Prompt: Probelauf
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Lautes Pfeifen weckte mich. Dann wurde mir ruckartig die Decke weggezogen.
"Lass mich!" Grummelnd drehte ich mich auf den Bauch und vergrub meinen Kopf im Kissen.
"Aufstehen, Sonnenschein!", zwitscherte Silas vergnügt. "Komm schon! Ich möchte endlich wieder etwas anderes zu Gesicht bekommen, als diese mickrige Wohnung."
Das Licht an der Decke begann zu flackern und ich blinzelte quengelnd gegen die plötzliche Helligkeit.
"Ich-hasse-dich, Silas."
"Ach, Schätzchen. Du wirst mich noch früh genug lieben lernen." Silas zwinkerte frech, während ich augenverdrehend die Beine aus dem Bett schwang.
Mit einem Schwung richtete ich mich auf und sofort drehte sich alles.
"Huch", murmelte ich und setzte mich nochmal kurz.
"Alles gut?", fragte Silas merkwürdig besorgt.
"Jaja, ich war nur ein wenig zu schnell." Erneut unternahm ich einen Versuch, aufzustehen und diesmal klappte es.
Als ich aus dem Raum laufen wollte, blieb Silas unsicher zurück und ich drehte mich fragend zu ihm um.
"Was?"
"Willst du ... nicht ein wenig Privatsphäre, während du dich zurechtmachst? Ich könnte hier warten." Fragend legte Silas den Kopf schief.
Ich prustete überrascht los. "Das wäre sehr lieb von dir, aber ich hätte nie erwartet, dass du tatsächlich auf mich hörst."
Silas zuckte unbeteiligt mit den Schultern. "Heute ist der erste Tag, an dem ich dich in deinem Beisein begleite. Quasi eine Art Probelauf. Da wollte ich mich nicht ganz so daneben benehmen."
Wieder musste ich kichern. "Ja, wer's glaubt." Grinsend lief ich aus dem Raum und tatsächlich kam mir Silas nicht nach, bis ich aus dem Bad zurückkehrte.
Er folgte mir wie ein kleines Küken in die Küche und sah dabei zu, wie ich mir Kornflakes in eine Schüssel kippte und Milch darüberlaufen ließ.
"Wow, ich habe in der kurzen Zeit tatsächlich schon fast vergessen, wie es war, Hunger zu verspüren. Aber an den Geschmack von Kornflakes erinnere ich mich sehr gut." Er sah stirnrunzelnd auf mein Frühstück hinab. Dann schüttelte Silas auch schon seinen Kopf. "Egal, lass es dir schmecken."
Ich blinzelte kurz, widmete mich dann aber tatsächlich meiner Schüssel.
"Wie ist das eigentlich so? Ein Geist zu sein, meine ich", fragte ich nach einiger Zeit knuspernd. Ich war wissbegierig auf weitere Informationen - schließlich half ich diesem praktisch Fremden völlig ohne Eigennutz.
Silas schwieg eine lange Weile, bevor er zögernd antwortete: "Gewöhnungsbedürftig, aber eine gute Alternative zum Tod."
Der junge Mann entfernte sich zielstrebig vom Küchentresen und verschwand durch die ungeöffnete Tür in das Wohnzimmer.
"Bist du aber heute gesprächig", rief ich ihm hinterher. Kurz darauf erschien Silas' Kopf und schaute mich durch die geschlossene Tür hindurch tadelnd an.
"Baby, ich war mal Stripper. Verschwiegenheit ist geradezu mein zweiter Vorname." Wieder verschwand er hinter der Tür, nur um wenig später erneut aufzutauchen.
"Beeil dich", flötete Silas und war endgültig verschwunden.
"Ich hasse diesen Kerl", grummelte ich, erhob mich aber dennoch, nachdem ich aufgegessen hatte. Ich räumte den Tisch wieder ab und gesellte mich zu dem schon eifrig an der Tür wartenden Geist.
"Du benimmst dich wie ein Hund, der ganz dringend Gassi gehen möchte, weißt du?", versuchte ich einen Witz zu reißen und schlüpfte dabei in meine Schuhe. Dann nahm ich meine Tasche und hängte sie über die Schulter.
Silas verzog die Mundwinkel zu einem verkniffenen Grinsen, ging aber nicht näher auf meine Worte ein. "Gehen wir?"
"Ja gleich, ich suche nur noch... Wo ist denn nur...?", murmelte ich und drehte und wendete mich hin und her.
Silas legte grinsend den Kopf schief und klimperte mit meinem Schlüssel herum, der neben ihm in der Luft schwebte. "Hab ihn schon."
Kopfschüttelnd murmelte ich: "Irgendwann musst du mir das mit diesem ganzen Geisterding nochmal erklären."
"Sicher. Irgendwann", kam es prompt zurück, aber ich bezweifelte eine ausführliche Erläuterung bei seiner unabdingbaren Verschlossenheit zutiefst. Seufzend öffnete ich auffordernd die Hand und Silas ließ den Schlüssel zu mir schweben. "Danke."
"Immer wieder gerne.", flötete er und trat grinsend durch die geschlossene Haustür.
Kopfschüttelnd folgte ich meinem neuen Begleiter, nachdem ich aufgeschlossen hatte und zog die Tür hinter mir wieder zu.
Silas stand breit grinsend in meiner engen Einfahrt und blickte zum strahlenden Himmel empor. "Ein schöner Tag zum Leben."
Er schielte zu mir herüber und lächelte herzhaft, sodass mir bei seinem Anblick das Herz aufging. Dann wurde Silas' Blick wieder ernst. Melancholisch. "Nutze ihn weise."