Die beiden Gestirne lieferten sich einen glorreichen Kampf. Dunal, der violette Zwerg, leistete erbitterten Widerstand gegen seinen übermächtig scheinenden, glutroten Gegner, Atal. Und doch triumphierte Dunal, bezwang kurz vor seiner Auslöschung den Riesen und schickte ihn in die Unterwelt, wohin er mehrere Zyklen verbannt bleiben würde, bis er auf der anderen Seite neu geboren und der Kampf aufs Neue entbrennen würde. So war es heute Nacht, so würde es für immer sein.
„Selbst, wenn wir alle nicht mehr sind“, murmelte sie und zog die Gardine zu. Dunals schummriges Licht verlosch augenblicklich und tiefe Dunkelheit stellte sich in dem Zimmer ein.
„Aber Mami, wo sollen wir denn sein, wenn wir nicht mehr sind?“, fragte Lenzuj.
„Das erkläre ich dir ein anderes Mal“, wich Mandji sanft aus und zog ihrer Tochter das Fell bis weit unter das Kinn. „Nur so viel: Wir alle fahren auf zu Dunal und unterstützen ihn in seinem Kampf. Und jetzt schlaf!“
„Nacht, Mami“, murmelte sie schläfrig und kuschelte sich in ihr Bett.
Mandji drückte ihrer Tochter noch einen Kuss auf die Wange, stand vom Bett auf und zog schließlich den schwere Vorhang hinter sich zu, als sie in die Wohnstube ging.
„Schläft sie?“, fragte Rallut und schaute mit einem leicht erschöpften Gesichtsausdruck zu ihr herauf. Mandji konnte sich nicht helfen und musste lachen, einen derart rührseligen Eindruck machte ihr Mann. Schnell hielt sie sich eine Hand vor den Mund, um Lenzuj nicht aufzuwecken.
„Ja. Zumindest fürs Erste“, seufzte sie und ließ sich neben ihm auf dem Boden in das weiche Fell fallen. Er nickte und widmete sich wieder seiner Arbeit, stopfte mit zwei Händen Löcher in einer seiner Hose und hielt in den anderen beiden noch ein Buch.
„Was liest du da?“, wollte Mandji wissen und streckte behaglich ihre Beine aus. Das kleine Feuer in der Mitte der Hütte wärmte angenehm ihre Fußsohlen. Sie betrachtete kritisch ihre Beine, spannte ihre Muskeln an, betrachtete deren Spiel unter ihrer straffen, grünlich-bronzenen Haut. Für mein Alter bin ich doch eigentlich noch ganz gut in Form, dachte sie zufrieden.
„Ach, nichts. Etwas über neue Anbaumethoden“, murmelte er und klappte das Buch zu. „Langweiligen Kram würdest du das nennen.“ Er grinste sie an.
„Weißt du“, sagte sie und drehte sich behäbig zu ihm um, ihren Oberkörper auf einen Ellenbogen gestützt. „Ich sehne eine Welt herbei, in der wir uns ausschließlich um solche Dinge kümmern können. Aber die scheint mir weiter weg denn je.“ Trübsal schlich sich in ihre Stimme.
Er legte nun auch Hose und Flickzeug beiseite, wandte ihr seine volle Aufmerksamkeit zu. „Mein Drahn, es kommen auch wieder bessere Zeiten. Irgendwann wird es keine Stämme, keine Völker mehr geben, dann sind wir alle eins. Bayunn, wir alle.“
Sie legte sich flach auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. „Ja, das sagst du jedes Mal. Du musst auch langsam mal deine Versprechen einlösen, mein Druhl.“
„Hab Geduld“, flüsterte er und beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen langen, leidenschaftlichen Kuss. Ihre spitzen Zähne stießen leidenschaftlich klirrend aneinander.
„Und sei immer die Stimme der Vernunft, auch wenn du nur von dickköpfigen Kriegern umgeben bist“, flüsterte er, nachdem er sich von ihr gelöst hatte.
„Ja, aber...“, maulte Mandji und wollte Widerspruch einlegen. Doch Rallut brachte sie mit einem weiteren Kuss zum Schweigen und rollte sich über sie. Er presste ihre Hände über ihrem Kopf in das Fell. Seine anderen beiden Hände begannen langsam, sich an ihren Oberschenkeln hinauf zu arbeiten. Ein lustvolles Zittern durchfuhr ihren gesamten Körper. Er wusste genau, was er mit seinen Händen machen musste, um sie um den Verstand zu bringen!
„Aber... aber...“, hauchte sie atemlos und versuchte, sich spielerisch aus seinem Griff zu befreien. Sie war wesentlich kräftiger als er, jedoch besaß er schlicht doppelt so viele Arme wie sie – der Ausgang wäre offen. Außerdem genoss sie diese Spielerei zwischen ihnen, das Spiel um Macht und Dominanz, viel zu sehr, um sich ernsthaft zu wehren. Seine Hände tasteten sich weiter ihre Schenkel empor, unter ihren Schurz und griffen schließlich fest in ihr Gesäß. Mandji stöhnte auf, krallte sich in seinen Händen fest, sodass er scharf einatmete. Er presste drängend seinen Unterleib gegen ihren.
Er schaffte es einfach immer wieder, sie aufzubauen.
Am nächsten Tag stand Mandji in strammer Haltung vor ihrem Trupp und wartete darauf, dass das Treffen der beiden Häuptlinge beginnen möge. Sie ließ ihren Blick schweifen und kam erneut nicht umhin, die Vielfalt ihres Volkes zu bewundern: Dort stand Bolm, seine Beine waren übermäßig lang, was ihn zu einem ausgezeichneten Späher und Boten machte; Golok, er hatte, genau wie Rallut, vier Arme und pflegte in jedem von ihnen je ein langes Messer zu schwingen; Siljut, zwei Köpfe, besaß unangefochtene Übersicht auf dem Schlachtfeld. Und schließlich sie selbst, Mandji, zwar ohne doppelte Gliedmaßen und verhältnismäßig klein, dafür aber mit einer Agilität, Ausdauer und Kraft, die sie aus jedem Zweikampf siegreich hervorgehen ließen – zumindest bis jetzt.
Unsere größte Stärke und zugleich Ursprung aller Zwietracht: die Vielfalt. Warum begreifen sie alle nicht, dass wir im Kern doch alle Bayunn sind, ein Volk? Wie viele Arme jemand hat, das sind doch nur Äußerlichkeiten!
Sie riss sich aus ihren Gedanken und konzentrierte sich auf das, was vor ihren Augen geschah: ein Mann und eine Frau, die sich grimmig dreinblickend gegenüberstanden. Sie waren die Ältesten, die dabei waren, in Friedensverhandlungen einzusteigen und über den Verlauf des heutigen Tages und damit über das Schicksal Dutzender Leben zu entscheiden. Wieder einmal.
Mandji knurrte unzufrieden. Wie oft hatte sie hier schon gestanden, am Kopfe ihrer Truppe von Kriegern, exzessiv herausgeputzt, um dem Gegner ein möglichst furchterregendes Schauspiel zu liefern. Als ob sie sich davon beeindrucken ließen!
Ihre Augen wanderten zu den anderen Kriegern, die jenseits der beiden Häuptlinge aufgereiht standen, mit polierten Rüstungen und blitzenden Waffen. Genau wie sie. Entweder, wir sitzen heute Abend bei Hartbeerenwein zusammen und amüsieren uns prächtig, oder wir schlitzen uns gegenseitig die Kehlen auf. Ich weiß, was mir lieber wäre, aber das habe ich nicht zu entscheiden.
Die Verhandlungen der beiden Ältesten ging hin und her, wurde hitzig, dann wieder versöhnlich. Zwischenzeitlich sprang einer vom Stuhl auf, hatte die Unterredung fast schon abgebrochen, kam dann doch wieder zurück. Es war nervenaufreibend, für alle Beteiligten. Lange Zeit sah es nicht gut aus, doch irgendwann nickten sich die beiden versöhnlich zu, griffen sich einander am Handgelenk und tranken zusammen auf den Frieden. Mandji und die Krieger brachen in Jubel aus.
