Prompt: Erdbeercocktail
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Blut tropfte aus seinem Mund. Kalte Augen starrten in die Tiefen meiner Seele. Sirenen heulten. Er wurde abtransportiert. Polizisten sprachen eindringlich mit mir, redeten aber bloß an mir vorbei. So viel Blut. Nichts als Blut...
"Buh!", legte etwas seine Arme auf meine Schultern und ich zuckte kreischend zusammen.
Meine Freundin Angela stand kichernd hinter mir, schien gar nicht zu begreifen, wie sehr sie mich erschreckt hatte.
"Mensch, Gracie! Es ist zwei Tage her. Jetzt werde mal ein bisschen lockerer. Du kanntest den Toten doch gar nicht." Sie schob mich bestimmt vor sich her, platzierte meine schweigende Gestalt auf einem der Stühle und raunte: "Wir sind doch heute extra hier, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Es wäre also von Vorteil, dich auch mal an den Gesprächen zu beteiligen."
Ich schwieg weiterhin. Nickte aber, damit sie mich endlich in Ruhe ließ. Sie hatte ja Recht. Ich hatte meine Freunde extra in meine Wohnung eingeladen, um mich von dem tödlichen Vorfall abzulenken. Ich sollte mich also auch ablenken lassen.
Wir saßen zu fünft in meinem kleinen Wohnzimmer - vier Frauen, ein Kerl - und schlürften Rotkäppchensekt.
Ich biss mir auf die Unterlippe, versuchte mit aller Kraft, den Gesprächsfetzen vor meiner Nase zu folgen, aber immer wieder schweiften meine Gedanken erneut ab. In tiefe, dunkle Gefilde meiner Psyche, die ich zuvor gar nicht kannte. Die ich nie kennenlernen wollte.
Ich sah den toten Mann vor mir, spielte das Szenario immer und immer wieder vor meinem geistigen Auge ab. Ich hatte nur wenig geschlafen in den letzten Tagen. Ehrlichgesagt stand ich kurz vor einem Psychiater, so sehr drehte mein Verstand seitdem am Rad. Ich bildete mir ein, eine männliche Stimme zu hören - obwohl ich allein wohnte. Erst gestern Abend hörte ich ihn Summen, so lange, bis ich mein Nachtlicht angeknipst hatte. Dann war es still. Heute Morgen hatte ich eine viertel Stunde vor meinem Kleiderschrank gestanden, war dann aber auf die Toilette gegangen, bevor ich mich entscheiden konnte. Als ich zurückkam, lag ein fertiges Outfit auf meinem Bett. Ich war mir sicher, dass ich es nicht dort hingelegt hatte, also wie...?
"Grace? Graaace!" Jemand rüttelte an meinem Arm. Diesmal war es Kai, der mich scheinbar etwas gefragt hatte.
"Was hast du gesagt?", erhob ich seufzend meine Stimme. Versuchte nicht mehr an das ungute Gefühl in meinem Magen zu denken. Ich war eindeutig paranoid, bildete mir merkwürdige Dinge ein. Verdammt, ich wollte diesen Vorfall doch wirklich vergessen. Aber ich konnte nicht. Etwas ließ mich einfach nicht. Vermutlich war ich wirklich krank.
Kai fuhr sich durch die blauen Haare, musterte mich besorgt. "Man, dir geht es echt miserabel, was? So weggetreten habe ich dich noch nie gesehen." Er lachte nervös. Strich sich immer wieder durch die Haare.
Auch meine Freundinnen verstummten auf einen Schlag. Musterten mich ebenfalls wie ein Alien. Vermutlich überlegten sie gerade, ob eine fette Umarmung, oder doch ein Therapie für die Verrückte nötig war.
Ich presste die Lippen aufeinander. Fragte mich, weshalb ich sie überhaupt hierher eingeladen hatte. Ihre verurteilenden Blicke, verständnislose Mienen... das half mir doch alles nicht weiter.
"Es wird schon wieder, irgendwann", murmelte ich gepresst, sah unsicher auf meine unlackierten Fingernägel, wünschte mich ganz weit weg. Dann sah ich auf ihre halbleeren Gläser und sprang auf. "Wir wollten doch noch Cocktails trinken. Ich mach uns welche. Bin...bin gleich wieder da."
Schneller als mich jemand daran hindern konnte, war ich in Richtung der Küche verschwunden und verschanzte mich im Inneren.
Dann atmete ich ganz ruhig. Ein, aus, ein, aus. Auf unbeholfenen Beinen holte ich die nötigen Getränke und begann zu mixen. Zittrige Finger sorgten dafür, dass ich bei zwei der Gläsern eine Überschwemmung anstellte und fluchend den Boden abtrocknen musste.
Panisch sah ich zu der Tür, die mich vor meinen Freunden schützte. Ich hatte sie wirklich gern, aber ich konnte ihnen einfach noch nicht unter die Augen treten. Ich wollte mich in meine Bettdecke kuscheln und nie wieder herauskommen. Ich wollte ... Ich wollte meinen normalen Alltag zurück.
Aufgewühlt griff ich nach den frischgekauften Erdbeeren - meiner Ausrede, noch ein wenig länger für mich allein zu sein - und wusch sie unter der Spüle. Anschließend nahm ich mir ein Brettchen, ein Messer und meine restliche, noch vorhandene Willenskraft und zerkleinerte die Erdbeeren, um sie auf die Cocktails aufzuteilen.
Irgendwie beruhigte es mich, diese Routine bei Schneiden. Es ließ mich ein wenig abschalten. Schnitt, schnitt, schnitt... Eine Erdbeere hier, eine Erdbeere da...
