts.“
„Natürlich, Oberst. Ich gebe nur wieder, was mir zugetragen wird.“
„So viele schon?“, murmelte ich. „Ich habe Gerüchte gehört, aber...“
Die beiden nickten wortlos.
„Gib‘ das so an deine Leute weiter. Sie sollen einfach besonders vorsichtig sein, verstanden?“ Damit erhob sich der Oberst, tippte einen flüchtigen militärischen Gruß an die Stirn, und steuerte in die Dunkelheit davon.
„Die Moral ist schlecht“, konstatierte Mina, als wir unter uns waren. „Viele halten diesen Weg hier für verflucht.“
„Auch ohne Fluch mag ich es hier nicht“, ergänzte Morg, was Mina ein düsteres Lächeln ins Gesicht trieb.
„Nein, da hast du recht. Bisschen ungemütlich.“
Sie ließ ihren Blick ins Tal schweifen, das in tiefster Dunkelheit unter uns lag. Es war nichts zu sehen oder zu hören – kein Feuer, kein Geräusch. Nichts, das darauf schließen ließ, dass dort schon bald eine gewaltige Schlacht stattfinden würde. „Noch zwei Tage, dann wird Sullain mit der Armee aufbrechen. Hoffen wir, dass bis dahin noch welche von uns über sind.“
Schlaf war in dieser Nacht kaum zu bekommen. Die nächtliche Kälte, die der sternenklare Himmel herab schickte, sickerte erbarmungslos durch die immerwährend klamme Kleidung. War es für uns Oger schon nicht angenehm, mochte ich mir kaum ausmalen, wie die Menschen sich nach dieser Nacht fühlen mochten.
Die Frage beantwortete mir ein Blick in ihre Gesichter, als wir früh am Morgen bei einsetzender Dämmerung aufbrachen. Dunkle Augenringe zeichneten sich deutlich auf Gesichtern ab, die wie gerädert aussahen. Niemand redete, ein Lächeln suchte man weit und breit vergebens. Und das, obwohl uns ein Tag erwarten sollte, der noch ungemütlicher war als der erste: Die Sonne zeigte sich nicht ein einziges Mal, wir tasteten uns in dichten Wolken nur schleichend voran und sobald wir die Seite des Bergkamms wechselten, begann der Wind seinen neuerlichen, erbarmungslosen Ansturm.
Tief in unsere Felle gehüllt, starrten wir nur auf unsere Fußspitzen, die sich stoisch voreinander setzten, und warteten darauf, dass dieser Tag enden möge. Nicht nur ein Mal glitt ich auf dem nassen Salz aus und rutschte auf dem abschüssigen Pfad nah an den Abgrund heran – nicht unbedingt lebensgefährlich nah, aber es sorgte doch jedes Mal erneut für panische Aufschreie.
Es war tückisch: Die Witterung trieb uns in die Apathie, sorgte dafür, dass wir uns in unserer Kleidung einkapselten, was uns wiederum unvorsichtig werden ließ. Entsprechend fühlte sich der Tag an – als wolle er niemals enden und, wie ein sadistisches Wesen, die Strapazen möglichst lange hinauszögern. Als der Pfad am Abend erneut auf die windabgewandte Seite wechselte, fühlte es sich an, wie aus einer alptraumhaften Trance zu erwachen. Wir suchten ein geschütztes Plätzchen und richteten uns für die Nacht ein. Das Bündel Habseligkeiten, das ich von meiner Schulter gleiten ließ, rief betäubte Schmerzen in meinen Gelenken hervor.
„Erinnere mich daran, dass wir für den Rückweg einen anderen Weg nehmen“, stöhnte ich und rieb mir die Schulter.
„Für einen Sieg würde ich sogar dieselbe Route in Kauf nehmen“, sagte Morg.
„Du hast recht. Das schwierigste kommt erst noch.“ Besorgt blickte ich ins Tal. „Glaubst du, du kannst mal nachschauen?“
„Klar. Warum denn nicht?“, erwiderte er. „KUN’ZAT!“
Weiter hinten sah ich den bulligen Krieger aufspringen und sich fast schon behände zwischen den kleinen Grüppchen hindurchschlängeln.
„Jawoll, Häuptling?“, bellte er. Er machte einen überraschend wachen Eindruck, beinahe so, als machte ihm der Marsch kaum etwas aus.
„Wir brauchen die Kiste.“
Kurze Zeit später standen Kun’zat, Un’ro und wir vor dem verschnürten Gegenstand. Unheilvoll zeichneten sich die Form der Kiste unter dem Stoff ab. Kein Geräusch drang daraus hervor.
„Ob es noch lebt?“, wunderte sich Un’ro.
„Das werden wir wohl gleich erfahren“, erwiderte ich.
„Gut, wie ich sehe hatten wir denselben Gedanken“, ertönte es hinter uns. Ich sah mich überrascht um und erblickte Valerius, die zusammen mit dem Oberst auf uns zukam. „Wir brauchen eine aktuelle Positionsmeldung der Keszz, die ich an unsere Truppen im Tal geben kann.“
Ich nickte ihnen gefällig zu und lud sie mit einer Geste ein, sich dazu zu gesellen. Der Oberst breitete eine kompakte Karte über einem der wenig trockenen Steine aus und machte sich bereit, Truppenbewegungen einzuzeichnen. Als ich mich umdrehte, hatte Un’ro bereits die Kiste von der Decke befreit und die Kette gelöst.
„Bereit, Morg?“, fragte ich.
„Bereit.“
Damit öffneten wir die Kiste. Ein Schwall übelriechender Luft schlug uns entgegen. Ich erwartete, dass uns die Kreatur mit ausgestreckten Tentakeln entgegenspringen würde, doch sie lag ruhig und genauso dort, wie wir sie am Tag zuvor hineingezwängt hatten. Tiefschwarze Facettenaugen blickten uns ausdruckslos an, die Bewegungen der Arme schwach und unkoordiniert.