„Es wird also Wein“, seufzte sie erleichtert.
„Oh ja“, stimmte Bolm von weit oben herab zu. „Bis wir das nächste Mal hier stehen. Ich sage es dir, ich bin langsam zu alt dafür.“
Mandji brach in helles Gelächter aus. „Du bist doch noch ein regelrechter Jungspund und hast überhaupt kein Anrecht auf Beschwerde.“ Sie gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm. „Also, dann werde ich mal Diplomatie auf der nächstniederen Hierarchiestufe begehen. Bereitest du schon mal alles vor? Genug Wein und Braten, du weißt schon.“
„Ja, ja“, schob er sie ungeduldig von sich weg. „Konzentrier‘ du dich auf deine Aufgabe.“
Dann schauen wir mal, an wen wir heute geraten, dachte sie, als sie widerwillig auf einen der anderen Befehlshaber zuging. Sie pickte sich willkürlich einen Beliebigen heraus und blieb schließlich an einer Frau hängen, die gerade gutgelaunt mit ihren Untergebenen schäkerte. Als Mandji sich bis auf einige Schritte genähert hatte, verstarb das Gelächter und die Soldatin wandte sich ihr zu. Sie war eine attraktive Frau, ein ganzes Stück größer als Mandji, mit einem einnehmenden Lächeln. Sie machte sich jedoch keine Illusionen, dass sie einer erfahrenen Veteranin gegenüberstand, die schon oft ihre Klinge mit Blut benetzt hatte; die unzähligen Narben auf ihrer blass-blauen Haut glitzerten beinahe im Licht des Zwillingsgestirns.
„Atonarch Mandji“, stellte sie sich vor und verbeugte sich leicht. „Es sieht wohl so aus, als würden wir alle einen weiteren Tag erleben.“
„Ja, ein Jammer, nicht wahr?“, erwiderte die andere Frau, unverändert lächelnd. Sie musterte Mandji von oben bis unten. War das etwa Anerkennung in ihrem Blick?
„Atonarch Curin.“ Die Frau streckte die Hand zum Gruß aus, wofür sie sich ein Stück weit nach unten beugte und so überdeutlich klarmachte, dass sie sich für überlegen hielt. Manchmal verfluchte Mandji ihre mangelnde Körpergröße.
„Ich möchte dich und die Deinigen einladen, mit uns den Tisch zu teilen, wie es der Brauch will. Lasst statt Blut heute Wein fließen und das einzige, was zerschnitten wird, soll Brot sein.“ Mandji ergriff die ausgestreckte Hand und erkannte mit Genugtuung, dass Atonarch Curin unter dem Druck leicht zusammenzuckte.
„Ich fühle mich geehrt von deiner Einladung, muss aber höflichst ablehnen. Verzeiht, ich möchte euch nicht zur Last fallen.“
„Es ist kein Umstand, ich bestehe darauf“, blieb Mandji hartnäckig.
„In diesem Fall nehme ich an. Es ist mir eine Ehre.“ Curin verneigte sich tief.
Formalitäten beendet, dachte sie. Mandji machte eine einladende Handbewegung und bedeutete ihr so, ihr zu folgen.
„Ich habe schon so manches von dir gehört, Atonarch“, sagte Curin in einem plauderhaften Tonfall. „Du sollst im Zweikampf unbesiegt sein. Wenn ich ehrlich sein darf, habe ich mir dich größer vorgestellt. Verzeih, ich will nicht unhöflich sein.“ Sie war äußerst gut gelaunt.
„Keine Sorge. Um ehrlich zu sein, ist das sicherlich auch das Geheimnis meines Erfolgs. Meine Gegner neigen dazu, mich zu unterschätzen. Aber psssst“, erwiderte Mandji und zwinkerte der Frau zu.
„Meine Lippen sind versiegelt. Ach“, seufzte sie, „bin ich froh, dass dieses ganze Theater vorbei ist.“ Sie deutete grob in die Richtung des Platzes, wo die Unterredung soeben zu Ende gegangen war. „Mich langweilt sowas. Ich verstehe nicht, warum immer so viel geredet wird.“
Mandji stutzte ein wenig. „Nun, liegt das nicht auf der Hand? Dadurch haben wir eine Menge Blutvergießen verhindert. Wenn unsere Ältesten sich nicht geeinigt hätten, würden wir uns nun im Kampf gegenüberstehen.“
„Aber wäre das nicht viel erstrebenswerter?“, rief die Frau mit einem Mal euphorisch. „Man lernt einander doch erst so richtig kennen, wenn man im Kampf auf Leben und Tod miteinander verbunden ist!“ Mandji glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. „Denk doch mal darüber nach! Ich kann mich beispielsweise an jeden Einzelnen erinnern, den ich im Kampf besiegt habe. Sie leben sozusagen in meinen Erinnerungen fort, auch wenn die meisten tot sind. Der Moment, wenn das Leben in den Augen deines Gegenübers verlischt, lässt dich und ihn auf Ewigkeit verschmelzen.“ Sie hielt inne und zügelte sich ein wenig.
„Weißt du“, sagte sie schließlich, „an wie viele Bayunn ich mich hingegen erinnere, mit denen ich derartige Gespräche wie dieses hier geführt habe? Diplomatische Gespräche?“ Das Wort klang aus ihrem Mund wie eine Beleidigung. „Die kann ich an einer Hand abzählen. Oh, aber keine Angst, du wirst mir sicherlich im Gedächtnis bleiben.“ Sie lachte erneut.
Mandji stutzte, wie genau sie das verstehen sollte, beschloss dann aber, es einfach zu ignorieren. Ebenso wie die irritierende Art der Frau, Gewalt zu glorifizieren. Das hier war schließlich Diplomatie und keine Freundschaftswerbung.
„Du ehrst mich, Atonarch“, erwiderte sie schließlich nebulös, was Curin mit einem wortlosen Nicken quittierte.
„Also sag‘! Was ist eure Spezialität? Ich habe Durst“, änderte die Frau abrupt das Thema und grinste Mandji wild an.
Die dunkelste Stunde des Tages war angebrochen – es war spät. Dunal hatte sich bis knapp hinter den Horizont zurückgezogen und warf nur noch ein schummriges Zwielicht auf die Welt und Atal war noch nicht einmal zu erahnen.
Entsprechend weit fortgeschritten war auch das Trinkgelage. Als sich Mandji mit fahrigem Blick umschaute, sah sie viele ihrer Kameraden bereits schlafen, an Ort und Stelle zusammengesunken mit einem halbvollen Kelch in der Hand oder ganz auf dem Boden. Den Gästen ging es da nicht viel anders.
Curin lehnte sich soeben zu Siljut herüber, legte ihm einen Arm um die Schulter und verschütte ihren Krug zur Hälfte über seine Hose. Sie kicherte laut und flüsterte ihm danach etwas ins Ohr.
Natürlich ist sie noch wach, dachte Mandji.
Sie schaute sich weiter um, sah kaum noch jemanden aufrecht sitzen, geschweige denn stehen. Die Häuptlinge hatten das Brauchtum auf das Nötigste beschränkt und waren schon nach einem Krug Wein verschwunden. Das Gelage überließen sie den niederen Rängen.
„Frau Atonarch“, lallte Siljut grob in ihre Richtung, „ich empfehle m-mich für die N-acht. Fall-lls Sie noch w-was brauchen... äh, wenden Sie sich an jemand anders.“ Er lachte und zog Curin beim Aufstehen hinter sich her. Oder stütze sich auf ihr ab. So genau war das nicht mehr auseinanderzuhalten.
