Prompt: Erster Kuss
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Ich hatte mir Nachtclubs immer viel schauriger vorgestellt. Mit gruseligen Typen, die Frauen für niedere Dienste ausnutzten. Mit jeder Menge Gewalt und Drogen. Aber tatsächlich schienen die meisten Clubs sogar sehr auf Seriosität zu achten, wie mir mein unsichtbarer Begleiter gerade mitteilte.
Silas wirkte vollkommen gelassen zwischen all den Menschenmassen. Nichts erinnerte an seinen kleinen Ausbruch von vorhin.
Ich dagegen war wenig begeistert von meiner Umgebung und quetschte mich ächzend durch die Menge. Hier war alles vertreten. Männer, Frauen, jung und alt. Die grellen Scheinwerfer erinnerten eher an eine Art Disko, nur die dunkle Raumausstattung verlieh dem Ganzen eine finstere Aura. Auf der weitläufigen Bühne räkelten sich gerade zwei halbnackte Damen, tanzten sich gegenseitig an.
"Da! Mit dem können wir reden. Komm mit, Lyn!", verlangte Silas und winkte mich aufgeregt hinter sich her. Ich legte stöhnend meinen Kopf in den Nacken, als ich den Mann erblickte, auf den Silas zusteuerte. Er stand viel zu weit von mir weg und ich müsste mich abermals an unzähligen Leuten vorbeikämpfen, um zu ihm und Silas zu gelangen. Blöder Geist! Ich will auch einfach durch Leute hindurchgehen können!
Meine Frustration herunterschluckend nahm ich Kurs auf die beiden hochgewachsenen Männer. Himmel, war das ein Schrank! Silas war ja schon ein ziemlicher Riese, aber der Mann neben ihm ... der war Gigantos persönlich.
Er trug ziemlich schicke Klamotten, dunkel gehalten, aber trotzdem irgendwie besonders. Vermutlich ein Stripkollege, oder wie die sich eben nannten. Die blonden Haare waren sorgsam auf dem Kopf zurechtdrapiert, als hätte er dafür Stunden in Anspruch genommen. Ich zog amüsiert die Augenbrauen nach oben. Ich mochte Silas' Strubbelmähne trotzdem lieber, als so ein hochgegeltes Kunstwerk. Was würde passieren, wenn dem Kerl mal jemand zufällig durch die Haare strich? Vermutlich würde er in Ohnmacht fallen, weil seine Frisur ruiniert war.
Ich erreichte Silas, als der mir noch unbekannte Mann mir gerade den Rücken zuwandte. Er redete angestrengt mit einem Techniker.
"Nein, ich brauche rotes Licht, hörst du? Rot!", hörte ich den Fremden energisch ausrufen, der mich noch gar nicht wahrgenommen hatte.
Silas beugte sich über mein Ohr, damit ich ihn klar verstehen konnte und gab mir ein Paar Hintergrundinfos zu unserem Mr. X.
"Also hör zu, Lyn. Das da ist Jack, einer der wenigen Stripper dieses Clubs, mit denen ich mich so halbwegs gut verstanden habe. Die meisten ziehen hier ihr Ding alleine durch und wollen keine engeren Freundschaften mit anderen Tänzern, aber Jack hier war da schon immer sehr offen und geht eigentlich auf jeden zu."
Silas' Monolog wurde durch den lieben Jack unterbrochen, der den Techniker energisch zu belehren versuchte: "Es ist mir egal, dass alle heute diese Lichteinstellung hatten. Ich. Will. Rot. Es passt viel besser zu meiner Rolle."
Silas wandte seine Aufmerksamkeit entschuldigend wieder auf mich. "Er ist gleich dran mit seiner Show. Da drehen die meisten nochmal kurz am Rad ... Sprich ihn besser schnell an! Wir haben nicht viel Zeit, bis er los muss."
Ich musterte den Geist neben mir entsetzt, hatte nur wenig Mut, diesen Fremden einfach anzusprechen. Schließlich fasste ich mir aber doch ein Herz und tippte diesem Jack räuspernd auf die Schulter. "Entschuldigen Sie?"
Der blonde Schopf wandte sich mir zu, musterte mich kurz von Kopf bis Fuß. "Meine Show beginnt bald, Kleine. Keinen Grund zur Eile. Geh noch ein wenig an die Bar und hol dir davor noch 'nen Drink. Denn nach meinem Auftritt bist du sicher durstig", wackelte Jack mit den Augenbrauen und versuchte, mich gleichzeitig abzuschütteln und anzugraben.
Ich war für einen Moment so perplex, dass ich nur mit dem Kopf schütteln konnte.
"Lahmer Spruch, Mann ...", äußerte sich Silas an meiner Seite. "Sag ihm, du musst über mich sprechen! Sag, dass du mich kanntest vor meinem Ableben."