Erdbeere, Erdbeere... Toter.
Mit weit aufgerissenen Augen ließ ich das kleine Messer fallen. Meine Atmung verschnellerte sich schlagartig und ich stand vermutlich kurz vor dem Kollabieren, aber brachte einfach keinen Ton heraus.
Der Mann, den ich vor zwei Tagen direkt vor meinen Füßen sterben sah, stand blass und merkwürdig gläsern in meiner Küche und ... lächelte. Er lächelte mich an. Ich konnte es nicht fassen.
Der Tote, der Wiederauferstandene, oder was zum Teufel er auch war, lunste mit seinen Augen auf das Messer am Boden, gluckste belustigt und sprach: "Nun ja, immerhin kannst du mich jetzt nicht mehr damit abstechen." Er fand seinen Witz scheinbar wahnsinnig lustig, legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. In Anbetracht der Tatsache, dass er vor kurzem erst durch ein Messer zu Tode kam, fand ich es eher bizarr.
Schluckend versuchte ich mich zu irgendeiner Reaktion zu bewegen, schnappte nach Luft, nach einem Wortfetzen, irgendwas, aber konnte meinen Körper einfach nicht unter Kontrolle bringen. Der Mann hob panisch die Hand.
"Nein, nein, nein! Nicht schreien, bitte."
Ich gehorchte zu meiner eigenen Verblüffung und schloss meinen Mund wieder. Musterte ihn genauer. Der Blutfleck zeichnete sich noch immer auf seinem Hemd ab. War ein Beweis für seine Ermordung.
"Sie müssten eigentlich tot sein", brachte ich ohne großes Gestotter zu Stande und der Mann zog die Augenbrauen nach oben.
"Ja, was das betrifft, hast du wohl Recht, Kleine", zuckte er mit schiefgelegtem Kopf die Achseln, "aber wie du siehst, bin ich noch hier. Quicklebendig. Oder jedenfalls so ähnlich." Wieder verzogen sich seine Mundwinkel zu einem verschmitzten Lächeln.
"Aber wie können Sie ... ?", begann ich schockiert.
"Silas."
Ich blinzelte verwirrt. "Bitte was?"
"Silas. So heiße ich."
"Oh", machte ich dümmlich, kratzte mich angespannt am Nacken. "Ich bin ..."
"Grace, ja, ich weiß." Silas runzelte die Stirn. "Das hört sich echt heftig nach einem Stalker an. Entschuldige, ich möchte eigentlich gar nicht hier sein." Seufzend glitt sein Blick zu den Cocktailgläsern. "Egal, solltest du nicht langsam mal deine Erdbeeren fertigschneiden?", wechselte er einfach das Thema.
Ich dachte überhaupt nicht daran. Wegen diesem Mann hatte ich halbe Panikattacken ausstehen müssen. Er war gestorben und hatte mich - danach - verfolgt und beobachtet. Was juckten mich da ein paar Erdbeeren?
Plötzlich öffnete sich hinter mir die Tür und ich fuhr herum. Angela verschränkte fragend die Arme vor der Brust. "Was dauert so lange? Wir machen uns schon Sorgen um dich."
Ich legte den Kopf schief. Fragte mich, ob sie das wirklich ernst meinte. Sah sie denn nicht den Fremden neben mir stehen?
Ich blickte zu Silas, der mich wissend angrinste. "Sag besser nichts falsches, Schätzchen. Sonst stecken sie dich augenblicklich in die Klapsmühle. Ich brauche dich noch."
Mit einem Mal wurde es mir klar. Angela konnte Silas wirklich nicht sehen. Alles, was sie vermutlich vor sich sah, war eine hochgradig verstörte Frau. Aber was meinte Silas damit, dass er mich noch brauchte? Wofür?
"Ich ... Ich ...", stammelte ich hilflos.
"Heb besser das Messer auf und fang an zu schnippeln, bevor die dich noch weiter löchert. Du wirkst nämlich wirklich ein wenig crazy", half Silas mir auf die Sprünge.
"Hab mein Messer fallen lassen. Komme gleich", bückte ich mich zu dem Küchenmesser und wandte mich von Angela ab, um meine Arbeit wieder aufzunehmen.
Silas lehnte sich dicht neben mich und sah mir dabei zu, wie ich die letzten drei Erdbeeren zu Scheiben verarbeitete.
"Sieht lecker aus", murmelte Angie argwöhnisch hinter mir. "Ich hole mal ein Tablett zum Tragen."
Ich nickte stumm, schnitt weiter meine Erdbeeren und traute mich nicht, zu Silas aufzuschauen.
"Ein Geist, ich glaub's nicht", hauchte ich unterdrückt.
Silas machte keine Anstalten, diese Theorie zu widerlegen. Stattdessen meinte er: "Bingo, Sie haben hundert Punkte erreicht!", und alberte weiter neben mir herum. Genauso wie den restlichen verbleibenden Abend, in dem ich mich möglichst normal zu verhalten versuchte.
Innerlich fuhren meine Gedanken jedoch Achterbahn und es trieb mich in den Wahnsinn, Silas nicht vor meinen Freunde aushorchen zu können. Verzweifelt bemüht, die Ruhe zu bewahren, richtete ich mich auf dem Sofa auf und nippte an meinem Cocktail.
Eines war mir bewusst: Entweder war ich endgültig dem Wahnsinn verfallen, oder es lehnte tatsächlich ganz lässig ein Geist in meinem Wohnzimmer an der Wand, den nur ich sehen konnte.