„Ich, ähem, sehe mal zu, dass er heile nach Hause kommt, nicht?“, kicherte die und hakte sich bei ihm unter. Ein wenig überrascht schaute Mandji den beiden hinterher, die gackernd und miteinander flüsternd in der Dämmerung verschwanden. Obwohl sie es nicht gerne sah, wenn ihre Leute derart intim mit – ja, man musste es einfach so sagen – dem Feind wurden, so war sie doch froh, diese Frau von der Pelle zu haben. Überrascht stellte sie fest, dass eine diffuse Anspannung von ihr abfiel. Mandji atmete tief durch, genoss die Ruhe, die lediglich hin und wieder von weinseligem Schnarchen durchbrochen wurde, und trank gemütlich den Rest ihres Trunks aus. Alles in allem war der Tag gut ausgegangen, das war das Wichtigste.
Sie wusste nicht genau, wie lange sie für den Rest des Weins gebraucht hatte, doch ihre Knochen waren eingeschlafen, als sie sich irgendwann erhob. Zufrieden streckte sie sich und grüßte Dunal, der seine ersten, schummrig-violetten Strahlen über den Horizont sendete. Lange würde es nicht mehr dauern und Atal würde sich auf der gegenüberliegenden Seite des Horizonts hinzugesellen, das Land in ein gleißendes Licht tauchen.
Sie vergrub die Hände gegen die Kühle des Morgens tief in ihren Taschen und schlenderte über die verwaisten Straßen des Dorfes in Richtung ihrer Hütte. Sie sehnte sich nach Ralluts Küssen und Lenzujs kindlicher Liebe. Allein der Gedanke daran trieb ihr ein sehnsüchtiges Lächeln auf das Gesicht.
Kurz vor der letzten Abbiegung kam ihr jemand entgegen, dessen weite Robe kaum Rückschlüsse auf die Person zuließ. Zeitgleich mit Mandji bemerkte auch sie, dass sie nicht alleine auf der Straße war. Die Überraschung ließ sie in ihrem Schritt für den Bruchteil eines Augenblicks zögern, woraufhin sie sich aber beeilte, ihren Weg fortzusetzen. Wortlos gingen die beiden aneinander vorbei und grüßten sich mit einem wortlosen Nicken.
Mandji war gerade dabei, ihre Gedanken wieder auf ihr Bett zu richten, als sie verdutzt stehenblieb und sich umdrehte. Von dem Unbekannten war nichts mehr zu sehen. Sie wusste nur, dass ihr etwas seltsam vorkam.
„Verdammter Wein“, murmelte sie benebelt, während sie hektisch ihren Verstand bemühte. „Komm schon.“ Irgendwo in ihrem Kopf läutete eine Alarmglocke, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum.
Plötzlich schlug die Erkenntnis ein wie der Wuchthieb eines Kriegshammers. Und mit der Erkenntnis rollte eine eiskalte Welle des Grauens durch ihren Körper. Paralysiert blieb sie stehen, sah vor ihrem geistigen Auge einen Dolch unter der Robe aufblitzen – einen Dolch, wie Curin ihn getragen hatte! Das konnte nur bedeuten-
„Siljut!“, flüsterte sie und rannte los. Geradeaus, nahm nicht die Abbiegung nach rechts zu ihrem Heim, sondern bog irgendwann links ab und blieb schließlich mit klopfendem Herzen vor Siljuts niedriger Hütte stehen. Unscheinbar und ruhig lag sie da, aus dem Inneren kein Lebenszeichen. Kurzentschlossen riss sie das schwere Fell beiseite und trat ein. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, doch schon bald wurde ihr klar, dass etwas nicht stimmte.
„Siljut?“, rief sie mit krächzender Stimme. „Siljut“, noch einmal, kräftiger. Keine Antwort.
Langsam tastete sie sich durch die Wohnstube in den hinteren Teil des Raums, der durch einen weiteren Vorhang abgetrennt war. Vorsichtig zog sie diesen zur Seite und erstarrte in ihrer Bewegung. Auf seinem Bett lag ihr langjähriger Kamerad, nackt und mit unzähligen, blutigen Einstichen übersät.
„Nein, nein, nein!“, heulte sie und sprang auf das Bett. Doch sie wusste bereits, dass es zu spät war. Die Laken hatten sich mit seinem Blut vollgesogen. Siljuts Köpfe lagen mit offenen Augen da, im Moment der Überraschung erstarrt.
„Mein treuer Gefährte“, schluchzte sie laut auf und streichelte ihm die Wangen. „Nicht so, das hast du nicht verdient.“
Tränen verzerrten ihre Sicht, ein Schluchzer nach dem nächsten brach sich aus ihrer geschwollenen Kehle Bahn. Sie wusste nicht, wie lange sie dort saß, in Erinnerungen schwelgend. Bild um Bild sauste vor ihrem geistigen Auge vorbei: Siljuts erster Tag in ihrer Truppe, ihr erstes Gefecht, die Trauer um seinen Bruder. Beinahe so, als schwinde sein Vermächtnis bereits jetzt und sie müsse dagegen ankämpfen.
„Curin, du Bastard. Dafür wirst du büßen“, flüsterte sie irgendwann und beförderte sich selbst gewaltsam in die Gegenwart. Sie warf einen letzten Blick auf den Körper, an dem ihre blutigen Finger Abdrücke hinterlassen hatten, und hechtete zur Tür hinaus.
Curin! Wo ist sie? Wahrscheinlich flieht sie aus der Stadt. Zu ihren Truppen? Ja! Ihre Leute auf dem Platz.
Während sie die verlassenen Straßen hinunter rannte, an Häusern entlang, deren Bewohner nichtsahnend schlummerten, überlegte sie fiebrig, wie sie vorgehen sollte. Doch ihr Verstand war zu beschäftigt und nach wie vor leicht benebelt von dem vielen Wein, sodass ein einziges Wort alle anderen überstrahlte: Rache. Sie würde Curin ohne Umschweife, ohne Prozess oder sie zur Rede zu stellen, das Messer in den Hals rammen – und wenn sie dafür ihren Posten riskierte. Zur Hölle, selbst wenn ich einen Krieg damit heraufbeschwöre!
Sie bog um die letzte Ecke und befand sich erneut auf dem Platz in der Dorfmitte. Die Dekoration zur Feier des Friedens schienen sie zu verhöhnen, die Weinfässer verursachten allein durch ihren Anblick Übelkeit. Die Feierlichkeiten... wo Siljut seine letzten Stunden verbracht hatte, unwissend, wie der Abend für ihn enden würde. Sie ballte die Faust um den Dolchknauf. Doch etwas ließ sie innehalten. Schlitternd kam sie zum Stehen und kniff ihre Augen zusammen.
Das aufgehende Gestirn schaffte es noch nicht, die unzähligen, tiefen Schatten zu vertreiben, und so glaubte sie an eine Sinnestäuschung, als sie diese Schatten sich bewegen sah. Nein, nicht die Schatten bewegten sich, sondern jemand bewegte sich darin! Sie ließ ihren Blick über den Platz schweifen und bemerkte nun mehr und mehr Bewegung; Gestalten, die im Dunklen hin und her huschten; die sanften Geräusche von schleichenden Fußtritten... und noch etwas anderem?
Ihre Instinkte übernahmen und sie verbarg sich schnell hinter einer an der Straße stehenden Holzkiste, von der aus sie den Platz gut einsehen konnte. Wenn sie ihre Ohren spitzte, konnte sie hektisches Flüstern hören, immer wieder unterbrochen von diesem anderen Geräusch. Es klang wie ein Schmatzen, als würde jemand mit großem Appetit Dünnwurzelbrei schlürfen.
Mandji beobachtete das Treiben, sah mehr und mehr Gestalten, die zwischen den aufgebauten Zelten hin und her schlichen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes tauchten noch mehr dunkle Schatten auf, die zwischen den Häusern, sogar aus den Häusern selbst, auf den Platz traten. Einige eilten in andere Häuser hinein, andere gesellten sich zu den anderen in der Platzmitte.
Mit einem Mal dämmerte es ihr. Das ist ein Hinterhalt! Die haben uns reingelegt! Zorn rang mit Verzweiflung um die Vorherrschaft in ihrem Inneren. Ihr Verstand raste – was konnte sie nur tun? Um zur Alarmglocke zu gelangen, hätte sie die Gegner im großen Bogen umrunden oder sich durch ihre Mitte kämpfen müssen. Allein, denn ihre Kameraden waren verloren, wahrscheinlich schon lange tot. Und wer weiß, wie viele der anderen Bürger auch schon, friedlich schlummernd erschlagen von diesen Feiglingen?