"Ich ... Ich bin nicht deswegen hier, sondern weil ich mit Ihnen über Silas reden muss. Wir kannten uns sehr gut. Und ihr wart doch hier so etwas wie ... Freunde", murmelte ich beschämt und fühlte mich ganz komisch, einen Wildfremden vollzulabern. So etwas tat ich normalerweise nie.
Jacks Brauen hoben sich verwirrt.
"Oh, fast vergessen", klatschte sich Silas gegen die Stirn. "Hier kennen mich die meisten nur unter meinem Decknamen. Jack und ich haben auch fast nur diese gegenseitig benutzt. Da klingelt's wahrscheinlich eher. Probier's mal mit Sy."
"Ähm, du kanntest ihn vermutlich eher als Sy?", hakte ich erneut nach und diesmal ging Jack ein Licht auf.
"Du willst über Sy sprechen? Wer bist du noch gleich?" Misstrauisch verschränkte der Riese die Hände vor der Brust und ich blickte hilfesuchend zu dem anderen Riesen, aber Silas schaute gerade irgendeiner halbnackten Frau hinterher und bekam nichts mit. Pff, für wen machte ich diesen Scheiß hier überhaupt, wenn er nichtmal aufpassen konnte?
Dann riss ich mich doch schnell zusammen und erwiderte peinlich berührt: "Eine Freundin von ihm.", während mir die Röte zu Kopf stieg. Eindeutig aus Wut, ja.
"Aha", meinte Jack, immernoch wenig überzeugt von meinen guten Absichten.
Silas seufzte neben mir genervt. "Das hätte ich wohl befürchten müssen. Okay, dann sag ihm ein paar Hintergrundinfos über mich, die nur ganz wenige kennen. Erstens, ich stamme aus einer ziemlichen Assi-Familie. Zweitens, ich habe dennoch Abi gemacht und dann aber abgebrochen. Und drittens... lass mich kurz überlegen."
Während Silas vor sich her grübelte, wiederholte ich schnell sein Gesagtes. Dabei ratterte ich alles einfach herunter, als groß darüber nachzudenken, weil mich diese kleinen Details viel zu sehr schockten und durcheinanderbrachten. Und sie machten mich neugierig. Neugierig, was da noch alles war.
"Ah, ich hab's", schnippste Silas mit den Fingern. "Mein erster Kuss war mit einem Kerl, genauer meinem damaligen besten Freund, weil wir uns beide vor dem ersten Date nicht blamieren wollten und heimlich geübt haben." Er sprach das mit solcher Selbstsicherheit, dass ich perplex über die paar Worte stolperte.
"Und Silas' ... ähm ... sein erster Kuss war mit einem Jungen, weil ... sie ... üben wollten." Ich schüttelte leicht den Kopf, um das wieder aus meinem Bewusstsein zu verdrängen. Manche Dinge wollte ich doch nicht so genau wissen.
Jack staunte nicht schlecht und nickte zufrieden. "Okay, er schien dir echt zu vertrauen, wenn er dir sowas erzählt hat. Traurige Sache, was mit ihm passiert ist ... Aber ich muss jetzt wirklich gleich auf die Bühne, also was genau willst du wissen?"
Der junge Mann sah immer wieder zur Bühne herüber, als würde er lieber das Weite suchen wollen. Aber mir war das Thema auch unangenehm, also verstand ich das gut. Womöglich fiel es ihm einfach nicht leicht, über seinen ehemaligen Freund zu sprechen.
"Na los, frag ihn! Frag ihn!", drängte Silas mich mit großen Augen und ich drehte nervös eine Haarsträhne um den Finger.
"Ich wollte nur fragen, ob es denn schon genauere Informationen gibt. Zu seinem Tod. Wurde schon jemand überführt?"
Jack nickte, ohne mir dabei in die Augen zu schauen. "Sie heißt Betty. Hat ihm oft hier im Club aufgelauert und sich eingebildet, die beiden wären ein Paar. Richtig stalkermäßig hat die sich verhalten. Echt gruselig. Immerhin haben die Bullen sie jetzt endlich weggesperrt."
Silas tauschte einen verwunderten Blick mit mir, runzelte die Stirn. "Echt? Diese Betty soll es gewesen sein? Die hab ich doch schon lange davor aus dem Club schmeißen lassen. Das war schon ewig vorbei."
Ich gab Silas' Worte in abgewandelter Form weiter: "Silas hatte sie mal erwähnt, aber er sagte eigentlich, dass das vorbei wäre."
Jack nickte energisch. "Ja, das dachte ich auch, aber einen Tag vor seinem Tod ist sie plötzlich wieder hier aufgetaucht und hat eine Szene gemacht. Sie wollte unbedingt Silas sprechen, aber er hatte an dem Tag frei und ich Trottel hab die Verrückte wieder weggeschickt, ohne Sy zu kontaktieren. Ich dachte, die verliert schon wieder das Interesse. Ich wusste ja nicht, dass ... dass ..."
