Prompt: Am Ende des Sommers
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Am Abend wurde es trügerisch kalt. Der Herbst stand praktisch schon vor der Tür. Fröstelnd schloss ich das Fenster, welches ich kurz zum Lüften geöffnet hatte.
Silas saß - oder schwebte - wie üblich auf meinem Bett. Er grinste mich unentwegt an. Nachdem ich eingewilligt hatte, morgen mit ihm auf's Polizeirevier zu fahren, war er glücklich neben mir verstummt und ließ mich den restlichen Abend weitestgehend in Frieden. Mir jedoch schwirrte immernoch der Kopf von all den neuen Eindrücken, die ich heute über Silas erhalten hatte.
Ich konnte es nicht glauben, dass wir tatsächlich seinem Mörder auf der Spur waren - oder Mörderin, falls es tatsächlich diese Betty war.
"Silas", erhob ich mit verkniffener Miene das Wort. Er hob neugierig die Augenbrauen.
"Du hast mir immernoch nicht gesagt, weshalb wir morgen zur Polizei gehen. Was erwartest du dir davon?", versuchte ich zum ersten Mal an diesem Abend meine altbekannte Neugier zu stillen. Bisher hatte ich eisern geschwiegen, wollte Silas' gute Laune so schnell nicht wieder zu nichte machen. Aber irgendwann hatte auch meine Geduld seine Grenzen.
Ich beobachtete genau, wie schnell der Glanz Silas' Augen verließ. Unsicher blinzelte er zu mir auf.
Ich überlegte kurz, die Konfrontation zu meiden, aber ließ mich dann doch nicht stoppen: "Ich meine ja nur ... Du wirst wohl kaum eine magische Eingebung erhalten, dass diese Betty schuldig ist. Was hast du also vor? Warum machst du um alles immer so ein Geheimnis?"
Erst wirkte der Geist noch eingeschüchtert, dann blähte er wütend die Nasenflügel auf.
"Oh, als ob du so viel mehr von dir preisgibst. Du hast dich nicht einmal bei deinen Freunden gemeldet, seit ich mich dir gezeigt habe. Glaube nicht, ich würde das nicht bemerken. Und was ist mit deinen Eltern? Du sprichst nie über sie. Warum erwartest du von mir, dass ich dir meine dunkle Seele ausschütte, wenn du ebenfalls genug Dreck am Stecken hast?"
Überrascht war mein Mund aufgeklappt. Ich wusste selber nicht, was ich darauf erwidern sollte. Nie hatte ich daran gedacht, dass mein abgefucktes Leben Silas je interessieren könnte.
"Da gibt es nicht so viel zu erzählen", murmelte ich kleinlaut.
"Ach ja?", stand der Geist in Windeseile vor mir, baute sich in seiner vollen Größe auf, die Hände zu Fäusten geballt. "Warum glaube ich dir nicht?"
Zähneknirschend wich ich seinem eindringlichen Blick aus. Wusste genau, dass seine tiefen Augen mich dazu bringen würden, alles auszuplaudern. Und das wollte ich eigentlich vermeiden.
Wissend nickte Silas und wandte sich von mir ab. "Wusste ich's doch. Dann verlange aber auch nicht andauernd Auskünfte über mein Leben, wenn du mich auch nicht an deinem teilhaben lassen willst."
Mistrauisch beäugte ich seinen kleinen Aufstand. Einerseits wirkte er ebenso gekränkt, wie ich mich oft fühlte, wenn er mich außen vor ließ. Aber da war noch etwas ... Erleichterung? Freude? Weshalb hatte ich das beklemmende Gefühl, dass Silas genau das erreichen wollte? Dass ich endlich aufhörte, Fragen zu stellen.
Oh nein, Freundchen! So leicht mache ich's dir nicht. Und wenn ich dafür meine Mauern fallenlassen muss.
"Silas, setzen!", verlangte ich mit fester Stimme, bevor er sich durch die Wand aus dem Staub machen konnte. "Du hast es nicht anders gewollt."
Verdutzt leistete der Geist meinen Worten folge. Ich sank schwermütig neben ihn.
"Meine Eltern und ich, wir haben kein besonders gutes Verhältnis. Papa trinkt seit ich denken kann viel zu viel. Unter zwei Bier pro Tag sind nicht drin, meistens ist es um einiges mehr. Wenn er getrunken hat, ist er oft sehr ... schwierig. Meine Mutter bleibt aus irgendeinem Grund bei ihm, obwohl sie schon seit Jahren eine Affäre hat. Mein Vater weiß das auch, aber es scheint ihm ziemlich egal zu sein. Sie lieben sich einfach nicht mehr." Ich machte eine kurze Pause, in der ich unsicher zu Silas spähte, der mir aufmerksam folgte.
"Ich halte es nur schwer bei ihnen aus. Sie leben auf dem Land, in einem winzigen Dorf und dort kennt jeder jeden. Andauernd wird getratscht - auch über meine Eltern. Ich komme mit diesen Leuten nicht gut klar, also hab ich mir eine kleine Wohnung in der Stadt gesucht, sobald sich die Möglichkeit bot." Ich zuckte abweisend mit den Schultern.
