Lyssa and the Courage to face Everything
"Seeeuuufz ..."
Ich blase gerade so richtig schön Trübsal, als Lyssa mit Klemmbrett und Stift ins Zimmer geschwirrt kommt. "Also, Marv, ich hab unsere Schreibpläne für die nähere Zukunft durchgearbeitet und mir ist aufgefallen, dass da irgendwie acht Stunden für Schlaf wegfallen? Da muss sich jemand verrechnet haben, das hab ich dann gleich mal ausgebessert und dabei ist mir aufgefallen, dass dein heutiges Pensum ..."
"Seufz."
Lyssa erstarrt. "Moment mal ... Eyy, deine Herbstdepression habe ich auf später verschoben!"
"Nicht jetzt, Lys", murmel ich müde und rolle mich auf die andere Seite.
"Ganz genau! Nicht jetzt." Meine Fantasie schwirrt auf meine Nasenspitze. "Denn jetzt sind die Vorbereitungen für den NaNo dran! Und die Winterinvasion - na, klingelt da was?"
Ich wimmere und ziehe mir das brotchipsförmige Kissen mit den Pfoten über den Kopf.
Ich mag Brotchips wirklich gerne, aber sie haben einen entscheidenden Nachteil: Ein Loch in der Mitte. Lyssa setzt sich auf meine Stirn und kitzelt. "Hoch mit dir! Wir haben eine lange Liste! Und Partnerprojekte!"
Ich atme tief durch. Das Kissen drückt irgendwie zu fest auf meine Nase. Oder ist das der berühmte Leistungsdruck? "Lyssa, mir ist nicht nach Schreiben. Ich hab meine Pflichtseite für heute, also lass uns ... lass uns Pause machen, ja? Ich hab doch in letzter Zeit so viel geschafft."
Lyssa schnappt entgeistert nach Luft. "PAUSE?!"
"Bitte?" Ich öffne ein Auge.
"Aber ... aber ... du kennst doch den Rat vom Sumpfmann: Einfach drauflos schreiben."
Ich hebe den Kopf. "Soweit ich mich erinnere, war der weise Sumpfspruch: 'Soll ich weiterschreiben? - NEIN.'."
"Was darin resultiert, dass man weiterschreibt", fährt Lyssa fort.
"Bei dir resultiert alles darin, dass man weiterschreibt." Ich seufze wieder und lasse den Kopf ins Kissen sinken.
Lyssa ist zwar nur eine Lichtkugel, aber ich sehe trotzdem, wie sie leicht nach oben und zur Seite sieht, kurz nachdenkt und mich dann wieder anstrahlt: "Ich denke, du bist da dem Sinn des Lebens gaaanz dicht auf der Spur."
"Ach, Sinn und Unsinn ...", lamentiere ich. "Was soll das denn bringen? Man tippt sich die Pfoten wund, und woanders brennen die Wälder. Oder die Flüchtlinge."
Lyssa schwebt ein Stück zurück. "Whoa, plötzliche düstere Wendungen sind meine Charaktereigenschaft! Warst du wieder beim Knochenknurpsler?"
"Nur zum Überarbeiten", murmele ich. "So viel vergeudete Zeit ... währenddessen rennt die Menschheit blind ins Verderben. LGBT+-Gemeinde und Kirche zerfetzen sich gegenseitig, wo doch beide für Liebe stehen, und diverse Männer in hohen Positionen steuern fröhlich auf den nächsten Krieg zu ..."
"Ich hab dir verboten, Nachrichten zu gucken!", faucht Lyssa vorwurfsvoll.
"Und hier wird gegen Papiermasken demonstriert. Papiermasken!" Ich sehe Lyssa ratlos an. "Haben die alle sonst keine Probleme?"
Meine Fantasie schweigt einen Moment, während dem sie sanft auf und ab schwebt. "Schreib was dagegen", schlägt sie vor.
"Schreiben ist kein ... kein Allheilmittel!", schimpfe ich. "Da kannst du genauso gut ein Pflaster über eine klaffende Wunde kleben!"
"Mir hilft Schreiben immer", widerspricht Lys. "Und ich finde, das ist ein Anfang."
"Und in ein paar Jahren steht hier sowieso alles metertief unter Wasser", schließe ich.
"Was ist daran so schlimm, du liebst schwimmen!" Lyssa schwirrt um meinen Kopf. "Weißt du, wie viele Romane man daraus basteln ..."
"Mir wird schlecht davon", murre ich. "So was will ich nicht schreiben."
Lyssa stoppt. "Na gut, dann ... dann suchen wir was anderes! Na los, hoch mit dir."
"Hoch mit mir?", fragte ich verwundert, als Lyssa auch schon mein Nackenfell packt und zieht. Sie ist erstaunlich stark für ein körperloses, blaues Irrlicht.
