In meiner Vorstellung lag ich der Liebe meines Lebens im Arm. Es war ein warmer Tag, bestenfalls im Frühling, die Sonne schien hell und kein Wölkchen war am Himmel zu sehen. Wir sahen uns ganz tief in die Augen und dann passierte es. Unsere Lippen trafen aufeinander und es war wie ein plötzlicher Wolkenbruch, wie ein Blitzeinschlag, wie eine spirituelle Erfahrung. Es sollte magisch sein, atemberaubend und generell einfach nur perfekt. Doch leider kommt es eben immer anders, als man es sich in seinen albernen Fantasien ausmalt...
Das hier hatte nichts mit angenehmer Wärme zutun, nichts mit Liebe.
Im Club war es heiß und die Musik dröhnte in meinen Ohren, der Bass ließ jede einzelne Zelle vibrieren. Bunte Lichter ließen alles surreal erscheinen und alle bewegten sich wie fremdgesteuerte Marionetten im Takt der Musik.
All das war Neuland für mich - schließlich war es auch meine erste richtige Party. Als Nico an mich heran trat und in mein Ohr brüllte, verstand ich nur die Hälfte. Jedoch konnte ich mir aus dem "hab...für dich" und seinem breiten Grinsen zusammenreimen, dass er wieder mal eine blöde Idee hatte. "Du bist zu verklemmt! Schnapp dir mal wen", rief er, als es für einen kleinen Moment etwas ruhiger wurde. Mit diesen Worten drückte er mir ein kleines Tütchen in die Hand und in Richtung der Toiletten. Seine Handbewegung zeigte mir unmissverständlich, dass ich ihm folgen sollte. Gehorsam tat ich genau das.
Wenige Minuten später verschwamm alles zu einem Wirbel aus bunten Lichtern, verzerrten Gesichtern und Hitze. Fast unerträglicher, von schwitzigen Körpern verursachter Hitze. Ich wusste nicht einmal, wer mir da gegenüber stand und mir seine Zunge in den Hals steckte. Aber das war auch egal. Das Geschlecht, der Name, was danach wäre? Alles nicht so wichtig. Dieser erste Kuss war leidenschaftlich, auch wenn wir uns nicht kannten. Was zählte, war nur, dass ich nun nicht alleine war. Nicht mehr alleine in diesem Meer aus Fremden. Erst als Nico mich Stunden später wach rüttelte, brauchte es einige Sekunden, bis die Erinnerungen wieder halbwegs da waren. In dieser Zeit lagen die blauen Augen meines Kumpels auf mir und er versuchte wohl herauszufinden, ob ich sauer war oder nicht. Aber wie könnte ich denn auch? Alles ist freiwillig passiert und immerhin will doch keiner mit 21 zarten Jahren noch eine ungeküsste Jungfrau sein.
Das erklärte ich ihm, bevor ich ihn fragte, mit wem ich denn da in den Stunden davor meinen ersten Kuss geteilt hätte. Doch Nico zuckte nur mit den Schultern. "Keine Ahnung, aber wir sollten langsam gehen. Kannst bei mir schlafen, wenn du willst. Ich mach uns Frühstück." Nickend und fast enttäuscht folgte ich dem braunhaarigen Mann zur Tür. Ein Blick auf meinen linken Handrücken ließ mich jedoch kurz innehalten. Darauf stand in leicht verschmierten Zahlen eine Nummer. Sofort schlich sich ein seichtes Lächeln auf mein Gesicht. Die Person würde also doch nicht anonym bleiben.