„Dann wollen wir mal“, sagte Morg und griff kurzerhand nach einem der Arme. Einem Reflex gleich schnellte ein Tentakel hervor und wickelte sich um seinen Arm. Wie zuvor merkte ich auch dieses Mal die Präsenz der Königin, die sich in unmittelbar in Morgs Gedanken schlich. Doch dieses Mal waren wir vorbereitet und wussten, was uns erwartete. Er übernahm die Aufgabe, sie hinzuhalten und abzulenken, ich umging sie und schlich mich meinerseits in ihre Gedanken ein. Auf ein vereinbartes Signal hin kappte Morg die Verbindung, in der Hoffnung, dass die Königin unser Schauspiel nicht auf die Schliche kommen würde.
„Keine Veränderung, wie?“, stellte Valerius fest, nachdem ich die Positionen der Keszz in der Karte gekennzeichnet hatte. „Das ist gut, scheint sie doch von unserer List nichts zu wissen.“
„Allerdings frage ich mich doch, worauf die Königin wartet. Warum hat sie in ihrem Vormarsch innegehalten? Wenn ihre Behauptung stimmt, überall im Land Agenten zu haben, hätte sie doch wissen müssen, dass Sullain ihr alleine nicht viel entgegenzusetzen vermag“, wunderte sich von Banthal.
„Vielleicht überschätzen wir sie auch ganz einfach – ich bete dafür zu Gott.“
„Mit Verlaub, Hoheit“, mischte ich mich ein. „Den Fehler sollten wir nicht tun.“
Sie warf mir ein dünnes Lächeln zu. „Nein. Nein, du hast recht. Keine Sorge, so töricht ist niemand von uns.“ Sie richtete sich auf und warf einen Blick ins dunkle Tal. „Jest, schickst du bitte eine Taube mit diesen Informationen an den Fürsten?“
Der Oberst nickte.
„Fein. Ich wünsche einen schönen Abend, die Herren. Gönnt euch Ruhe. Ich befürchte, morgen ist es mit dem Komfort auf dem Pfad vorbei.“ Damit wandte sie sich um und marschierte davon, ihren Umhang wallend hinter sich herziehend.
„Komfort? Was genau meint sie?“, stutzte Morg.
„Unser Kundschafter hat von einem unterspülten Teilstück gesprochen. Es ist übel, wie schon von Generalin Dahla befürchtet.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nun ja, es ist zu spät zum Umkehren, wir werden schon eine Lösung finden. Die Herren“, nickte er kurz zum Abschied und verschwand dann auch.
„Na das wird ja immer besser“, seufzte ich.
„Was haben sie gesagt?“, fragte Kun’zat.
„Verschnür‘ das Paket besser gut. Morgen werden wir klettern müssen.“
Der Wettergott wollte uns prüfen, so viel stand fest. Wir erwachten nach einer zwar dicht bewölkten Nacht, was die Temperaturen halbwegs erträglich gemacht hatte, jedoch grüßten uns bereits bei Aufbruch die ersten, dicken Schneeflocken. In unserem windgeschützten Nachtlager segelten sie friedlich und unbekümmert zu Boden, wo sie sich, sobald sie in Kontakt mit der allgegenwärtigen Salzschicht kamen, in Windeseile zu Wasser auflösten. Doch in dem Moment, in dem wir auf die andere Seite traten und wir das endlose Meer weit unter uns sich bis zum Horizont erstrecken sahen, wurde aus ihnen ein tobender Ansturm, der uns gnadenlos bombardierte. Bereits nach einer Stunde war selbst die geringe Sichtweite, die uns die dichten Wolken noch zustanden, durch den Schneesturm ausradiert. Alles, was weiter als meine ausgestreckte Hand entfernt war, verschwand hinter einer rasenden, weißen Wand.
Entsprechend langsam war das Vorankommen. Ich versuchte, so gut es ging Anschluss an meinen Vordermann zu halten – einen Menschen namens Jong, der zu den Bogenschützen unter dem Oberst gehörte. Immerhin konnte ich mich an seinem beständigen Fluchen orientieren, sollte ich einmal seinen Rücken aus den Augen verlieren.
Unter meiner dicken Kapuze ließ ich beständig meinen Blick schweifen. Irgendwo zu meiner Linken, keine zehn Schritte entfernt, befand sich die Klippe, die steil in die Tiefe führte – doch ich sah nichts davon! Ein beklemmendes Gefühl. Wäre Jong auch nur ein einziges Mal falsch abgebogen, ich hätte es nicht rechtzeitig bemerkt und wäre ihm in den Abgrund gefolgt.
Noch während ich meinen Gedanken nachhing, mich wunderte, wie viel Uhr es wohl sein mochte, und versuchte, die Kälte so gut es ging zu ignorieren, stoppte Jong vor mir unvermittelt in seinen Bewegungen. Mit rutschenden Füßen schaffte ich es gerade noch, eine Kollision mit ihm zu vermeiden. Überrascht schaute ich auf, sah jedoch jenseits von ihm nichts weiter als wirbelnde weiße Massen. Schließlich drangen gedämpfte Rufe durch das Brüllen des Windes.
„Halt... Erdrutsch... umgehen!“
Ich konnte nur ein Teil verstehen. Die Nachricht wurde jedoch eifrig weitergegeben und pflanzte sich so entlang der Kette der Menschen fort, bis sich Jong schließlich zu mir umdrehte und rief, um sich gegen den Wind durchzusetzen: „Es gab wohl einen Erdrutsch, im Pfad klafft eine Lücke. Die da vorne versuchen jetzt, irgendwie darüber zu klettern.“
Ich dankte ihm und gab die Botschaft weiter.