Dieser Gedanke ließ sie innehalten, stellte alles andere in den Hintergrund: Rallut und Lenzuj! Die Gesichter ihrer Liebsten tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Damit war die Entscheidung gefallen. Zuerst meine Familie, danach helfe ich der Stadt. Komm schon Mandji, du kannst es schaffen!
Sie verbarg sich im Schatten und entfernte sich vorsichtig, bis sie sicher sein konnte, genug Abstand zwischen sich und dem Gegner zu haben. Dann rannte sie los. Sie mobilisierte alle Kraftreserven, hatte das Gefühl, dass ihre Beine kaum noch den Boden berührten. Ihre Muskeln brannten, die Lunge protestierte, doch sie ignorierte all das. Rallut und Mandji. Als sie vor ihrem Haus zum Stehen kam, zeichneten sich die Silhouetten der Häuser dunkel vor dem orangenen Schein eines ersten lodernden Feuers irgendwo in der Stadt ab. Sie planten also, die Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Später! Bring‘ erst deine Familie in Sicherheit!
„Rallut?! Mein Druhl, wir werden angegriffen, wir müssen-!“, flüsterte sie hektisch, während sie das Haus betrat. Doch die hell erleuchtete Stube ließ sie innehalten. Fackeln warfen helles Licht, sodass sie kurzzeitig geblendet wurde.
Wieso ist die Stube mitten in der Nacht hell erleuchtet?, fuhr es ihr durch den Kopf.
Im selben Moment, bevor sie den Gedanken beendet hatte, schlug etwas in ihrer Seite ein. Rippen brachen mit lautem Knacken, die Luft entwich ihrer Lunge. Mit einem dünnen „Ughh“ sank sie kraftlos zu Boden. Der dunkle Vorhang der Ohnmacht wollte sie einhüllen, doch sie trieb ihn mit schierer Willenskraft zurück.
Ein helles, fröhliches Lachen waberte plötzlich durch den Raum. Mandji schaute auf, sah zu ihrer rechten einen Krieger mit einer gewaltigen Keule. Zweifellos war er es gewesen, der sie in die Knie gezwungen hatte. Zu ihrer linken stand ein weiterer Kämpfer, eine scharfe Axt in der Hand, bereit zum Zuschlagen. Sterne tanzten vor ihren Augen.
„Mami?“, ertönte es dünn.
Und hinten, am anderen Ende der Stube, sah sie Curin – die hinter Lenzuj stand und locker eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte.
„Alles... ist... gut, mein... Schatz“, keuchte sie, mühsam um Luft ringend. „Wenn du... ihr irgendwas... antust, dann...“
„Dann was? Ach komm, Atonarch, sei nicht so naiv. Du nimmst das hier alles viel zu persönlich!“ Sie strahlte Mandji förmlich an. „Wir sind im Krieg! Glaubst du wirklich, diese alberne Tradition nimmt noch irgendwer ernst? ‚Lasst uns einfach eine Nacht lang gemeinsam ein paar hinter die Binde kippen und alles ist gut‘? Wann hat das jemals irgendwelche Probleme gelöst?“
„Wo ist... mein Mann?“, flüsterte Mandji und hievte sich mit schmerzerfülltem Gesicht auf die Knie.
„Dein Mann? Du meinst diese vierarmige Missgeburt? Weißt du, das ist der Grund, warum dein Stamm keine Zukunft hat. Ihr lasst viel zu viele von diesen... Geschöpfen am Leben. Nein, noch schlimmer, ihr bestärkt es sogar, seht diese Vielfalt als etwas Gutes, etwas Erstrebenswertes an. Wenn ich nur an die... Berührungen diese zweiköpfigen Dings denke...“ Sie schüttelte sich angewidert.
„Sein Name war Siljut“, schrie Mandji. „Und sie alle sind Bayunn, wie du und ich.“
Wieder dieses nervtötend heitere Lachen. „Wie ich? Bei Dunal, das möchte ich mir nicht im Traum vorstellen. Aber sei froh! Wir haben dir einen Gefallen getan.“ Beiläufig drehte sie sich um, hob etwas vom Tisch auf und warf es zu ihr herüber. Den beiden Kriegern entfuhr ein belustigtes Schnauben.
Doch Mandji nahm das kaum wahr, sie hatte nur Augen für dieses locker in Leinen verschnürte Paket. Etwas Längliches war darin verpackt.
„Na los doch, mach es auf!“, kicherte Curin.
Mit zittrigen Händen schlug sie Lage um Lage des Stoffs zurück. Übelkeit übermannte sie, je weiter sie zum Kern des Pakets vordrang. Der Stoff war nun teils mit Blut getränkt und je mehr Lagen sie zurückschälte, desto mehr Blut wurde es. Sie hatte einen metallenen Geschmack im Mund, glaubte, sich übergeben zu müssen. Und doch, als sie die letzte, verklebte Stoffbahn zurückgeklappt hatte, konnte ihr Verstand nicht begreifen, was sie sah.
„Na was sagt man, wenn dir jemand einen Gefallen getan hat?“, lachte Curin. „Sei froh drum, dein Mann ist nun keine grünhäutige Abscheulichkeit mehr! Er hat nun nur noch zwei Arme, wie jeder normale Bayunn.“ Die Wachen stimmten kichernd ein. „Oh, aber leider muss ich dir etwas beichten.“
„Mami“, flehte Lenzuj mit zitternder Stimme. Mandji hob unter unendlicher Anstrengung ihren Kopf und haftete den Blick an ihrer Tochter fest.
„Er hat die Prozedur leider nicht überlebt“, gestand Curin untröstlich.
Die tiefschwarzen Augen ihrer Tochter.
„Und doch habe ich eine weitere gute Nachricht für dich“, hörte sie Curins Stimme von irgendwo her zu ihr durchdringen.
Diese zu Tode betrübten, kindlich unschuldigen Augen.
„Ihr werdet ihn jetzt auf seinem Weg zu Atal begleiten.“
Von feinen Wimpern und Brauen umrahmt, die kaum mehr Unglück hätten ausdrücken können.
„Denn dort gehört ihr hin – zu Atal, auf dass ihr in ewiger Verdammnis im Sternenfeuer schmort.“
Curins Stimme war eiskalt, als sie hinter dem Rücken ihren blitzenden Dolch hervorzog und ihn in einer fließenden Bewegung über Lenzujs Kehle zog.
Mandji hielt ihre Tochter mit ihrem Blick fest, versuchte, ihr den Schmerz zu nehmen und Trost zu spenden.
Alles wird gut, gleich ist es vorbei, flüsterte sie lautlos. Und ihre Tochter nickte, zeigte ein letztes Mal ihr kindliches Lächeln, bevor sich eine einzelne Träne aus ihrem Augenwinkel löste und ihre Augen sich für immer schlossen. Mandji bekam es kaum mit, als eine der Wachen neben ihr ausholte und einen stumpfen Gegenstand auf ihren Kopf niederkrachen ließ. Die Augen ihrer Tochter begleiteten sie in die Ohnmacht.
Sie rannte und rannte. Lange, dornige Zweige schlugen ihr ins Gesicht und rissen ihr die Haut auf. Ihre gebrochenen Rippen verströmten puren Schmerz. Es war ihr egal. Ihre Schenkel brannten vor Anstrengung, ihre Lunge schrie verzweifelt nach Luft, ihr Herz schlug so schnell, dass sie glaubte, es müsse jeden Moment ins Stolpern geraten und stehenbleiben. Doch sie rannte weiter, einen Fuß vor den anderen – bis sie schließlich auf das Blatt eines Trumfarns trat und darauf ausrutschte. Sie taumelte noch einige Schritte, prallte schmerzhaft gegen einen Baum, fiel eine niedrige Böschung hinab und blieb schließlich an deren Fuße liegen.
