Prompt: Sommergewitter
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"Ohje, siehst du diese Wolken? Siehst du, wie dunkel die sind?" Silas stand entgeistert am Wohnzimmerfenster und schaute zum Himmel empor. "Da bekommen wir heute noch richtig was ab."
Ich trat auf den Geist zu und stellte mich neben ihn. Die eine Seite des Himmels war hellblau und noch vor wenigen Minuten hatte die Sonne geschienen. Aber am Rest des Firmaments zogen finstere Wolken auf, die wahrlich nichts Gutes bedeuteten - aber mir ganz gelegen kamen.
"So ein Mist aber auch. Dann ist es wohl doch keine so gute Idee, heute Abend noch an deinen alten - ähem - Arbeitsplatz zu fahren", meinte ich unschuldig. Innerlich war ich erleichtert, denn ich hatte wirklich keine große Lust darauf, ein Striplokal von Innen zu sehen.
"Nein. Nein, auf keinen Fall. Wir sollten hier bleiben und alle Fenster verriegeln. Ja." Silas hob und senkte immer wieder ganz schnell seinen Kopf, um seinen Worten Ausdruck zu verleihen. Nicht einmal wandte er dabei seine weit aufgerissenen Augen vom Fenster ab.
Ich prustete los. "Sag bloß, du hast Angst vor Gewittern."
Blitzschnell schoss sein Kopf zu mir. "Ich? Pff. Natürlich nicht." Er streckte stolz seine Brust heraus und ich musste einen weiteren Lachanfall unterdrücken.
"Nein, natürlich nicht. Wie komme ich auch auf so etwas, schließlich bist du ja schon tot. So ein kleines Gewitter kann dir gar nichts mehr anhaben." Meine Stimme triefte vor Ironie. Es war offensichtlich, dass Obermacker Silas einen gewaltigen Unwetter-Komplex hatte.
"Genau. Absolut unmöglich ...", murmelte Silas und trampelte von einem Fuß nervös auf den anderen.
"Also schön. Wie wäre es mit einer netten Komödie als Anlenkung? Dann machen wir uns eben so einen gemütlichen Abend", schlug ich vor und das erste Donnergrollen drang zu uns hervor.
"Du willst den Fernseher anschalten? Ja, bist du denn des Wahnsinns?", fragte Silas entgeistert. "Ein Blitz könnte einschlagen. Die Stromleitung durchfliegen. Wir können doch nicht so ein Risiko ...", redete er sich mehr und mehr in Rage.
"Okay, okay." Ich hob beruhigend die Hände. "Dann lese ich eben ein Buch, wenn ich keinen Fernseher einschalten darf." Grummelnd entfernte ich mich aus dem Wohnzimmer und Silas folgte mir nach kurzem zögern.
"Ein Buch? Das ist doch laaangweilig. Können wir nicht etwas anderes machen?"
"Nein", entgegnete ich kurz angebunden und ließ mich in meinem Zimmer angekommen auf mein Bett plumpsen. "Ich möchte überhaupt nichts mit dir zusammen machen. Deswegen lese ich ja auch. Damit ich dich für ein paar Minuten mal ausblenden kann."
Demonstrativ griff ich nach Stolz und Vorurteil auf meinem Nachttischschränkchen und schlug es auf der Seite des Lesezeichens auf.
In der nächsten Sekunde flog eben jenes wie von Geisterhand aus dem Buch und segelte in einiger Entfernung auf den Boden.
"Hey!", empörte ich mich und lieferte mir ein Blickduell mit dem schmollenden Geist, der mit verschränkten Armen vor meinem Bett stand.
"Du bist gemein. Ignorier mich nicht, das kann ich überhaupt nicht leiden."
Ich stöhnte genervt auf. "Und ich kann dich nicht leiden. Geh mir nicht auf den Zeiger. Ich möchte lesen, also werde ich es auch. Sogar Mr. Darcy hat mehr Manieren als du!" Mit eisernem Griff hielt ich das aufgeschlagene Buch fest - nicht, dass die eingeschnappte Leberwurst mir dieses auch noch entriss - und senkte meinen Kopf, um weiterzulesen.
"Lyyyn?", riss mich eine unsichere leise Stimme erneut aus dem Lesefluss.