Verdammt. Also hatte der Kundschafter am Vorabend recht behalten. Ich schätzte, es war bereits nachmittags. Das bedeutete, wenn wir es nicht schafften, die Lücke zu überwinden, würden wir unverrichteter Dinge umkehren müssen. Nicht nur, dass wir auf der Wetterseite würde übernachten müssten, der gesamte Plan wäre gescheitert.
Missmutig setzte ich mich auf mein Bündel Gepäck und wartete.
„Selbst wenn wir es irgendwann über diesen verdammten Pfad schaffen, sind wir dann überhaupt noch in der Verfassung, zu kämpfen?“, brummte Morg irgendwann.
„Gute Frage. Um uns mache ich mir keine Sorgen. Aber die Menschen? Ich glaube, für sie ist das hier noch sehr viel härter als für uns.“
Er nickte. „Dann müssen wir uns eben umso mehr anstrengen.“
Ich musste lachen.
„Was ist?“
„Ich erinnere mich nur gerade an die Anfänge zurück. Weißt du noch, als Zuak das erste Mal bei uns im Lager stand?“
„Hmm. Nein, eigentlich nicht.“
„Dein erster Impuls war, ihn gegen einen Baum zu schleudern.“
Das rief auch bei ihm ein grunzendes Lachen hervor.
„Und nun willst du sogar dein eigenes Leben vor das der Menschen stellen“, fuhr ich fort.
„Ach. Purer Eigennutz. Noch weniger als die Menschen kann ich die Keszz und ihre Königin leiden. Und wenn die Menschen nun mal zu schwach sind...?“
„Ach so.“ Ich spürte das Grinsen unter meiner Kapuze noch breiter werden.
„Es geht weiter!“, unterbrach uns Jong, der mit steifen Gliedern seinen Rucksack schulterte. „Wurde aber verdammt nochmal Zeit, verflucht.“ Die restliche Flut an Schimpfwörtern ging im Sturm unter.
Es dauerte eine weitere Ewigkeit, bis der Tross im Schneckentempo vorangekommen war und ich schließlich vor dem gähnenden Schlund stand, der einmal ein Teil des Salzpfads gewesen war. Die raue Bruchkante, die sich lediglich einen Schritt entfernt vor mir auftat, ließ nur erahnen, wie weit es dort in die Tiefe ging. Es war nicht zu erkennen, wie groß das Loch war.
Ich sah mich um und entdeckte Jong, wie er sich mithilfe eines dicken Seils, das mit Metallösen in die rutschige Felswand gehauen war, vorsichtig an dem Loch vorbei arbeitete. Kurze Zeit später hatte ihn die weiße Wand verschlungen.
„Der Nächste!“, rief jemand undeutlich gegen den Wind an.
„Das sind dann wohl wir“, murmelte ich und machte mich bereit. Ich glaubte kaum, dass die Menschen das Seil für ein Geschöpf mit unserem Gewicht und unserer Größe ausgelegt hatten. Das war aber auch nicht weiter tragisch, denn unseres langen Armen und großen Händen, so stellte ich schnell fest, fiel es leichter, haltgebende Felsspalten und Vorsprünge zu finden.
So wagten wir uns als Erster der Oger an den Übergang. Die scharfen, eiskalten Steine bohrten sich bereits beim ersten Griff scharf in meine Hände. Doch ich blendete den Schmerz weitestgehend aus, denn meine Füße konnten wenig zum Halt beitragen – selten stand ich mit mehr als meinen Zehenspitzen auf bröckelndem Grund. So tasteten wir uns mühsam voran, den Rücken zum Abgrund und den Bauch eng an die Felswand gepresst – wobei ich wieder einmal feststellte, dass der einfach zu weit hervorschaute.
„Weiter, weiter!“, rief jemand ungeduldig.
Ich schaute überrascht auf und entdeckte Muonn, der in einer Felsnische kauerte. Er hatte ein zweites Tau um seine Hüften geschlungen, dessen Enden auf der einen Seite an einem Felsen befestigt war und auf der anderen Seite über dem Abgrund schwang.
„Na toll, jetzt wirds lustig“, fluchte er, als es uns sah. „Hey, Grom, kommandier‘ einen von deinen Grobianen ab, mich abzulösen. Ich werd‘ eure Wänste auf keinen Fall halten können!“
„In Ordnung!“, rief ich ihm zu. „Hinter mir ist Kun’zat, der wird mit seiner Kiste in der Nische keinen Platz haben.“
„Kun’zat, wer ist hinter dir?“, brüllte Morg in das Weiß hinein.
„Sol’aza“, tönte es zurück.
„In Ordnung. Sie löst den Menschen hier ab, verstanden?“
„Verstanden!“
„Also?“, rief Muonn ungeduldig.
„Wir und der nach uns gehen noch durch. Dann folgt eine Ogerin, die dich ablöst.“
Er schimpfte irgendwas vor sich hin, was ich nicht verstand, aber als Zustimmung auffasste. Ich tastete mich weiter vor und erkannte nun auch, warum Muonn hier postiert war: Die Stelle war tückisch, es gab kaum Platz zum auftreten und das gespannte Seil hatte nicht mit Ösen fixiert werden können.
„Bloß nicht abstürzen, Großer!“, grinste Muonn.
In mehreren Anläufen versuchte ich, Halt zu finden, doch es wollte sich nichts so recht anbieten. Als sich ein loser Brocken in meiner Hand löste und wir beinahe unseren Halt verloren, gestand ich mir ein, dass ich festsaß.
„Wir müssen springen“, rief Morg.