"Meine Schulfreunde habe ich auch größtenteils zurückgelassen. Ich weiß auch nicht, am meisten habe ich mich wohl einfach auf meine Ausbildung konzentriert und den Rest vernachlässigt, um ... um gewisse Dinge hinter mir zu lassen." Ich atmete tief aus, um den Druck aus meinen Lungen zu lassen. Das war doch gar nicht so schwer. Ich hatte wahrlich genug über mich erzählt. Das musste reichen.
Auffordernd blickte ich zu Silas. Na los, jetzt bist du an der Reihe.
"Aber das war nicht alles", zischte Silas schlicht, die Stirn weiterhin in Falten gelegt. "Du verschweigst mir etwas. Etwas, das du außerdem noch hinter dir lassen musstest."
Meine Augen weiteten sich schockiert. "Woher willst du wissen, dass ..."
"...irgendjemand aus deinem Leben gestorben ist?", beendete er meinen Satz. "Ich kann es spüren. Dich umgibt so eine ... eine dunkle Aura. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich liege richtig, nicht wahr? Wer war es? Dein Liebster? Hast du ihn verloren? Oder war es ein Verwandter?"
"Das kannst du wirklich spüren?", hauchte ich überrumpelt und blinzelte eine Träne weg.
Silas starrte nachdenklich an die Decke, nickte kaum merklich. "Es war ein Typ, oder? Ich frage mich schon seit langem, wie sich ein anderer Mensch so in deine Seele gebrannt haben konnte. Deine Augen sprühten voller Leben, als du damals verzweifelt versuchtest, mich nicht verbluten zu lassen. Aber du stankst geradezu nach Tod. Womöglich war es das, was dich für meine Seele so anziehend gemacht hat."
Nachdenklich streifte mich sein Blick. Ich spürte, wie der Knoten in meinem Magen fester wurde. Als würde jemand auf meinem gequälten Leibe Tango tanzen.
"Ich bin auch dafür, das Thema fallenzulassen", sagte ich schließlich ausgelaugt und wischte mir müde über das Gesicht. Es war eine dumme Idee, Silas überhaupt etwas zu erzählen. Er hatte ja Recht. Ich war genauso verschlossen wie er. Also warum erlaubte ich es mir, ihm Vorträge zu halten?
Ich betete, dass Silas mich nicht weiter ausquetschen würde - sonst würden Tränen fließen.
Er ließ mich ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer verschwinden. Vermutlich spürte er, wie nahe mir das Thema ging. Im Bad ließ ich mir mehr Zeit als üblich. Ich brauchte ein wenig, um wieder zurechtzukommen. Dann betrat ich wieder mein Zimmer, um mich umzuziehen.
"Tut mir leid, ich wollte dich nicht so aus der Bahn werfen", erwartete Silas mich auch schon. Noch immer saß er im Schneidersitz auf meinem Bett. Sah besorgt zu mir auf.
"Alles gut", sprach ich tapfer und wühlte mich abweisend durch meinen Kleiderschrank, um ein passendes Nachthemd zu finden. Dann verschwand ich abermals im Bad. Silas hielt weiterhin die Klappe.
Auch, als ich mich bettfertig hinlegen wollte, stand er stumm auf und ließ mich die Decke aufschlagen - noch bevor ich ihn darum bitten musste.
Eingekuschelt in meinem Bett knipste ich das Licht aus und drehte mich an die Wand, weg von Silas und seinen allwissenden Augen.
"Tut mir wirklich leid, Lynnie", flüsterte der Geist hinter mir. "Du wirst darüber hinwegkommen, irgendwann. Der Tod ist gar nicht so wild. Die Überlebenden sind die einzigen Opfer des Todes. Aber am Ende des Sommers müssen wir eben alle feststellen, dass nichts ewig währt. Die langen Tage gehen zu Ende, die Wärme schwindet. Ja, selbst die Blätter werden braun und zerfallen am Boden, als wäre nie etwas grünes, fruchtbares an ihnen zu finden gewesen."
Ich stöhnte in mein Kissen, während ich mir sein belehrendes Grinsen hinter meinem Rücken ausmalte. Es war erstaunlich, wie reif und unbekümmert er über dieses Tabuthema sprach.
"Sei nicht immer so anstrengend poetisch!", knurrte ich schwach.
"Okay, ich bin still", sprach er sanft. "Aber eins noch ..."
Ich seufzte abwartend.
"Melde dich trotzdem mal wieder bei deinen Freunden. Nur weil ich an dich gebunden bin, möchte ich dich nicht von allen abschotten. Du brauchst andere Kontakte - auch wenn es dir nicht leicht fällt und sie dich eventuell an deinen Liebsten erinnern."
Ich schwieg. Dachte über seine Worte nach. "In Ordnung, ich werde Angela morgen mal anschreiben. Aber Silas ... "
"Ja?"
"Es war nicht mein Liebster. Ich liebe niemanden."
Nun war es an dem Geist, mich auf eine Antwort warten zu lassen. "Verstehe. Dann solltest du dringend damit anfangen. Liebe so tief und innig wie kannst. Koste das Leben aus, bevor es zu Ende ist. Bereue später nicht, es nicht getan zu haben."