Schlammbedeckt blieb sie keuchend auf dem Rücken liegen, spürte die kühle Feuchtigkeit, die langsam durch ihre Kleidung sickerte, kontrastreich auf ihre erhitzte Haut treffen. Ihr rasender Atem bildete kondensierende Wolken in der kühlen Morgenluft.
Warum lebe ich noch? Warum renne ich überhaupt?, fragte sie sich und Erinnerungen an die letzten Stunden brachen über sie herein. Die Soldaten, die sie aus ihrem Haus geschleppt hatten, in der Annahme, sie sei bewusstlos. Curin, die beiläufig ihre öffentliche Hinrichtung auf dem zentralen Platz angeordnet hatte. Die Wache, die den Fehler gemacht hatte, einen Dolch unbedarft am Gürtel mit sich herumzutragen. Wie sie sich diesen schnappte und dem völlig überraschten Soldaten ins Herz rammte, dem anderen nur Bruchteile eines Augenblicks später dasselbe Schicksal zukommen ließ. Bilder von Curin blitzten auf, wie sie sich auf Mandji gestürzt hatte und sie es nur mit Müh und Not geschafft hatte, sich den auf sie einprasselnden Schwerthieben zu widersetzen. Erinnerungen an ihren geschundenen Körper kamen hoch, der nicht in der Lage war, seine übliche Leistung abzurufen – die körperlichen und seelischen Verletzungen waren zu schwer. Wie sie daran gescheitert war, ihren Rachegelüsten Genugtuung zu verschaffen und diesen Dämon in Form einer Frau in Dutzende Stücke zu hacken. Schließlich, als ein noch halbwegs rational denkender Teil ihres Verstandes begriff, dass sie in ihrem Zustand keine Chance gegen die Frau hatte, und sie gegnerische Verstärkung auf dem Platz eintreffen sah, da war sie geflohen.
„Ein taktischer Rückzug, keine Resignation“, schwor sie sich, während sie auf dem Boden liegend um Luft rang. „Du bist tot, Curin, du weißt es nur noch nicht! Du und dein ganzer teuflischer Clan! Dafür fliehe ich!“
Mandji richtete sich auf. Die Frage, was sie nun tun wollte, hatte sie also schon einmal beantwortet. Aber wie? Sie schaute sich blinzelnd um. Wo war sie überhaupt gelandet? Wie lange und weit sie gelaufen war, konnte sie nicht mehr sagen – wahrscheinlich aber einen Tag und eine Nacht. Mindestens. Immerhin konnte sie so sicher sein, ihre Verfolger abgehängt zu haben.
Wie um diese Tatsache zu unterstreichen, verlangte ihr Körper mit lautem Magenknurren nach Energie: Ihre Kraftreserven waren leer. Sie hievte ihren protestierenden Körper auf ihre schmerzenden Füße und machte sich auf die Suche. Sie fand schon kurze Zeit später einen prächtig blühenden Busch voller Beeren, der an einem kleinen Tümpel wuchs. Genau das Richtige, um sich über die nächsten paar Stunden zu retten. Doch lange würde das nicht reichen, Fleisch musste her.
Sie pirschte weiter durch den Wald und fand schon bald ein paar frische Spuren im weichen Untergrund. Den tiefen Eindrücken im Boden nach zu urteilen musste es ein großes Dreigeweih sein.
„Puh“, murmelte sie vor sich hin. „Eigentlich eine Nummer zu groß.“ Noch dazu musste sie ohne Bogen auskommen. Kurzerhand beschloss sie aber, sich nicht mit solchen Detailfragen aufzuhalten, schnitzte einige grobe, lange Speere aus dicken Ästen und begab sich damit auf die Pirsch. Mandji musste dem Tier eine lange Zeit folgen, sicherlich ein oder zwei Stunden, um es schließlich aufspüren zu können.
Sie schlich, gut verborgen zwischen hohem Gestrüpp, an eine Lichtung heran und als sie die letzten Zweige zur Seite schob, sah sie das Tier dort seelenruhig stehen. Ein Prachthirsch mit ausladendem Geweih, aus dessen Schädel drei wild verzweigte Knochenstangen entwuchsen. Mit einer derartigen Beute hätte sie von ihrem Volk viel Lob eingefahren, selbst von der sonst so arroganten Jägerkaste. Wer auch immer von denen jetzt noch am Leben ist. Zeitgleich kamen ihr aber auch Zweifel, ob sie dieses Tier überhaupt bezwingen könnte. Sie wog kurz ab, prüfte Windrichtung und Entfernung, und beschloss schließlich, es einfach zu versuchen. Im schlimmsten Fall, so überlegte sie, geht dieses Geschöpf auf mich los und spießt mich auf. Dann hätten meine Qualen wenigstens ein Ende. Grimmig umklammerte sie den rauen Holzspeer fester und machte sich bereit.
In dem Moment, in dem das Tier seinen Kopf senkte, um eine frisches Büschel Gras herauszurupfen, trat Mandji auf die Lichtung, den Speer weit ausgeholt, ihr gesamter Körper auf Spannung. Drei Schritte waren nötig, um auf die erforderliche Wurfdistanz zu kommen. Sie hatte nicht viel Erfahrung mit dem Jagen, doch eines fiel ihr sofort auf: Das Tier verhielt sich nicht wie gewohnt. Sie hatte damit gerechnet, einen oder höchstens zwei Schritte weit zu kommen, bevor es reagierte und Reißaus nahm. Doch dieses Exemplar hielt nach wie vor inne, starrte sie auch beim dritten Schritt noch seelenruhig an.
Mandji hatte zu sehr die Kontrolle an ihre Instinkte abgegeben, um jetzt noch in ihrer Bewegung innezuhalten und sich darüber zu wundern. Schon beobachtete sie den Holzspeer dabei, wie er ihre Hand verließ und in einer schnurgeraden Bewegung mit tödlicher Geschwindigkeit in Richtung des Tiers durch die Luft glitt. Einen Lidschlag später bohrte sich schon das grobe Holz in die Weiche Flanke des Tiers – ein perfekter Treffer. Und auch jetzt noch starrte das Tier einfach nur, gab keinen Laut von sich, kaute noch ein Mal, noch zwei Mal... und brach dann tot zusammen.
„Was, bei Atal...?“, murmelte sie perplex und starrte noch eine Weile auf dieses majestätische Tier, das sich so freimütig in sein Schicksal gefügt hatte.
Schließlich riss sie sich aus ihrer Erstarrung, holte einen weiteren Speer von dem kleinen Vorrat im Busch und begann, sich langsam dem Dreigeweih zu nähern. Es lag reglos da, ein riesiger Berg aus Muskeln, Fell und messerscharfen Geweihsprossen. Je näher sie ihm kam, desto klarer wurde ihr, dass dies das größte Exemplar sein musste, das sie je gesehen hatte. Ein Stich des Bedauerns durchfuhr sie, ein derart stolzes Tier so ehrlos ermordet zu haben.
„Tot“, stellte sie unumwunden fest. Ihr Speer musste das Herz getroffen haben. Kein Atemgeräusch, keine Bewegung war von dem Hirsch zu vernehmen. Mandji ging neben dem Kopf in die Hocke und starrte kopfschüttelnd in sein verblasstes Auge. „Warum bist du nicht geflohen?“, murmelte sie und legte eine Hand an den Hals, unter dessen Haut sich die Muskelstränge fein abzeichneten.
Kaum hatte ihre Hand das dichte Fell des Tiers berührt, durchzuckte Mandji ein Blitz. Sie war urplötzlich wie gelähmt, konnte ihre Hand nicht von dem Tier nehmen. Von irgendwo her ertönte eine diffuse, ätherische Stimme.
„So. Viel. Hass.“ Das Flüstern bildete ein Echo in ihrem Kopf.
„Was... wer...?“, stammelte sie mit gelähmter Zunge. Sie versuchte, ihre Hand zurückzuziehen, doch ihre Muskeln gehorchten ihr nicht.