Ich sah auf, fand es immernoch merkwürdig, nicht mit Grace angesprochen zu werden. Aber irgendwie gefiel es mir auch, dass Silas sich für einen speziellen Spitznamen entschieden hatte. "Was?"
"Wer ist dieser Mr. Darcy?", fragte Silas neugierig. Im nächsten Moment erleuchtete draußen ein Blitz den Nachthimmel und der hochgeschossene Mann vor mir zuckte verzweifelt zusammen. Ja klar, er hat eindeutig keine Angst.
Ich verkniff mir einen bissigen Kommentar und deutete neben mich auf die Bettdecke. Zeit, den armen Kerl ein wenig von dem Gewitter abzulenken.
Zögernd ließ Silas sich neben mir nieder, aber das Bett senkte sich keinen Millimeter herab. Fast so, als würde der Geist darüberschweben.
Abwartend sah Silas zu mir herab - Er war aber auch ein Riese - und ich senkte schnell den Blick, um ihn nicht so lange anzustarren.
"Also, Mr. Darcy ist die männliche Hauptrolle aus Stolz und Vorurteil. Das ist mein absolutes Lieblingsbuch", schwärmte ich angetan. "Ich lese es gerade zum zweiten Mal und ..."
"Zum zweiten Mal?", unterbrach Silas mich schockiert. "Himmel, ich lese nichtmal so ein Buch. Wieso sollte man es gleich mehrmals lesen? Da weiß man doch schon alles. Ist das nicht langweilig?"
"Langweilig? Nein, gar nicht. Wenn du einmal ein Buch in dein Herz geschlossen hast, dann ist es wie nach Hause kommen, sobald du es erneut aufschlägst. Frage mich aber bloß nicht, wie oft ich schon Harry Potter gelesen habe. Sonst trifft dich gleich nochmal der Schlag", witzelte ich.
Ein breites Lächeln zierte Silas' Gesicht. "Es muss schön sein, für etwas so eine Leidenschaft zu verspüren. Das kenne ich gar nicht." Stirnrunzelnd blickte er auf seine Hände.
Ich legte mein Buch zur Seite. Ist das der Zeitpunkt, an dem Silas sich mir ein bisschen öffnet?
"Wie kam es dann eigentlich dazu, dass du Stripper wurdest? Du wurdest doch nicht etwa ... dazu gezwungen, oder?", fragte ich vorsichtig.
"Was?" Er blickte schockiert zu mir auf. "Neeein, ich hab das schon freiwillig gemacht. Es war leicht verdientes Geld und ich ... Ich brauchte dringend Geld."
Vorsichtig hob ich die Hand, wollte ihn nicht wieder verstummen lassen, aber verspürte gleichzeitig den dringenden Wunsch, ihn zu berühren. Sachte streiften meine Hände über seine Schulter, versuchten es zumindest. Es fühlte sich kalt an, aber so richtig bekam ich nichts zu fassen. Fast wie ein Hologramm kam er mir vor. Eine Erscheinung, die nicht wirklich da war.
Stirnrunzelnd murmelte ich: "Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob du wirklich real bist, oder nur in meinem Kopf existierst."
Silas verzog seinen Mund zu einem attraktiven Grinsen, aber es erreichte seine Augen nicht. "Manchmal weiß ich das selbst nicht so genau."
Er hob seine Hand und strich mir mit den kühlen Fingerspitzen über die Wange. Ich zuckte nicht davor zurück. Stattdessen versank ich geradezu in den Tiefen seiner Augen und konnte einfach nicht glauben, dass sie mich noch vor wenigen Tagen tot angestarrt hatten. Leblos. Ohne jeglichen Glanz. Das wollte ich nie wieder erleben.
Ich schluckte den Klos in meinem Hals herunter, als Silas seinen Arm zurückzog. Räuspernd versuchte er die elektrische Spannung zu überspielen, die sich zwischen uns aufgebaut hatte.
"Also, erzähle mir mehr über den unmöglichen Mr. Darcy, der nicht so schlimm wie ich sein soll", forderte er und ich nickte eifrig.
"J-Ja, klar. Gerne." Draußen tobte noch immer das Unwetter und somit verbrachte ich den restlichen Abend damit, Silas von Stolz und Vorurteil zu erzählen, ohne das Buch noch ein einziges Mal aufzuschlagen. Aber der Abend gefiel mir dennoch wahnsinnig gut.