Sie hatte immer weg gewollt; weg, weg, weg, bloß nicht hier bleiben. Hauptsache in Bewegung bleiben, nie zu lange an einem Ort sein. Sie wollte die Welt sehen, etwas erleben, solange sie jung war und noch die Möglichkeit hatte. Solange der Alltag sie noch nicht in seinen Fängen hatte.
Nun stand sie am Meer, die Wellen rauschten leise und zusammen mit dem leisen Stimmengewirr der ihr unbekannten Stadt erschufen sie eine beinahe hypnotische Symphonie. Der Sand grub sich zwischen ihre nackten Füße, sie lief immer näher an die Küstenlinie. Ihr rotblondes Haar wehte im Wind, einzelne Locken standen am wie ein schwach lodernder Heiligenschein. Es wurde langsam kalt, doch das störte sie nicht. Ihre Schritte führen sie immer weiter, bis das Wasser seicht ihre Füße und langsam auch ihre Knöchel umspielte. Es schien sie zu begrüßen wie ein alter Freund. Die Kälte brannte und erschien der jungen Frau jedoch trotzdem fast wie eine Umarmung. Sanft und beinahe zärtlich, wie die Berührungen eines Liebenden. Einige Minuten harrte sie so aus, ließ das Wasser ihre Beine streicheln und den Wind durch ihr Haar fahren. Dann beugte sie sich hinunter und fuhr mit den Fingern durch den Sand. So saß sie einige Momente da und sammelte einige Muscheln zusammen. Die kleinen Scherben, welche sich dabei im Dunkeln an ihrer Haut entlang schrammten und sie leicht zum Bluten brachten, schienen sie nicht zu stören. Sie sammelte einfach weiter Muscheln, bis sie plötzlich aufstand, alles in der Tasche ihrer weiten Hose vergrub und dann den Strand verließ. Am nächsten Tag zog sie weiter; immer weiter, weiter weg, weg von hier, hier konnte nur schlecht sein. Sie wollte ein Weltenbummler sein, sollte Erinnerungen sammeln, Teile von der Welt. Sie wollte etwas zum Erinnern haben, wenn sie einmal alt und grau in einem tristen Haus sitzen und auf das Ende warten sollte.
Das Fernweh zog an ihrem Herzen, unsichtbare Seile hielten ihr Herz fest umklammert und ließen sie nicht einen Tag ruhen. Sie musste leben, wollte ihre Zeit nicht einfach am selben Ort verschwenden. Ihr Handy hatte sie schon lange ausgeschaltet; immerhin wollte sie die besorgten Einwände ihrer Mutter gar nicht erst hören. Oder ihn sehen, wie er immer noch in seiner Heimat saß und sein Leben lebte, ohne sie. Für ihn war sie immer nur ein Geist gewesen; ernst genommen hatte er sie, wie so viele, nie so wirklich. Sie war nie konstant genug, stand nie fest genug im Leben um wirklich etwas zu erreichen. Und sie sah die schlechten Dinge nicht. Die Ruhelosigkeit, das Streben nach mehr, die niemals enden wollende Suche nach Glück. So, als ob sie das Glück an einem Ort wäre, oder als ob sie automatisch glücklich wäre, sobald sie alles gesehen hatte, was sie schon immer sehen wollte. Doch irgendwie war sie doch glücklich. Allein die Muscheln, welche sie später sicher in ihrem kleinen Rucksack verstaut hatte, zauberten ihr ein Lächeln auf das gebräunte Gesicht. Und auch, wenn sie nicht wusste, wo der Wind sie als Nächstes hinführen würde: Sie hörte in diesem Moment nicht auf zu strahlen. Irgendwann würde das Fernweh schon verschwinden. Bis dahin müsste sie eben weiterhin wie ein ruheloser Geist durch die Welt ziehen.