„Ich. Kann. Helfen.“ Die Stimme zischte unnatürlich, als ob eine Schlange das Sprechen gelernt hätte. „Finde. Mich.“
So plötzlich wie die Lähmung gekommen war, so schnell war sie auch wieder verschwunden. Mit einem Mal gehorchte Mandjis Hand wieder ihren eigenen Befehlen. Überrascht von der Bewegung, verlor sie das Gleichgewicht und fiel hintenüber. Ungläubig starrte sie auf die leeren Augen des Tiers, dann auf ihre Hand, und wieder zurück. Nichts deutete darauf hin, dass das Dreigeweih mit ihre gesprochen hatte. Und doch hallte ein Gefühl in ihrer Hand nach, beinahe so, als ob diese eingeschlafen war; nur sehr viel intensiver, aber gleichzeitig nicht unangenehm.
„Dich finden?“, flüsterte Mandji, während sie ihre Hand langsam zur Faust ballte und wieder öffnete. Sie konnte das Gefühl nicht beschreiben, doch es machte den Eindruck, als deutete ihr das Kribbeln in ihrer Hand den Weg. Beinahe so, als hätte sie ein Eigenleben und wollte beständig in eine bestimmte Richtung deuten. Unter anderen Umständen hätte sie diese Begegnung als Hirngespinst abgetan und sich über ihre beeindruckende Beute gefreut. Doch dies waren keine derartigen Umstände – sie war mutterseelenallein, verletzt und verraten. Kurz huschten die Gesichter ihrer Familie wieder vor ihrem Auge vorbei.
„Für euch. Ich werde dich finden. Dann werden wir sehen, wer du bist... und was du anzubieten hast.“ Ihre Rippen sendeten Stoßwellen des Schmerzes aus, als sie sich aufrichtete, ihr Kopf pochte. Doch sie marschierte entschlossen los, ließ sich ganz von ihrer Hand leiten, die doch nicht gänzlich ihre zu sein schien. „Denn dass du mich nicht einfach nur so kennenlernen möchtest, wissen wir beide.“
Sie verließ die Lichtung, auf der der zurückbleibende Hirsch aussah, als würde er friedlich schlummern.
Mandji schlug sich durch die dichte Wildnis. Sie musste weit abseits von jeglichen Wegen oder Jagdgründen ihres Clans sein. Denn nichts von dem, was sie sah, erinnerte sie an ihr bekannte Orientierungspunkte oder Landmarken. Immer dichter wurde das Unterholz, als sie ein Gefälle hinunter in eine beklemmend schmale Schlucht stieg. Derart gut verborgen war sie, dass sie von außen kaum zu erkennen war. Entsprechend mager war auch der Lichteinfall, den die wuchernde Wildnis hindurch ließ. Je höher die Felswände um sie herum emporwuchsen, desto fremder wurde die Umgebung. Schlingpflanzen, die sich sanft im Wind zu wiegen schienen, ohne dass dort unten Wind herrschte, gigantische Pilze, die im Dunklen leuchteten, und bunt blühende Pflanzen, die sicherlich noch nie einen einzigen Sonnenstrahl abbekommen hatten. Mandji fühlte sich wie in einer anderen Welt. Dass sich dieser Ort gerade einmal wenige Tagesreisen von ihrem Dorf befand, machte sie sprachlos. Wahrscheinlich, schoss es ihr durch den Kopf, entscheidet dieser Ort selbst darüber, ob er gefunden werden möchte oder nicht. Welch ein absurder Gedanke.
Tiefer und tiefer führte sie ihre Expedition unter die Erde. Ein Blick gen Himmel sagte ihr, dass die Schlucht mittlerweile zu einer Höhle geworden war – die oberen Ränder der Schlucht waren zusammengewachsen wie eine uralte Wunde im Erdreich. Lediglich die Lumineszenz der Pilze spendete noch ein diffuses, bläuliches Licht.
Mandji verlor zunehmend das Gefühl für Zeit und Raum mit jedem Schritt, den sie weiter in diese Traumwelt eindrang. Oder ist es eher eine Albtraumwelt? Nun, das wird sich wohl noch herausstellen, dachte sie benommen. Das Kribbeln in ihrer Hand war inzwischen zu einem Orkan der Empfindungen herangewachsen, einem Gewitter in ihren Nerven, das ihre Hand unablässig zittern ließ. Sie konnte nicht einschätzen, ob es Schmerz oder Erregung, Kälte oder Hitze war; möglicherweise all das zugleich.
Irgendwann, es konnten wenige Augenblicke oder viele Stunden gewesen sein, gelangte sie ans Ende der Höhle und sie fand sich vor einem eingestürzten Mauerwerk wieder. Verdutzt blickte sie sich um. Hier bestanden die Wände noch aus groben, organischen Felsen, dort begann akkurates gezimmertes Mauerwerk, das eindeutig nicht natürlichen Ursprungs war. Der Riss in der Wand führte in eine Kammer, die in völliger Dunkelheit lag und sie wie ein gähnender Schlund erwartete. Sie umklammerte mit ihrer rechten die linke, unkontrolliert zitternde Hand. Sie musste nun ganz nah sein.
„Nun denn, ich habe es bis hierher geschafft. Da kann ich genauso gut auch den Rest gehen“, murmelte sie und trat über Haufen von herausgefallenem Mauerwerk durch die Öffnung.
Sobald sie die Schwelle hinter sich gelassen hatte und die pechschwarze Dunkelheit sie wie ein Mantel umgab, hörte urplötzlich das Zittern ihrer Hand auf. Sie gehorchte wieder nur ihr, ohne den betäubenden Sturm an Empfindungen. Sie horchte in die absolute Stille hinein, sog den moosigen Geruch der Luft ein.
Mit einem Mal machten sich Zweifel in ihr breit. Ohne Licht würde sie sich hier drin verlaufen und verdursten oder verhungern. Nun, da sie nicht mehr von ihrer geisterhaften Hand gelockt wurde, kam ihr dieses ganze Unterfangen seltsam kindisch und unsinnig vor. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, irgendeinem Hirngespinst folgend in eine überwucherte Felsschlucht hinabzusteigen? Was glaubte sie denn, hier unten zu finden? Welches ihrer Probleme löste das, wie viel näher brachte sie das ihrer Rache? Sie kicherte leise auf und schüttelte den Kopf. Gerade als sie kehrtmachen wollte, ertönte eine glasklare, lange nachhallende Stimme.
„Willkommen!“ Sie war weder männlich noch weiblich, und ob Mandji sie nur in ihrem Kopf hörte, konnte sie nicht genau sagen. Sie vermutete aber, dass es dieselbe war, die sie auch schon auf der Lichtung gehört hatte.
„Hallo“, antwortete sie schlicht. Ihr fehlten die Einfälle für eine eloquentere Replik.
„Du hast mich gefunden. Glückwunsch.“
„Dich gefunden? Wo bist du? Ich sehe nichts!“
„Keine Sorge, dessen werde ich mich unverzüglich annehmen. Du musst mich nur lassen.“
Mandji fühlte plötzlich etwas, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Ähnlich wie das Gefühl, wenn man glaubt, beobachtet zu werden. Hastig drehte sie sich um, zur Gegenwehr bereit, spähte in jede dunkle Ecke – nichts. Das Gefühl war immer noch da, kitzelte sie auf der Innenseite ihres Hinterkopfs.
„Keine Sorge, kleine Bayunn. Das bin ich. Wie schon gesagt, du musst es mir erlauben. Dann helfe ich dir beim Sehen.“ Die Stimme klang verlockend, verführerisch. Und doch fühlte Mandji einen instinktiven Widerstand, der Stimme diese Erlaubnis zu erteilen... was auch immer das heißen mochte.
„Ich spüre deine Zurückhaltung. Und es ist völlig berechtigt, skeptisch zu sein. Aber keine Angst, alles was ich tun werde ist, dir beim Sehen zu helfen. Alles Weitere entscheidest du.“
Sie war nach wie vor nicht restlos überzeugt, spürte jedoch ihren Widerstand bröckeln. Sie wollte der Stimme einen Gefallen tun, ihr gehorchen.
