Everyone and the Kaleidoscope of the Soul
Ich muss dieser Finsternis entkommen!
Mit einem Knurren senke ich den Kopf. Früher einmal, vor vielen Jahren, war ich ein Krieger. Ich habe niemals aufgegeben, sturköpfig mein Rudel beschützt, und wenn ich mir meiner Sache sicher war, bin ich keine Kompromisse eingegangen.
Wo ist dieser Wolf hin?
Ich öffne die Augen. Noch immer sitze ich im Schnee, umringt von Schatten. Es sind so viele! Erschöpft blicke ich ihnen entgegen. Ich spüre bereits, wie sie an mir zerren, obwohl sie ihre Klauen nicht ausgestreckt haben. Ich fühle meine Lungen in ihrem Gefängnis aus Rippen beben.
Untermalt vom Raunen der Monster, die Flammen und Tod herbeibeschwören, höre ich Stimmen im Wind flüstern.
"Du bist nicht stark genug ... du hast nicht die Kraft, uns fortzujagen ..."
"Wir können nicht besiegt werden ..."
"Es wäre so viel leichter, einfach zu schlafen ..."
Ich lege die Ohren an. Nein!
Mühsam stemme ich die Pfoten in den Grund. Dann drücke ich. Meine Muskeln spannen sich unter dem Fell. Als müsste ich den Erdball von mir weg drücken, kämpfe ich mich nach oben.
"Gib einfach auf ... es wäre so viel leichter ..."
"Wofür kämpfst du überhaupt noch, Krieger ohne König?"
"Du bist allein ... Hier kann dir niemand helfen ..."
Ich hebe den Kopf. Es geht so unendlich langsam, doch dann kann ich den Blick auf die Dunkelheit richten. "Ich bin nicht ... allein."
Die Stimmen im Wind lachen höhnisch auf. "Du bist vollkommen allein!"
Ich senke den Kopf. "Lyssa ..."
Als ich sie diesmal rufe, erglüht blaues Licht in meiner Brust und spült rasch über meinen gesamten Körper, ehe das Irrlicht neben meine linke Seite schwebt. Ihr blaues Funkeln lässt die Monster zurückweichen, wenigstens einen Schritt.
"Ich kann das nicht", flüstere ich meinem Kreaich zu. "Ich bin so müde!"
"Es ist alles gut, Marv. Das hier ist eine Geschichte, weiß du?" Lyssas Leuchten ist von einem endlosen, beruhigenden Blau. "Die Helden sind schon unterwegs, aber wie das so ist, muss man auf Charakterperspektiven achten." Sie schwebt nah zu meiner Schulter. "Sie suchen dich - ruf sie."
Ich stelle die Pfoten breiter auf und hebe den Kopf zum Himmel. Aus meiner Kehle steig ein Ruf, ein dünnes Heulen, ein Hilferuf, der weithin getragen wird. Ich schließe die Augen und lege all meine Hoffnungen in diesen Gesang, bis ich keine Luft mehr übrig habe.
Ich hechele mit gesenktem Kopf. "Wie lange, Lys? Ich ... ich fürchte mich so."
"Dann mach die Angst zu deiner Waffe."
Das ist nicht Lyssas Stimme. Ich hebe den Kopf und erblicke den Knochenknurpsler. Der hagere, dunkelbraune Wolf tritt an meine Seite und leckt sich die Lippen. Seine Augen funkeln mit einem matten, diabolischen Schimmer.
Hinter ihn treten seine Brüder, Urdoggo und Cyb. Lyssa flackert auf, um Sylas zu begrüßen, ihren goldenen Bruder, der über dem Knochenknurpsler schwebt. Cybs Kreaich Minion flackert über eine Anzeige auf dem mechanischen Körper des Wolfs, und Urdoggos Fantasie bildet eine weiße Krone auf dem Kopf des kurzfelligen, hellgrauen Kämpfers.
Hufschlag kündigt Sepia und Macchiato an. Auf dem Rücken des jüngeren Bruders sitzt der Weltenwanderer, wie immer mit einer Kapuze, die sein Gesicht verbirgt, mit einem Rucksack und abgetragener Wanderkleidung. Sepia, die wildere Schwester, galoppiert schnaubend vor uns und bäumt sich mit einem zornigen Wiehern auf.