Ich musste lachen. „Tut mir leid, was? Ich habe ‚springen‘ verstanden.“
„Richtig gehört.“
Das Lachen blieb mir im Hals stecken. „Bist du verrückt? Wie sollen wir-?“
Doch Morg hatte keine Lust, zu diskutieren, übernahm kurzerhand die Kontrolle und katapultierte sich trotz der schlechten Haltemöglichkeiten in die Luft. Wie in Zeitlupe segelten wir durch die Luft, eng an der Felswand entlang, bis er schließlich zupackte und einen Felsspalt zu greifen bekam. Kurzzeitig hingen wir nur an einem Arm baumelnd über dem Abgrund, von der Nässe glitschige Salzkruste unter den Fingern. Doch Morg zog geschickt seine Beine heran, fand Halt und sicherte einen festen Stand.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit geschrien hatte. „Du Wahnsinniger! Wir hätten-!“
Doch er lachte nur. „Keine Zeit. Kun’zat, jetzt du!“
Ich schaute in das Gesicht von Muonn, der das Ganze ebenso ungläubig mit angesehen hatte wie ich. Ich schüttelte mein Entsetzen ab und versuchte mich auf Kun’zat zu konzentrieren, der nun schemenhaft im Schnee, jenseits des Schlunds auftauchte.
„Muonn, hilf ihm mit der Kiste“, sagte ich.
Der wickelte das Seil ein weiteres Mal um den Felsen und warf Kun’zat das freie Ende zu. Morg streckte ihm eine Hand so weit über den Abgrund entgegen, wie es ging.
Umständlich mit einer Hand am Seil, mit der anderen unermüdlich an der Felswand nach Halt suchend, begann Kun’zat, sich am Abgrund entlang zu hangeln. Die schwere Kiste verschob seinen Schwerpunkt ungünstig nach hinten.
„Weiter so, gleich hast du es!“, rief ich ihm zu.
Doch kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, geschah es: Kun’zat setzte zu einem Satz an, um die tückischste Stelle zu überwinden, da brach plötzlich unter seinem Fuß ein Stück Fels weg und er stürzte in die Tiefe – eine Hand breit, dann fing das Seil. Mit einem lauten Ächzen spannte es sich und die Schlinge um den Felsen zog sich zu wie eine Schlange um ihre Beute. Hastig warf sich Muonn ebenfalls in das Seil und stemmte sich dagegen.
Hilflos musste ich beobachten, wie Kun’zat, einem Fisch an der Angel gleich, über dem Abgrund baumelte. Es gab nichts, was Morg und ich hätten tun können; er war gerade so außer unserer Reichweite.
„Helft mir doch, verdammt!“, brüllte er, seine freie Hand dabei tastend über die schroffe Felswand huschend.
Morg streckte ihm seine Hand noch ein Stück weiter entgegen, doch es war hoffnungslos; es fehlte noch mindestens eine Armlänge.
„Wir... ähm... haben wir irgendwo ein Tau? Einen Haken? Irgendwas?“ Ich blickte mich hektisch um, ohne eine Inspiration zu entdecken.
„Verdammte Scheiße“, fluchte Muonn. „Du schuldest mir was, Dicker!“ Damit schlang er das freie Ende des Seils um einen weiteren Felsen, sodass es fixiert war, warf sich auf den Boden und begann, in Richtung der Felskante zu robben.
„Beeilt euch doch!“, rief Kun’zat, der mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
„Was hast du vor?“, brüllte ich in Muonns Richtung.
Er war inzwischen an der Kante angekommen und schob sich so weit vor, dass Kopf, Schultern und Arme über den Abgrund ragten. Kun’zat baumelte in einem guten Schritt Abstand unter ihm und war damit beschäftigt, mit einer Hand das Seil und mit der anderen die Kiste zu sichern.
Muonn griff nun nach dem Seil, das neben ihm über die scharfe Felskante verlief, und begann damit, es langsam in Schwingung zu versetzen. Anfangs kaum wahrnehmbar, wurden die Bewegungen doch zunehmend größer, wie ein Pendel das man mit jedem Durchgang zusätzlich anstieß.
„Gut so!“, rief ich. „Noch ein bisschen weiter!“
Kun’zat schwang nun mit weit ausladenden Bewegungen hin und her. Mit jeder maximalen Auslenkung, an der er kurz verharrte, um danach in die entgegengesetzte Richtung davon zu schwingen, kam er Morgs Hand ein Stück näher, bis er sie schließlich zu fassen kam.
„Hab dich!“, rief Morg und umklammerte den ausgestreckten Unterarm.
„Hab dich!“ Auch Muonn packte ihn fest an der Robe und versuchte, ihm zusätzlich Halt zu geben. In einer letzten Schreckenssekunde schien Kun’zat rudernd seinen neugewonnenen Halt zu verlieren, während die Schwerkraft sich nicht entscheiden konnte, ob sie seinen Schwerpunkt vor oder hinter dem Körper sah, bis er schließlich mit einem lauten Seufzer gegen die Wand sackte. Mit einem Fuß auf dem schmalen Absatz, den anderen frei in der Luft baumelnd, befand er sich in einem knappen, aber stabilen Gleichgewicht.
„Lasst uns das nicht noch einmal machen“, schnaufte er.
Ich musste lachen.
„Nein, das hat wohl keiner von uns vor.“
„Grom?“, unterbrach Morg.
„Was?“
„Die Kiste.“
Kun’zats Gepäckstück hatte sich durch das Schwingen am Seil aus seiner Verpackung gelöst. Das matte Metall schaute nun offen zwischen verschobenen Stoffbahnen und gelockerten Seilen hervor. Doch dieser Umstand allein war es nicht, der mich innehalten ließ – es war Muonn, der mit weit aufgerissenen Augen und abwesendem Blick darauf starrte.
Ein hauchdünnes, metallisches Quietschen durchbrach plötzlich die atemlose Stille, als sich der Deckel der Kiste einen Spalt weit öffnete. Muonns Hand, die sich unmittelbar daneben in den Stoff von Kun’zats Robe gegraben hatte, war weiß vor Anspannung.
„Muonn?“, flüsterte ich.
Keine Reaktion.