"Komm schon!", drängt sie und ich tapse ihr widerwillig hinterher.
Auf dem langen Flur zieht es. "Brrr ..."
"Du kannst nicht die ganze Zeit nur im warmen Kaminzimmer rumhängen!", tadelt Lyssa mich. "Wahre Kunst entsteht nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Leid und Schmerz."
"Dann hättest du dir einen Masochisten als Autor suchen müssen."
"Eben nicht - mit solchen Typen kann ich überhaupt nicht arbeiten, denen tut man weh und für sie ist es bequem!" Lyssa stemmt sich gegen die Pforten nach draußen. "Hilf mir mal." Von der übermenschlich starken Fantasie ist nichts mehr zu sehen. Ich seufze noch ein letztes Mal und drücke den Kopf gegen die große Doppeltür.
Eisiger Wind peitscht uns entgegen, als die Tore aufschwingen und wir auf den Innenhof meiner Festung treten.
"Atme mal tief durch!", befiehlt Lyssa. "Die klare Luft ... der säuselnde Wind, der die Stimmen der Mauern zu uns trägt. Die gewaltigen, dämonensicheren Mauern, die deine Burg schützend umschließen, errichtet aus den Worten deiner Geschichten, deren Stimmen die Luft füllen wie ..."
"... ruhelose Geister in einer verlorenen, erfrorenen Welt", murmele ich.
Lyssa sieht mich düster an. "Ernsthaft?"
"Verzweifelt auf der Suche nach einem Licht, das lange erloschen ist."
"So wird das nichts", beschließt Lyssa, flitzt über den Hof und zum Fallgitter. "Na los, Wolf!"
Ich trotte gemächlich hinterher, über den knirschenden Kies, der die Wege zwischen den kleinen Gartenanlagen bedeckt. Lyssa zappelt unruhig, bis ich endlich im Tordurchgang bin. Sie führt mich hinaus auf die Kuppe des grauen Berges und vor eine mächtige Eiche.
"Also, Bäume. Du magst Bäume. Und hier haben wir eine wunderschöne Herbsteiche mit Blättern in den Farben von Feuer! Du würdest doch auch sagen, dass Herbst die Jahreszeit des Feuers ist, oder? Zwar kalt, aber stürmisch und farbenfroh! Und die tanzenden Blätter im Wind ..."
"Blatt für Blatt fällt vom Stamm, wie Spezies um Spezies vom Antlitz unserer Erde verschwindet. Wie lange noch, bis auf unserer Welt ein ewiger, schwarzer Winter herrscht und kein Blatt mehr am Baum ist?"
Lyssa knurrt leicht. "Wie wäre es mit einer Hoffnung auf neue Knospen?"
"Herbst, nicht Frühling", erinnere ich sie.
Lys überlegt. "Die Bienen kommen zurück. Schon seit ein paar Jahren."
"Bienen! Die im Herbst nach und nach erfrieren! Erinnerst du dich an das kleine Bienchen vor ein paar Tagen, wo es so aussah, als ginge es ihr besser, und am Abend lag sie dann da?" Mit schimmernden Augen sehe ich zu Lys auf.
"Ohhh, da war was."
"Und die ganzen ausgesetzten Hunde und Katzen auf den Straßen", fahre ich fort, "die frieren auch. Und die Obdachlosen erst!"
"Ich hab's!", sagt Lyssa und jagt davon.
Verwirrt sehe ich ihr nach, bis das blaue Pünktchen im Tal entschwunden ist. Kalter Wind fährt durch mein Fell. Ich setze mich Pfote für Pfote in Bewegung, zurück zur Burg.
Dann nehme ich ein helles Licht hinter mir wahr, das immer näher kommt. Mit einem unguten Gefühl drehe ich mich um, als Lys mir auch schon etwas ins Gesicht drückt.
"Kalt!", quietsche ich.
"Metall", erklärt Lyssa. "Sieh mich an."
Ich blinzele. Irgendwie ist meine Sicht verschwommen. Ich schiele.
Lyssa schwebt etwas näher.
"Jetzt sehe ich dich!", rufe ich. "Was ist das? Nimm das ab!"
"Das ist eine Brille. Für Weitsichtige", erklärt Lyssa.
"W-was?"
"Du kümmerst dich viel zu viel um Probleme, die zu weit weg sind, um sich drum zu kümmern."
"Du meinst also, ich soll einfach wegsehen, während ...?"
"Du sollst nur ab und zu mal auch wieder auf deine eigenen Pfoten gucken", unterbricht mich Lyssa. "Immer die Nase in den Problemen der Welt zu haben, ist auf Dauer einfach nicht gut."
Ich folge ihrer Anweisung. Vor meinen Pfoten liegen ein Blatt Papier und ein Stift.