„Schau“, ergänzte die Stimme, „du bist so weit gekommen. Willst du nun unverrichteter Dinge wieder umkehren?“
Mandjis Blick wanderte zu der Öffnung zurück. Die rauen Bruchkanten des Mauerwerks umrandeten pechschwarz das wenige lumineszierende Licht, das noch von außen hereindrang.
„Wie sehr willst du deine Rache?“
Sie konnte nicht sagen, ob die Stimme herablassend, amüsiert oder mitfühlend mit ihr sprach. Aber sie musste ihr recht geben.
Mandji drehte sich wieder in die Dunkelheit und fasste einen Entschluss. „Also gut, du hast meine Erlaubnis.“
Das Kribbeln in ihrem Hinterkopf wanderte nach vorne, umschloss ihren gesamten Geist – und verebbte dann. Sie starrte angestrengt in die Dunkelheit. Und tatsächlich! Erste Konturen traten daraus hervor, sie erkannte zunehmend Säulen und Pfeiler, Torbögen und Wände. Es glich dem Gefühl, aus der Helligkeit des Tages in einen dunklen Raum zu treten, nur umgekehrt. Zu Konturen gesellten sich Farben und schon bald konnte sie so gut sehen, als ob der Raum von hunderten Fackeln erleuchtet wäre.
„Unglaublich“, flüsterte sie.
„Nicht wahr?“, ertönte die Stimme, ganz nah und ohne Hall. Beinahe so, als säße jemand auf ihrer Schulter, der mit ihr sprach. „Dies ist meine bescheidene Behausung.“
Bescheiden war eine himmelweite Untertreibung. Der Raum war riesig, erstreckte sich sicherlich einhundert Schritt in jede Richtung und noch einmal zehn in die Höhe. An den gegenüberliegenden Wänden waren Durchgänge zu weiteren Räumen zu erkennen. An den Wänden waren verblasste Malereien zu erkennen und die unzähligen Säulen waren aufwendig verziert. Noch nie hatte Mandji ein derartiges Bauwerk gesehen.
„Bei Dunal! Wo sind wir hier?“
„Nun, das ist eine ausschweifende, langweilige Geschichte. Sagen wir einfach, ich wohne schon sehr, sehr lange hier. Und mit der Zeit ist das Wissen um meine Existenz, nun ja, ein wenig abhandengekommen. Du bist der erste Besucher seit... einer Ewigkeit.“ Die Stimme klang, als lächle sie. „Aber komm! Lass‘ uns nicht mit Bagatellen aufhalten. Ich brenne darauf, dich endlich persönlich kennenzulernen. Folge mir!“
Mandji wanderte mit wackligen Knien tiefer hinein, durchquerte weitere Räume, stieg Treppen auf und ab, folgte endlos langen Korridoren. „Wie groß ist dieser Ort, bitte?“
„Oh, weißt du...“, kicherte die Stimme, eine Antwort schuldig bleibend.
„Und du... wohnst hier? Wer bist du?“
Die Stimme schwieg. So irrte Mandji weiter durch das Labyrinth, lediglich durch vereinzelte Anweisungen der Stimme – „hier rechts“ oder „mach‘ schneller!“ – in die richtige Richtung gelotst. Sollte dieses Wesen mich jetzt allein lassen, werde ich hier nie wieder herausfinden, blitzte in ihrem Geiste ein Gedanke auf.
„Aber, aber, warum denn allein lassen? Wir beide gehören doch nun zusammen!“ Die Stimme lachte. „Wir sind eins.“
Sie wusste nicht warum, aber sie erschauderte ob der Tatsache, dass dieses Wesen ihre Gedanken lesen konnte. Sie ignorierte die Möglichkeit, dass sie einen Fehler begangen haben könnte.
„Mir ist alles egal, ich habe doch ohnehin nichts zu verlieren“, flüsterte sie zu sich selbst.
„Na das nenne ich doch mal einen vielversprechenden Ausgangspunkt“, erwiderte die Stimme erfreut. „Oh, da vorne ist es – ich meine, da bin ich!“
Mandji kam vor einem hohen Torbogen zum Stehen, der Durchgang von massiven Toren versperrt. Sie sahen aus, als bestünden sie aus Holz, glänzten jedoch gleichzeitig auch seltsam silbern. Die überdimensionierten Scharniere des Tors saßen nach wie vor fest im Mauerwerk. Es sah beinahe so aus, als hätte die Zeit nicht die geringste Spur an ihnen hinterlassen.
„Ich bin da. Du kannst nun aufmachen“, sagte sie in den leeren Gang.
„Lass dich ruhig selbst hinein! Es muss irgendwo einen Schalter oder Hebel geben, der dieses Tor öffnet.“
Arglos machte Mandji sich auf die Suche und ging die Torflügel ab, inspizierte die Wände und Scharniere.
„Wie lange bist du schon hier unten?“, fragte sie, während sie suchte.
„Ach, wie soll man die Zeit bemessen, wenn man nichts als Dunkelheit kennt?“
„Ah, hier. Ich denke, ich habe etwas gefunden.“ Rechter Hand befand sich eine kleine Mulde im Mauerwerk, in der ein kleiner, steinerner Hebel zu sehen war. Die Mulde war mit verblassten Runen überzogen; wohl eine längst vergessene Schrift.
„Na dann! Tritt ein!“, lockte die Stimme gutgelaunt.
Nach einem Moment des Zögerns, in dem Mandjis Blick über die fremdartigen Zeichen glitt, die seltsam unheilvoll aussahen, und sie das Gefühl überkam, dass die sie vor etwas warnen wollten, umklammerte sie schließlich kurzerhand den Hebel und zog kräftig daran. Trotz seines Alters glitt er sanft zu ihr hin, als wäre er frisch eingefettet.
Ein tiefes Rumpeln ließ den steinernen Untergrund erzittern. Erschrocken trat Mandji ein paar Schritte zurück und wandte sich zu den Torflügeln um. Ein diffuses Schimmern trat auf ihnen hervor, das die Form von ebenjenen Runen annahm, die auch schon den Hebel dekoriert hatten. Ein lautes Ächzen verkündete die Öffnung des Tors. Im selben Moment, als die beiden Flügel behäbig aufschwangen, verloschen die glimmenden Runen.
Ein markerschütterndes, metallisches Klirren ertönte und die Scharniere gaben nach, brachen aus dem Mauerwerk und vermochten die Tore nicht mehr zu halten. Mit Grauen erkannte Mandji, dass die massiven Torflügel auf sie zustürzten. Sie versuchte noch, sich in Sicherheit zu bringen, erkannte jedoch, dass sie es nicht schaffen würde. Schnell kauerte sie sich klein zusammen und erwartete mit zusammengepressten Augen das Unausweichbare.
Doch das trat nicht ein. Sie hörte die Scharniere klirrend zu Boden fallen und danach Stille eintreten. Kein Tor, das sie zerquetschte. Langsam hob sie den Kopf und schaute sich um. Von den beiden massigen Toren keine Spur mehr.
„Was, bei...? Haben die sich in Luft aufgelöst?“
„Du glaubst doch nicht, dass ich dich wissentlich einer Gefahr aussetzen würde? Du bist schließlich mein Gast! Also, komm, schnell.“ Die Stimme hatte einen drängenden, ungeduldigen Unterton angenommen.
„Und bist du hier... eingezogen, als dieses Gewölbe freiwurde?“ Sie stieg über die Reste der Scharniere hinweg und betrat den Raum dahinter.
„Hmm, nein. Ich habe schon immer hier gelebt. Mal mehr, mal weniger freiwillig.“
„Schon immer? Aber... aber dann musst du doch uralt sein!“ Mandjis Blicke strichen über die Wände, die seltsam geriffelt erschienen. Sie hielt inne und kniff die Augen zusammen. Nein, nicht geriffelt... Sie ging auf eine der Wände zu und legte eine Hand auf die Oberfläche. Erst spät kam die Erkenntnis, dafür aber umso gnadenloser.