„Muonn! Du musst-!“
Doch es war zu spät. Ich sah, wie sich ein dünner Tentakel unter dem Deckel hervor schob und Muonns Arm fand. Sich mit unerwarteter Geschwindigkeit darum wickelte.
„Nicht gut!“, fluchte Morg.
„Was ist passiert?“, rief Kun’zat, der seinen Kopf hin und her warf und doch nichts sehen konnte.
Morg und ich hatten beide Hände voll, mussten uns mit der einen am Fels abstützen, mit der anderen Kun’zat sichern.
„Das Tentakel-Ding hat den Menschen!“
Ich versuchte nach wie vor durch reine Willenskraft, Muonns Blick auf mich zu ziehen. Doch der starrte mit offenem Mund unverändert gebannt auf den Tentakel und formte lautlose Worte mit seinem Mund. Nein, verdammt!
Unsäglich langsam löste er schließlich seinen Blick und ließ ihn zu mir wandern. Ein kurzer Moment des Hoffens. Seine Augen hefteten sich an meine. Die Hoffnung schmilzt dahin, wie eine der Schneeflocken auf diesen Salzoberflächen.
Ich schaute ich in das Antlitz der Königin. Muonns Gesichtszüge verzogen sich zu einem bizarren Lächeln, das mich verspottete. In aller Seelenruhe tastete Muonn mit der freien Hand an seinem Bein entlang und beförderte schließlich einen scharfen Dolch in mein Blickfeld.
„Nein! Du kannst sie bekämpfen! Wehre dich!“, flehte ich ihn an. Doch nichts deutete darauf hin, dass der Mensch Muonn für die Worte empfänglich war.
Mit unverändertem, seligen Lächeln setzte er kurzerhand den Dolch am Seil an und begann, zu sägen.
„Will er etwa-?“, rief Kun’zat panisch. Doch weiter kam er nicht mehr.
Lautes Schnalzen verkündete die Kapitulation des gespannten Seils vor der scharfen Klinge. Verzweifelte Hände suchten einander, während die Schwerkraft in aller Ruhe ihr gnadenloses Werk begann. Hände fanden einander, doch im Bewusstsein war die Gewissheit längst angekommen. Es gab keinen Ort, an den wir ihn hätten retten können. Er war unser größter und stärkster Krieger, noch schwerer als Morg und ich. Unter keinen Umständen hätten wir ihn halten können. Hände lösten sich voneinander.
Wir konnten nichts anderes tun, als der Katastrophe zuzusehen. Kun’zat fiel. Anfangs langsam, dann schneller und schneller. Zusammen mit Muonn, der unverändert in die Robe gekrallt war, rauschte er in die Tiefe.
„Kun’zat“, flüsterte ich. Wortlos und entschlossen erwiderte er meinen Blick, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Zurück blieb nichts als dichtes Schneetreiben und das Rauschen des Windes.
„Er hat das Seil einfach so durchgeschnitten? Muonn?“, fragte Mina.
Ich nickte in die Dunkelheit hinein. Der unterspülte Pfad hatte uns mehrere Stunden gekostet, weswegen wir erst lange nach Sonnenuntergang an unserem Platz für diese Nacht angekommen waren. Der nackte Fels um mich herum wirkte noch trostloser als sonst.
„Nein, nicht er. Die Königin. Muonn war... nicht er selbst.“
„Tut mir leid für euch... um Kun’zat.“
„Das ist keine Art für einen Krieger, zu sterben“, brummte Morg.
Mina nickte nur.
„Was sagt Valerius dazu?“, wollte ich von ihr wissen.
„Nun, sie ist nicht gerade... glücklich darüber.“
„Natürlich nicht! Wer ist das schon? Ihr Plan, dieses verdammte Ding mitzubringen, hat nun zwei Leben gekostet! Und wir können von Glück reden, wenn die Königin nicht herausgefunden hat, wo wir sind und was wir vorhaben.“ Ich fühlte meinen Frust und meine Trauer in Zorn umschlagen.
„Ich verstehe, was du meinst.“
„So? Verstehst du das, Leutnant?“, meldete sich eine wohlbekannte, weibliche Stimme aus der Dunkelheit. Mina schreckte hoch. „Ich denke, was ihr beide hier nicht versteht, ist, welche absolute Katastrophe der Verlust dieser Kreatur für uns ist.“ Valerius‘ Stimme war ruhig, aber von eisiger Kälte durchdrungen.
„Es sind zwei von unseren Besten gestorben!“, bellte Morg. „Wen kümmert schon dieses Ding?“
Oberst von Banthal, der hinter ihr zum Vorschein kam, legte demonstrativ seine Hand an den Schwertknauf.
„Richtig. Zwei Krieger sind gestorben. Weißt du, wie viele nun sterben werden, weil uns der unbezahlbare Vorteil abhandengekommen ist, die Bewegungen des Feindes zu überwachen? Tausende! Ich habe euch einen einzigen Auftrag gegeben: Hütet diese Kiste.“
Sie ließ ihren Blick zwischen Morg und mir hin und her wandern.
„Ihr habt versagt. Und damit vielleicht diese ganze Operation zum Scheitern verurteilt.“ Die Muskeln ihres Kiefers arbeiteten und es sah aus, als wollte sie noch etwas hinzufügen. Doch schließlich drehte sie sich einfach um und ging.
Der Oberst hielt noch einen Moment inne, nickte uns schließlich kurz zu und folgte dann dem König.
„Denkst du genau so?“, fragte ich Mina, mit aufsteigendem Zorn ringend.
Sie zögerte einen Moment zu lange mit der Antwort. „Natürlich nicht. Das war eine brenzlige Situation und wer hätte schon-?“
„Ist schon in Ordnung“, unterbrach ich. Ich wandte mich dem Feuer zu und schaute den kleinen Ästen zu, die knackend von der Glut verzehrt wurden. Als ich das nächste Mal aufsah, war Mina verschwunden. Hatte sie noch etwas gesagt? Ich wusste es nicht.
