Prompt: Morgentau
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Silas stand nachdenklich an meinem Schlafzimmerfenster und blickte nicht einmal zu mir, als mein Wecker klingelte. Augenreibend setzte ich mich auf, Silas regte sich immernoch nicht. Mit zusammengekniffenen Augen ruhte seine volle Aufmerksamkeit auf dem Nichts hinter der Fensterscheibe.
"Hey, alles okay?"
Er schreckte auf und sah langsam zu mir herüber. "Ja, alles bestens. Ich war nur in Gedanken."
Ich nickte kaum merklich und schwang meine Beine ungelenk aus dem Bett.
"Was gibt es dort denn so wichtiges zu sehen?", fragte ich mehr ironisch, denn dort war keine Menschenseele zu erblicken. Im Nachthemd trat ich auf Silas zu. Nun starrten wir beide nach draußen.
Der Morgentau hang schwelend in der Luft. Hatte sich selbst an den kleinsten Grashalmen abgesetzt. Die Welt wirkte trostlos, fast schon im Stillstand.
"Wunderschön, oder?", fragte Silas aus dem Nichts.
"Der Tau?" Ich hob irritiert die Augenbrauen. Das empfand er also als schön?
Silas nickte bedächtig. "Irgendwie wirkt der Nebelschleier beruhigend auf mich. Gewitter sind so ... laut und ungestüm. Die kann ich absolut nicht ab. Aber Tau ... Der ist einfach da. Man merkt kaum, wann er sich gebildet hat. Er ist beständig - und dann wieder nicht mehr existent." Silas zuckte mit den Schultern. "Das finde ich faszinierend."
Ich lächelte sanft. "Ja, das ist wahrhaftig faszinierend. Andererseits rede ich gerade mit einem Geist und das finde ich doch ein wenig faszinierender, als einfachen Morgentau."
Silas lächelte schwach. Seine sanften Augen ruhten weise auf mir. "So habe ich auch gedacht. Mittlerweile überdenke ich vieles. Der Tod ist eigentlich so gewöhnlich, so ... normal. Doch die Sterblichen wollen ihn nicht wahrhaben. Nicht, bis er wahrhaftig eintritt."
Ich runzelte die Stirn und murmelte: "Da hast du wohl recht. Und er tritt so plötzlich ein, wie sich aus dem Nichts Tau bilden kann. Eigentlich sind die beiden Dinge gar nicht so verschieden."
"Nur dass der Tau wieder verschwindet. Den Tod zu überlisten, ist ein ganz anderes Unterfangen."
Ich horchte auf, aber Silas wandte sich im nächsten Moment auch schon ab, wohl, um mich beim Ankleiden alleine zu lassen. Schnaubend fuhr ich zu ihm herum. "Und irgendwann wirst du mir mal erklären müssen, wie genau du das geschafft hast. Du kannst mir nicht ewig alles wichtige verschweigen und dicht machen, sobald wir auf dein Geistsein zu sprechen kommen."
Silas drehte sich an der Tür nochmal zu mir herum, den Blick nachdenklich gesenkt. "Glaub mir, manche Dinge bleiben besser geheim. Manche Dinge ... die willst du gar nicht wissen."
Er trat durch die geschlossene Tür und ließ mich verwirrt alleine zurück. Toll, das war eindeutig wieder viel zu viel Philosophie am frühen Morgen. Und im Endeffekt hatte ich noch weniger Ahnung als zuvor. Wobei doch die Philosophie im Grund genau daraus bestand, mehr Fragen aufzuwerfen, als Antworten zu geben, oder nicht? Aber warum musste gerade ich einen philosophierenden Geist an meiner Seite haben?
Ich schüttelte genervt den Kopf und machte mich lieber daran, für die Arbeit fertigzuwerden. Dieser Kerl verwirrte mich ohnehin nur.