„Kratzspuren“, staunte sie.
„Mit der Zeit wird man verzweifelt“, kicherte die Stimme. „Wenn die Einsamkeit dir den Verstand raubt und du nichts als die verstreichende Zeit deinen Begleiter nennst.“ Sie wurde plötzlich ernst, kaltherzig, erbarmungslos. „Wie du habe ich hier drin Rache geschworen. Sie ist das einzige, was mich am Leben gehalten hat.“
Aus einer entfernten Ecke ihres Verstandes versuchte, ein anderes, aber sehr viel dünneres Stimmchen zu ihr durchzudringen, doch Mandji verstand es nicht.
„Und nun wird es Zeit, dass wir uns persönlich kennenlernen, Bayunn. Tritt näher!“
Zögerlich drehte sie sich von der Wand fort und entdeckte in der Mitte des Raums, auf einem leicht erhöhten Podest, eine Art steinernen Thron stehen. Seine ausladende Rückseite war zu ihr hin ausgerichtet, sodass sie niemanden sah. Langsam begann sie, den Thron zu umrunden. Sie nahm Details des Raums wahr: Verblasste Schriftzeichen auf dem Boden, die ihr völlig fremd waren; verschnörkelte Kerzenständer, die aussahen, als wären sie erst gestern geschmiedet worden; und verrostete Ketten, deren Überreste mittels Ösen über den Boden führten und sternförmig am Thron zusammenliefen.
„Du willst doch Rache nehmen, an all jenen, die dir das Liebste genommen haben, richtig?“, eiferte die Stimme.
Mandji erkannte nun, dass auf dem Thron offenbar jemand saß, bemerkte einen schneeweißen Haarschopf über die Rückenlehne hinausragen. Ihr Herz trommelte wie wild in ihren Ohren.
„Ja, das... will ich“, flüsterte sie. Das dünne Stimmchen in ihrem Geist bot all seine Kraft auf, schrie gegen die Mauer an.
„Und du würdest alles dafür tun, um sie zu bekommen, nicht wahr?“, forderte die Person.
Sie hatte den Thron zur Hälfte umrundet und sah nun einen dünnen Arm auf der Lehne liegen. Er war runzelig und vertrocknet, die schneeweiße Haut eingefallen und rissig, wie sie es schon oft bei ihren mumifizierten Ahnen gesehen hatte. Und doch glänzte die Haut – beinahe so, als wäre das Fleisch tot, doch irgendwie wiederum auch nicht.
„Alles“, bekräftigte sie, gebannt von der Stimme, die offenbar in diesem vertrockneten Körper wohnte.
„Selbst wenn es deine eigene Verdammnis bedeutet?“ Die Stimme, die von diesem steinernen Stuhl zu ihr drang, war zugleich verführerisch und grausam, lockend und abstoßend.
„Mein eigenes Schicksal ist unbedeutend.“ Mandjis eigene Stimme war nur noch ein dünnes Wispern, hatte jegliche Substanz eingebüßt. Beinahe so wie ihr Wille.
Sie hatte den Thron umrundet und konnte nun einen vollständigen Blick auf den Körper werfen. Er war riesig, beinahe doppelt so groß wie sie selbst. Er hatte etwas Unnatürliches, besaß seltsame Proportionen, und das eingefallene Gesicht wies keine Augenhöhlen auf. Stattdessen waren die Lippen weit zurückgezogen und entblößten eine doppelte Reihe gut erhaltener, scharfer, langer Zähne, wie die eines Raubtiers. Der Kiefer war in einem ewigen Grinsen erstarrt. Das vertrocknete, verblichene Haar fiel in krausen Wellen bis zu den Schultern herab. Geisterhaft spannte sich die rissige Haut brüchig über den Schädel. Von der Kleidung war kaum noch etwas über. Um die dünnen Handgelenke befanden sich eiserne Ringe, die wohl einst mit den Ketten verbunden gewesen waren.
„Dann tritt näher und mit mir zusammen wirst du zur Reinkarnation der Rachegöttin selbst. Generationen nach dir wird man mit angehaltenem Atem noch von deinen Gräueltaten sprechen.“ Der mumifizierte Körper zeigte keine Regung, während die Stimme klar in ihrem Kopf widerhallte. „Wir werden die Welt erobern!“ Ein grauenhaftes Lachen, das wie Fingernägel auf einer Schieferplatte klang, ertönte in ihrem Kopf.
„Die Welt... erobern?“, zitterte Mandji, die sich mit einem letzten Aufgebot ihres Willens noch den Verlockungen dieses Wesens widersetzte. „Aber... das will ich... gar nicht.“
„Weißt du, wie lange sie mich hier drin eingesperrt haben? Die Verräter, die Thronräuber?!“, schrie die Stimme nun hysterisch, beinahe wahnsinnig. „Millennien, alleine, in die Dunkelheit starrend! ICH. MUSS. HIER. RAUS!“
Die Stimme brachte Mandjis Seele zum Erzittern. Hektisch versuchte sie, sich die Ohren zuzuhalten, um die schrillen Töne auszusperren. Zwecklos, denn die Stimme nahm nicht den Umweg über ihre Ohren, um zu ihr durchzudringen.
„Ich... bin mir... ähm... nicht sicher...“, haspelte sie schwach.
Mandji...
Das dünne, fast schon vergessene Stimmchen begann, zu ihr durchzudringen!
„Was heißt, du bist dir nicht sicher, du Wurm?“, prasselten die Worte, scharf wie Peitschenhiebe, auf sie ein. „Ohne Nahrung, nur Stille, in Einsamkeit. Du bist dir UNSICHER, ob das gerecht ist?“
Hör...
„Nein. Sicher... nicht, aber... womit hast du das verdient?“
Nicht...
„Verdient?“, lachte die Stimme nun laut auf. „Ach, Kleinigkeiten. Bagatellen. Ist es nicht wichtiger, dass ich der Weg zu dem bin, was du willst?“
Zu.
Mit einem Mal wurde sie sich bewusst, dass sie ganz nahe an den Thron herangerückt war, dass sich ihr Gesicht nur noch wenige Fingerbreit von dem der mumifizierten Gestalt entfernt befand. Sie konnte jede einzelne Falte, jede aufgesprungene Pore erkennen. Ein undefinierbarer Geruch stieg ihr in die Nase, eine Mischung Tod und Blüten, Verderben und Milch und Honig.
MANDJI, LAUF!, tönte es mit einem Mal kräftig und laut in ihrem Kopf. Das dünne Stimmchen war durchgebrochen, hatte die Brandmauer, die dieses fremdartige Wesen in ihrem Geiste hochgezogen hatte, durchbrochen. Und Mandji erkannte die Stimme – es war Rallut. Sein Gesicht tauchte vor ihr auf, wie er Lenzuj auf dem Arm hielt. Und beide flehten sie mit unendlicher Traurigkeit an, um ihretwillen keinen Pakt mit diesem Ding einzugehen. Und zu laufen. Mandji zögerte keinen Augenblick. Ihre Reflexe kehrten mit Wucht zurück, wie ein Nebel, der sich in ihrem Körper lichtete.
Doch noch schneller als ihre Reflexe war das Geschöpf. Seine vertrocknete, knorrige Hand schoss urplötzlich hervor und umklammerte ihren Arm mit unglaublicher, überirdischer Kraft. Mandji zerrte und zog daran, hieb mit ihrer freien Hand wild darauf ein – vergebens. Mit Grauen beobachtete sie, wie der Kopf des Geschöpfs langsam zum Leben erwachte, sich in ihre Richtung wandte und zwei winzige Lichter, purpurnen Flammen gleich, dort entstanden, wo üblicherweise Augen hätten sein sollen. Das totenhafte Grinsen in seinem Gesicht schien ein Stück breiter zu werden.
„Wohin denn so eilig... Sklave?“
Ralluts Stimme versank mit einem zu Tode betrübten Schluchzer hinter der Brandmauer und verstummte. Es was das letzte Mal, dass sie sich an ihre Familie erinnerte.