Der Vorfall sprach sich schnell unter herum – der Tod Kun’zats und der Verlust der Kiste, die uns als hoheitlicher Auftrag anvertraut worden war. Die Stimmung war entsprechend schlecht am nächsten Morgen. Nicht nur bei uns, auch bei den Menschen. Es gab kaum Gespräche, ein Lächeln suchte man vergebens. Als sich der Tross schließlich, mühsamer als sonst und sich missmutig gegen die Kälte stemmend, in Bewegung setzte, blickte ich ausschließlich in dick verhüllte Gesichter, in denen nur die Augen durch dünne Schlitze zu sehen waren.
Schweigend und in Gedanken vertieft setzten wir unseren Weg fort. Immerhin machte es das Wetter nicht zusätzlich mühsam: Der Himmel war aufgeklart und ein tiefblaues Firmament empfing die aufgehende Sonne. Ich hatte jegliche Orientierung verloren, wie weit wir bereits vorangekommen waren. Es war gerade einmal der dritte Tag auf dem Salzpfad und er hatte bereits solch immense Opfer gefordert, dass ich mir nicht ausmalen wollte, was noch alles passieren würde, sollten wir länger als die ursprünglich geplanten fünf Tage benötigen.
Wir quälten uns durch den Tag, die Trübsal unser größter Feind. Ein Mal schloss Razzhiv zu uns auf und wechselte einige Worte mit Morg, hakte sich bei ihm ein, versuchte, ihn aufzuheitern; doch mir stand der Sinn nicht danach und so vergrub ich mich in meiner eigenen Welt.
Ich versuchte, mir unseren Sieg auszumalen, und die Zeit danach. Wie würde es uns gehen, ohne den beständigen, immerwährend drohenden Lockruf der Königin in unserem Inneren? Würden wir jemals wieder wirklich frei sein? Würden wir es schaffen, zu unseren alten Traditionen und Bräuchen zurückzukehren, die die Keszz so sehr bemüht waren, uns abzugewöhnen? Ein weiteres Mal dachte ich an Gol’dar zurück, die so tief in den Fängen der Häscher gesteckt hatte, dass sie nicht mehr zu retten gewesen war. Und doch hatte sie ein tiefes Loch hinterlassen; vielleicht noch nicht jetzt, doch irgendwann würden wir uns nach jemandem sehnen, der all unsere Geschichten und Sagen, Mythen und Lehren kannte. Einen Seher.
„Na, Großer?“, sagte jemand.
Ich schaute mich blinzelnd um und entdeckte Hidda, die neben mir ging und zu mir aufschaute.
„Oh. Hallo! Entschuldige, hab dich gar nicht kommen sehen.“
„Habe ich gemerkt.“ Sie grinste mich an, offenbar bemüht, eine unbeschwerte Atmosphäre aufzubauen.
„Wie läuft es bei euch da vorne? Wie geht es den anderen?“, wollte ich von ihr wissen.
Sie seufzte schwer, was sogar über das Heulen des Windes zu hören war. „Ach. Muonns Verrat lastet schwer auf uns allen. Die Lintbrut ist gerade nicht das, was sie mal war.“
„Wie meinst du das? Verrat?“ Ich schaute erstaunt zu ihr herüber.
„Na ja... er hat doch das Seil durchgeschnitten, an dem einer von euch hing, oder?“
„Ja. Schon. Aber er stand unter dem Einfluss der Königin. Sie hat seine Hand geführt.“
„Ich weiß. Und doch...“ Sie stockte.
„Ja?“
„Ach, ich weiß es nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, er hätte sich dagegen wehren müssen. Ich weiß!“ Sie hob abwehrend die Hände. „Ich tue ihm sicherlich unrecht und ich kann auch kaum beurteilen, wie es ist, wenn etwas in deinen Kopf eindringt und dich unterwirft... Aber ich komme nicht umhin, zu denken, dass er dabei ein Stück Genugtuung empfunden hat. Du weißt doch am besten, wie er war.“
„Ein Idiot.“
Sie lachte leise auf. „Richtig. Ein Idiot.“
Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Sie hatte einen dicken Schal um den Hals gewickelt, ihre Mütze tief ins Gesicht gezogen.
„Wie hieß der Oger, der die Kiste getragen hat?“, wollte sie irgendwann wissen.
„Kun’zat.“ Ihre Frage überraschte mich.
„Erzähl mir von ihm!“
Ich schaute sie aus dem Augenwinkel an, ob das ernstgemeint war. Doch ich erkannte kein Anzeichen von Ironie oder Hohn, ihr dick verhüllter Kopf war stur geradeaus gerichtet. Also erzählte ich von ihm – Kun’zat, einem der stärksten Kämpfer, den wir je hatten.
Wir gingen den gesamten restlichen Tag nebeneinander her. Mal redeten wir, mal schwiegen wir. Auch wenn ich nicht genau verstand, warum, so tat mir ihre Gesellschaft doch gut. Selbst über die belanglosesten Dinge zu reden, wie das unausstehliche Wetter, reichte schon aus, um meine trüben Gedanken zu vertreiben. Und so, als wir am Abend erneut auf die windabgewandte Seite der Bergkette wechselten, um unser Nachtlager aufzuschlagen, spürte ich die Erleichterung in mir, wie sie der nachlassende Schmerz einer frisch zugefügten Wunde auslöst.
„Sieh‘ mal, da unten“, bemerkte Hidda und zeigte auf das entfernte Ende des bereits im tiefen Schatten liegende Tal. Ich folgte ihrem Hinweis und entdeckte vereinzelte kleine Feuer, die in der Dunkelheit aufglommen.
„Sullain?“
„Ja. Sieht so aus, als hätte er seinen Vormarsch begonnen.“
Wir standen eine Weile dort und betrachteten die lautlos leuchtenden Zeugnisse eines Konflikts, der im Moment sehr weit weg schien.