"Beenden wir diesen Irrsinn." Mit diesen Worten tritt Mobu hinter mich. Der gebrechliche, dunkelhäutige Elb hat die blinden Augen auf unsere Feinde gerichtet. Im Arm trägt er das violett glühende Buch Hyphurion, dessen Seiten flattern und kleine Funken und Rauchfahnen entlassen. Xenon hüpft unter mir hervor. Neben meiner Pfote bemerke ich plötzlich eine kleine, bunte Tasse, aus der scheu zwei Stielaugen blitzen, bevor mein Schatten in die Länge wächst und Nivram sich neben Sepia aus dem Schnee gräbt.
Als ich den Blick hebe, kann ich die Sterne wieder sehen. Der Nebel hat sich verzogen. In meinem Rudel stehe ich mitten auf einem schneebedeckten Feld, in dem nur hier und da vereinzelte Tannen stehen und sich unter dem Wind beugen.
"Ihr könnt uns nicht besiegen!", höhnen die Stimmen und die Monster wiegen sich mit weit ausgreifenden Armen im kräftigen Wind. "Ihr seid Mücken, wir sind der Sturm!"
Wie soll ich mich dem allem stellen?
Und vor allem - warum?
Aber wem mache ich etwas vor? Ich kenne den Grund. Er ist ein Teil von mir und fühlt sich doch fremd an. Größer als ich.
Ich habe ein Versprechen gegeben. Vor unendlichen Jahren, als ich bereits einmal an diesem Ort war. An einem Tag, der mein letzter hätte sein sollen, von dem noch heute meine Narben künden.
Jeder muss eines Tages sterben. Aber deshalb kann man nicht trotzdem um jeden Tag und jede Stunde kämpfen. Man kann den Sommer nicht aufhalten, und doch ergibt es Sinn, einen Schneemann in den Schatten zu schieben. Kommt der Sturm und du bist nur eine Mücke - wieso nicht versuchen, den Wind mit deinen Flügeln umzulenken?
Wenn man es nicht versucht, sich einfach davonwehen lässt, dann könnte man genauso selbst der Wind sein und den Sturm bringen.
Mit einem Schrei beginnt der Kampf, als Sepia nach vorne stürmt. Die Monster peitschen mit ihren Krallen auf meine Pseudonyme ein, die tanzen und umherwirbeln, den Gedanken in mir gleich.
Doch diesmal sehe ich das Chaos mit anderen Augen. Die Unordnung folgt trotz allem einer Logik, die sich erst entfaltet, wenn sich alle Farben zum Reigen des Regenbogens verbinden.
Dieses Chaos ist ein Teil von mir, weil auch Lyssa ein Teil von mir ist. Jedes der Pseudonyme spiegelt nur eine Facette meiner Persönlichkeit wider. Das hier, das bin ich. Ich bin kreativ und ungebändigt, böse und zornig, voller Angst und voller Träume. Und ständig im Kampf mit meinen Dämonen.
Sylas brennt wie ein Leuchtfeuer. Die drei Brüder schnappen nach den trockenen Gliedmaßen der dunklen Gestalten. Sepia schlägt mit den Hufen nach allen Richtungen aus. Xenon, der an den Wurzelfüßen der Wesen nagt, sieht eher niedlich aus. Mobu und das Hyphurion sind in einen violetten Sturm gehüllt, der die weiten Roben des Elbe aufpeitscht und Illusionen aus dem Buch heraufbeschwört. Ich habe wirkliche Krieger unter meinen Pseudonymen.
Allein? Nein, das bin ich niemals. Nicht hier, in meiner Welt.
"Aber da draußen ...", flüstern die Stimmen im Wind.
Oh ja, die gibt es auch noch. Meine Facetten können vielleicht die Monster auf Abstand halten, doch den Wind können sie nicht bekämpfen.
Wie soll ich die flüsternden Geister zum Schweigen bringen?
Lyssa schwebt neben mir, statt im Kampf mitzumischen. Ihr Licht streicht sacht über meine Schulter. "Du weißt, was zu tun ist."
"Ja?"