Schnell legte ich eine Hand auf Jacks Schulter und versuchte, ihn zu beruhigen: "Ist schon gut. Du hast ihn nicht getötet und damit auch keine Schuld daran. Geh jetzt auf deine Bühne und mach dir keine Vorwürfe. Das hilft Silas jetzt auch nicht mehr weiter. Danke für die Auskunft. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen."
Jack nickte immernoch leicht verstört, riss sich dann aber zusammen und setzte wieder ein Pokerface auf. Im nächsten Moment stolzierte er auch schon in Richtung Bühne, als wäre nie etwas gewesen.
"Wow, der kann ja echt von Null auf Hundert", raunte ich Silas über die Musik hinweg zu. Dieser schenkte mir ein laszives Grinsen.
"Tja, so sind wir Stripper wohl. Immer gut im Vortäuschen."
Seine Worte klangen traurig, aber seine unbeschwerte Miene verriet davon nichts. Wir sahen dabei zu, wie das Licht kurz gedimmt wurde. Dann begann jemand, Jack anzusagen: "Und jetzt, meine Damen - und Herren - präsentiere ich euch den einzigartigen, blutdürstigen Jack the Stripper!" Lautes Jubeln erfüllte den Raum, während ich mich fast ein meiner Spucke verschluckte. Jack the Stripper? Das war auf so viele Weisen grotesk, aber auch ... echt gut gewählt. Ich gluckste leise. "Passt auf, bei dieser Show besteht immer ein kleines Risiko, tot umzufallen."
Als die letzten Schreie verklangen, legte Jack los. Und wie er das tat. Himmel, diesen Hüftschwung hätte ich auch gerne drauf.
Ich wandte mich aber von der Show ab, als ich Silas' Blick auf mir spürte. Ich konnte ihn nicht ganz deuten. Er wirkte nachdenklich, aufgewühlt. Klar, er hatte schießlich gerade den Namen seiner vermuteten Mörderin erfahren. Da wäre ich auch neben der Spur.
"Hast du auch so einen lustigen Decknamen? Oder nur Sy?", versuchte ich ihn abzulenken.
Ein wenig verzögert antwortete er: "Nur Sy." Die Art, wie er dabei meine Augen mied - und er schaute mir eigentlich immer direkt ins Gesicht - ließ mich aufhorchen.
"Du. Lügst.", stellte ich schmollend fest.
"Nein, gar nicht."
"Doch"
"Nö"
"Aber sowas von."
"Na schön, ich hab einen, aber den sag ich dir trotzdem nicht. Du machst dich nur wieder darüber lustig", grummelte er.
"Gar nicht! Versprochen", klimperte ich mit den Augen und versuchte so vertrauenswürdig wie möglich auszusehen.
Silas stammelte irgendwas vor sich her, aber so schnell, dass ich es durch den Lärm nicht verstand.
"Was?"
"SHY SY", brüllte er über die Musik und ich unterdrückte ein Prusten.
"Ich wusste es..."
Wenige Sekunden später hielt ich es schon nicht mehr aus und kicherte wie irre los. "Shy Sy? Schüchterner Sy? Schüchtern? Dass dieses Wort in Verbindung mit dir überhaupt im selben Satz vorkommen kann, ist schon ... gewagt." Wieder schüttelte ich mich vor Lachen.
"Ist ein gutes Image. Bringt viel Kohle", zuckte Silas bemüht lässig die Achseln. "Jack und ich haben gewissermaßen die Rollen getauscht, weil er den krassen Bad Boy miemt und eigentlich total lieb ist. Ich dagegen ... naja, du weißt ja, wie ich eigentlich bin."
"Wenn du damit einen selbstverliebten, aufgeblasenen Witzbold meinst, dann ja."
Silas schaute gespielt getroffen zu mir herüber. "Lyn. Du verletzt mich immer wieder."
Dann fügte er auffordernd hinzu: "Komm, verschwinden wir hier. Außer du willst noch zusehen." Er grinste spöttisch in Jacks Richtung, der mittlerweile nur noch in Boxershorts dastand.
Peinlich berührt sah ich weg und antwortete schnell: "Nein, lass uns ruhig gehen."
Wir verließen den Stripclub und ich atmete genießerisch die kühle Nachtluft ein. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie stickig es da drin eigentlich war.
"Lyn?", fragte eine unsichere Stimme hinter mir.
Ich drehte mich fragend zu Silas um.
"Ich weiß, das wird dir jetzt gar nicht gefallen, aber ... Gehst du mit mir zu Betty auf die Polizeistation?"