„Das bedeutet wohl, die Dinge sind nun im Gange.“
Sie lachte dumpf. „Allerdings. Oder hattest du vor, umzukehren?“
„Natürlich nicht. Es ist nur... es fühlt sich soweit weg an. Und doch steuern wir alle mit riesigen Schritten unaufhaltsam auf die große Entscheidung zu.“
Sie nickte ernst. „Allerdings. Vielleicht sollte ich mich auch langsam mal wieder bei Mina und den anderen blicken lassen. Sicherlich gibt es manches zu besprechen.“
„Ja. Ich auch.“
„Also dann, Grom. Man sieht sich.“ Sie hob eine Hand zum Gruß und machte sich auf den Weg.
„Hidda?“, rief ich ihr noch hinterher.
„Ja?“
„Danke.“
Sie schüttelte nur leicht den Kopf, warf mir ein letztes Lächeln zu und verschwand hinter einem niedrigen Busch.
„Du hattest jetzt dein Weib für den Tag, da gehört mir die Nacht, richtig?“, grunzte Morg.
Ich drehte mich zu ihm um und entdeckte Razzhiv, die mit künstlich ausladendem Hüftschwung auf uns zukam.
„Mein Weib? Das ist wohl eine völlig andere...“ Ich seufzte laut. „Na, wenn du meinst. Aber seht zu, dass ihr wenigstens ein bisschen Schlaf bekommt, ja?“
„Ja, Papa“, äffte sie und schlang ihre Arme um Morgs Hals. „Ich habe deine Berührungen vermisst“, flüsterte sie in sein Ohr, wohl in der Hoffnung, dass ich es nicht mitbekommen würde.
Morg grunzte vieldeutig und schob seine Hände ganz langsam unter ihre dicke Fellrobe. Doch Razzhiv schob seine Hände weg und schaute ihm tief und fest in die Augen.
„Es... könnte eine unserer letzten Nächte sein. Ich will dich spüren. Ganz nah.“ Sie nahm seine Hand und lotste sie unter ihre Robe, dorthin, wo ihr Herz in der Brust schlug.
Bei Tÿl! Ich wusste, warum keiner von uns bisher eine Liebschaft hatte, oder eine Beziehung oder... wie immer man das nennen mochte, was die beiden da taten. Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden, und wusste nicht, wo ich hinschauen sollte!
Morg wurde ernst und erwiderte fest ihren Blick. „Ich weiß. Wir werden das überstehen. Keine Sorge.“
Sie waren liebevoll und zärtlich miteinander. Und so sehr ich mich auch anstrengte, schaffte ich es in dieser Nacht nicht, mich völlig zurückzuziehen – und auch nicht, das Gesicht einer bestimmten Menschenfrau aus meinen Gedanken zu verbannen.
Dein Weib, hallte Morgs Stimme in meinem Traum lange nach.
„Guten Morgen, Prinzen und Prinzessinnen!“, donnerte die Stimme des Oberst. Er sah sich streng unter den versammelten Befehlshabern um, von denen jeder einzelne noch einen Hauch mehr Haltung in seinen Körper zu bringen versuchte. „Ich hoffe, ihr habt euren Schönheitsschlaf gehabt, denn nun ist es vorbei mit dem Müßiggang. Wird Zeit, dass ihr Mal wieder was zu tun bekommt.“ Er zügelte seine forsche Art ein wenig und fuhr ruhig an Tomasz gewandt fort. „Herr Minister, Sie haben das Wort.“
„Danke, Jest. Den wenigsten von euch dürften in der Nacht die Feuer entgangen sein, die im Tal aufgelodert sind.“ Er deutete mit einem ausgestreckten Arm ins Tal, wo aber die aufgehende Sonne kaum noch etwas erkennen ließ. „Sollte eure Vermutung gewesen sein, dass das unsere Truppen unter dem Fürsten sind, so habt ihr Recht. Wie vereinbart hat er den Vormarsch in Richtung Unholm begonnen und wird dabei möglichst viel Unruhe verursachen, um die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich zu ziehen. An diesem Punkt können wir nur hoffen, dass es auch funktioniert.“ Unsere Blicke trafen sich für einen Moment, seine Augen voll von kaum verhohlener Anklage.
„Wir haben heute den längsten Abschnitt des Salzpfades vor uns. Die Vorhut berichtet, dass zum Glück keine Hindernisse zu erwarten sind. Das heißt für uns: Tempo machen! Noch vor Einbruch der Dunkelheit will ich jeden Einzelnen von uns von dieser unseligen Klippe weghaben. Späher sind bereits vorausgeschickt, um die Position der Königin zu verifizieren.“ Wieder ein Blick, der Bände sprach.
„Wenn alles so läuft wie geplant, werden wir uns vielleicht schon morgen auf dem Schlachtfeld wiederfinden und diesem ganzen Spuk ein Ende bereiten.“
Er übergab wieder an von Banthal.
„Ihr habt den Mann gehört. Das heißt für euch und eure Leute: Habt eure Rüstung poliert und die Waffen geschärft. Bei allem Tempo heute, denkt auch daran, euch Ruhepausen zu gönnen. Keinen Schnaps heute Nacht, sodass ihr ausgeruht seid! Nächste Lagebesprechung heute Abend. Wegtreten.“
Es sollte ein harter letzter Tag werden. Obwohl Petrus gnädig mit uns war, erlaubte uns der ununterbrochene Ansturm aus Gischt, Salz und Wind kaum ein Quant Körperwärme. Unbarmherzig kroch die feuchte Kälte in jede Pore und machte so lange nicht Halt, bis sie Kontakt zur Haut gefunden hatte. Wie ein Parasit kroch sie unablässig über unsere Körper, bis sie den letzten Fingerbreit trockener Haut gefunden hatte und auch dort begann, uns Wärme abzusaugen.