"Aber natürlich. Oder warum hast du deine Flügel zurückgelassen und deine Last akzeptiert? Warum bist du aus dem Licht zurückgekehrt in die Finsternis?" Lyssa umkreist mich funkelnd. Mit einem Mal schwebt Sylas ihr hinterher und ich merke, dass immer mehr Pseudonyme ihren Blick auf mich richten.
Weil ich sie rufe. Ich werde ihre Stimmen brauchen.
Knurrend schließen die Monster einen Ring um uns. Höhnische Stimmen erklingen im Schneesturm.
Was sagte Lyssa noch? Es ist nur eine Geschichte. Mein Leben war also nur Plotting, das auf den Endkampf zusteuerte. Und welche wichtige Moral wurde gelernt, welches Thema zieht sich als roter Faden zwischen allen ablenkenden Charakteren und Eskapaden hindurch?
Es gibt eine Dunkelheit in mir, doch ich habe gelernt, damit zu leben. Trotzdem zu leben. Weil ich meine Ventile habe, und weil dieser Weg meine Entscheidung war.
Denn nur aus der Dunkelheit kann Licht entstehen. Nur aus dem Winter wird ein neuer Frühling geboren. Nur im Tod erkennen wir den Wert des Lebens.
"Und wer sich als Mücke dem Sturm stellt, wer Hoffnung in der Finsternis findet ...", sagt Lyssa.
Ich falle mit ein, wir sprechen wie aus einem Mund: "... der kann Schönheit aus Schmerz schmieden."
Ich schließe die Augen. Stille senkt sich über das weite Land unter dem Blizzard. Ich stemme die Pfoten in den Boden und hebe den Kopf. Mein Gesang hallt zuerst nahezu allein, doch untrennbar verwoben mit Lyssas Stimme. Es sind ihre Worte und mein Geheul. Ich bin der Schattenschnitt, der ihrem Licht Formen verleiht. Doch meine Pseudonyme fallen mit ein, und aus einer Stimme wird ein mächtiger Donner, der über das Land fegt. Zuletzt höre ich weitere Stimmen, die sich uns anschließen. Weil es auch außerhalb meiner Welt Sänger gibt, die meinen Ruf hören können.
Und über uns, an einem Himmel, der sich dem Blick endlich wieder offenbart, singen die Sternwölfe mit unzähligen Stimmen. Weil kein Wolf alleine singt, wenn er den Kopf zu Lunis' Licht erhebt.
Endlich sind die Worte da, die mir fehlten. Sie fanden ihren Weg in mein Herz, irgendwann in der Dunkelheit, als ich ihr Kommen nicht sehen konnte. Es ist so weit: Das Gedicht ist fertig! Ein Lied voll tiefster Wahrheit, das an zwei Tagen geschrieben werden musste, um Licht und Schatten zu vereinen.
»Ich schnitt an steinigem Geröll
mir tief die Pulsschlagadern auf,
sah sprudelnd einen roten Bach
im Staub sich suchen seinen Lauf.
Da streckte sich der Blütenkelch,
die Wurzel wand sich wie Getier.
Es wuchs im kargsten Ödenfleck
die Blume in die Höh' vor mir.
Ein Blitz!, als Blatt und Pfot' sich trafen,
ein Glüh'n von Nase bis zur Rute.
Die Wunden schlossen sich zu Narben.
Ein Pakt, für's Böse oder Gute:
Der Preis war hoch, doch auch der Lohn.
Sie lockte mich, und ich nahm an.
Sie gab mir Worte ohne Zahl,
durch mich die Stimme sie gewann.«
So und noch länger sangen wir, eine Ballade aus endlosen Schichten, unter den Polarlichtern und Sternen, im Treiben des reinsten Schnees. Und aus den finsteren Gestalten der Monster wurden Lichter. Riesige, knorrige Ungetüme verwandelten sich in schlanke Feen, die jaulenden Kojoten tollten als unschuldige Jungtiere durch den Schnee und die großen Drachen, die den Autorenwolf geschnappt hatten, brachten Marvin in Gestalt riesiger Schwäne zur Erde. Die grausamen Stimmen wurden in die Zeilen gebannt, in ein Gefängnis aus Poesie, gekettet an Worte und Bilder, denen sie nicht mehr entweichen konnten.
Wenn der Schrecken einen Namen hat, so besagt es die Macht der Worte, dann ist er gebunden. Und dann kann man ihn besiegen.