Es war nun nicht mehr der Weg selbst, der Leben forderte, sondern die Erschöpfung. Insbesondere derer, die sich an den Tagen zuvor eine Verletzung zugezogen hatten, verstauchte Glieder oder Erfrierungen. Nicht nur ein Mal kam ich an einem leblosen Körper vorbei, der notdürftig mit Fellen bedeckt worden war. Irgendwann würde jemand zurückkommen müssen, um sie zu bestatten.
Das hohe Tempo, das wir an den Tag legten, forderte also seinen Tribut, doch es wirkte. Irgendwann wurden die bizarren, bis zu zwei Schritt hohen Salzstrukturen kleiner und weniger, der unablässige Wind ebbte ab und der kahle Fels wechselte zu kargem Buschland. In stockfinsterer Nacht ließen wir uns an unserem Bestimmungsort schließlich zu Boden fallen.
Wir hatten es geschafft, der Salzpfad war bezwungen! Viele machten sich kaum noch die Mühe, ein Feuer zu entzünden, sondern schliefen an Ort und Stelle ein.
Nachdem wir Un’ro die nötigsten Anweisungen übermittelt hatten, schlugen Morg und ich uns nach vorne durch, wo wir uns wie vom Oberst befohlen einfinden sollten. Als wir zwischen den versprengten Lagern der Menschen hindurchgingen, kam ich nicht umhin, ihre Hartnäckigkeit zu bewundern. Für uns Oger war der Pfad schon nicht gerade ein Spaziergang gewesen – wie musste es da erst den Menschen ergangen sein?
Als ich zu den anderen stieß, dem Oberst, Minister Tomasz, Mina, Generalin Dahla, und noch einigen anderen Befehlshaber mittleren Ranges, wurden gerade die Verluste notiert. Der Oberst nickte ernst und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf uns.
„Verluste bei euch?“
„Heute? Keine, Oberst.“
„Na immerhin.“ Er notierte etwas auf einem kleinen Zettel. „Somit hat uns der Salzpfad zweiundfünfzig Mann gekostet.“ Er sagte das wie ein Kaufmann, der Inventur macht, warf jedoch einen vorwurfsvollen Blick zu Generalin Dahla.
„Ich habe meine Bedenken im Vorfeld klar geäußert“, erwiderte die. „Dass dies kein Spaziergang würde, war allen Beteiligten klar. Herr Oberst.“ Sie schaute den rangniederen Offizier kühl an.
„Die gute Nachricht ist, wir haben es geschafft“, fuhr der Oberst versöhnlich fort. „Weiterhin berichten unsere Kundschafter, dass die Keszz offenbar auf unsere Finte hereinfallen und sich in großer Zahl in Richtung Norden aufgemacht haben.“
Ich schaute mich um und versuchte, zwischen den niedrigen Büschen und kleinen Bäumen hindurch etwas im Tal zu erkennen. Doch nichts, keine Feuer, kein Lärm.
„Ausgezeichnet“, bemerkte Dahla. „Habt ihr schon einen Boten zu Sullain geschickt?“
„Nein“, übernahm Tomasz. „Der Feind verhält sich genau so, wie wir es antizipierten. Es gibt keinen Grund, einen Boten zu verschwenden, um das Offensichtliche mitzuteilen.“
Sie stutzte einen Moment. „Minister, bei allem Respekt, aber er ist auf derartige Berichte angewiesen.“
„Wenn er ein halbwegs tauglicher Feldherr ist, wird er selbst Kundschafter aussenden“, bügelte der ihren Einwand ab. „Und nun Schluss damit, wir haben schließlich eine andere Aufgabe zu erfüllen. Jest?“
Der Oberst ergriff erneut das Wort und ignorierte den säuerlichen Gesichtsausdruck der Generalin. „Wenn deine Schilderungen bezüglich ihres Aussehens so stimmen, Grom, dann haben wir die Königin tatsächlich ausfindig machen können.“ Er nahm ein kleines Stöckchen und ritzte große und kleine Kreise in den Schlamm. „Hier sind wir. Und das ist Unholm. Die Königin befindet sich hier, ein ganzes Stück südlich der Stadt.“ Er zeigte auf den entsprechenden Kreis.
„Was ist dort?“, fragte ein Leutnant.
„Nichts. Wildnis. Warum sie sich dort aufhält? Frag mich was besseres.“
„Hat vielleicht mit dem Gestein zu tun?“, murmelte Morg. Ich schaute ihn an und nickte.
„Hast du etwas beizutragen Soldat? Dann tu es in unserer Sprache.“
„Oberst... Morgs Vermutung ist, dass es dort vielleicht eine große Menge von dem Stein geben könnte.“
„Ah. Richtig. Dieser Kristall, der eine Verbindung zwischen den Welten herstellt, ja? Nun, wieso nicht. Am Ende spielt es keine Rolle: Wir werden sie dort überraschen und vernichten. Oberstes Gebot ist, unentdeckt zu bleiben. Prägt euch und euren Leuten das ein: Un-ent-deckt.“
Er machte eine Pause und ließ seine Worte wirken.
„Sullains Ablenkung wird umsonst gewesen sein, wenn wir so tölpelhaft sind und uns einen Tag im Voraus ankündigen. Nein, wenn die Königin uns bemerkt, müssen wir sie bereits eingekesselt haben. Wir dürfen sie nicht entkommen lassen. So eine Gelegenheit präsentiert sich uns nicht wieder.“
Alle nickten. Der Ernst der Lage senkte sich wie ein schwerer Mantel über uns.
Wir erörtern im Folgenden noch detaillierte Taktiken, wie wir die zwei Tagesmärsche unentdeckt zurücklegen konnten, und gingen dann auseinander. Die totenstille, stockfinstere Nacht dröhnte hell in meinem Kopf.